Das Recht auf Sterben in Würde

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Ipsissimus
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Fr 25. Jun 2010, 11:19 - Beitrag #1

Das Recht auf Sterben in Würde

http://www.sueddeutsche.de/leben/bundesgerichtshof-zur-sterbehilfe-bgh-staerkt-recht-auf-menschenwuerdiges-sterben-1.965304

In einem Prozess um Grundsatzfragen der Sterbehilfe hat der Bundesgerichtshof einen wegen versuchten Totschlags angeklagten Rechtsanwalt freigesprochen.

Darf man bei Wachkoma-Patienten, wenn keine Aussicht auf Besserung besteht, die medizinische Versorgung abbrechen? Der Bundesgerichtshof sagt: ja.

In dem Prozess um Grundsatzfragen der Sterbehilfe hat das Karlsruher Gericht den Rechtsanwalt Wolfgang Putz frei gesprochen. Der Münchner war vom Landgericht Fulda wegen aktiver Sterbehilfe und versuchten Totschlags zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten und einer Geldstrafe von 20.000 Euro verurteilt worden.

Putz hatte im Dezember 2007 seiner Mandantin geraten, den Ernährungsschlauch durchzuschneiden, über den ihre Mutter versorgt wurde. Die Tochter folgte dem Rat des auf Palliativmedizin spezialisierten Anwalts und durchtrennte den Schlauch der Magensonde (Az.: 2 StR 454/09). Die Heimleitung ging gegen die Maßnahme vor und bestand auf einer Fortsetzung der künstlichen Ernährung. Zwei Wochen später starb die Patientin dennoch - allerdings eines natürlichen Todes.

...

Bevor sie jedoch ins Koma fiel, hatte die Patientin ihrer Tochter gegenüber ausdrücklich den Wunsch geäußert, im Falle einer schweren Krankheit weder über Jahre hinweg künstlich ernährt noch beatmet zu werden. Sämtliche Lebenserhaltende Maßnahmen sollten beendet werden, um ihr ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Leider hatte Erika K. ihren Wunsch nie schriftlich verfügt, und das Pflegeheim lehnte es strikt ab, die Ernährung per Magensonde zu abzusetzen.

Der Anwalt hatte gegen seine Verurteilung mit der Begründung argumentiert, dass er mit dem Durchschneiden der Magensonde und dem Beenden der medizinischen Behandlung nichts anderes als den Willen der Patientin habe umsetzen wollen. Vielmehr sei es das Pflegepersonal, das sich der Körperverletzung schuldig gemacht habe, indem es Erika K. gegen ihren Willen künstlich ernährt habe.

...



aus meiner Sicht eine längst überfällige Richtungskorrektur, andererseits sehe ich im Moment nicht so recht das Grundsätzliche an der Entscheidung, da es offenbar ja "nur" um die Einkassierung eines Urteils geht.

Lykurg
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Fr 25. Jun 2010, 16:41 - Beitrag #2

Kassierung des Urteils bedeutet zumindest in diesem Fall auch eine Entscheidung in der Sache, und da ist eben doch was in Bewegung.

'Versuchter Totschlag' klang aber nach Beschreibung des Falles auch rechtlich ungeeignet, er hat ja nur einen Rat erteilt, nicht selbst gehandelt; außerdem mit Einwilligung des Opfers, also eher Körperverletzung (das Opfer ist ja nicht daran gestorben), und die ist mit Einwilligung straffrei. Oder was auch immer, gefühltes Recht ist da sowieso noch etwas anderes.

Ipsissimus
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So 27. Jun 2010, 08:49 - Beitrag #3

Der Anwalt hatte gegen seine Verurteilung mit der Begründung argumentiert, dass er mit dem Durchschneiden der Magensonde und dem Beenden der medizinischen Behandlung nichts anderes als den Willen der Patientin habe umsetzen wollen. Vielmehr sei es das Pflegepersonal, das sich der Körperverletzung schuldig gemacht habe, indem es Erika K. gegen ihren Willen künstlich ernährt habe.


das halte ich wiederum für gefährlich, weil "das Pflegepersonal" bei so etwas eigentlich überhaupt nichts zu entscheiden hat. Natürlich ist das Pflegepersonal Erfüllungsgehilfe der Ärzte und des Krankenhausbetreibers, aber es wäre aus meiner Sicht zu billig, diese Entscheidungsverantwortugn auf das letztendliche Handeln der PflegerInnen abzuschieben.

Das "riecht" ein bisschen so wie die Situation bei den Berufskraftfahrern im Güterfernverkehr. Sie dürfen nicht länger als 8 Stunden fahren, aber alle wissen, dass sie keinen Job bekommen bzw. aus ihrem vorhandenen Job fliegen, wenn sie nicht bereit sind, länger als 8 Stunden zu fahren. Bestraft werden aber nur die Fahrer, nicht etwa die Arbeitgeber, die ihnen das zumuten.

Lykurg
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So 27. Jun 2010, 10:06 - Beitrag #4

Ja, die Gegenargumentation sollte sich nicht gegen die Pfleger selbst richten, die über eine Behandlung selbstverständlich nicht entscheiden dürfen - wo kämen wir da hin? Hier greift ja noch nicht einmal das Zeitargument - wie es bei den Fahrern und natürlich auch bei den oft überlasteten Pflegern Gültigkeit hat - sondern sie tun ganz einfach genau das, was ihre Arbeit ist; wenn es eine anderslautende Patientenverfügung gibt, ist es Aufgabe der behandelnden Ärzte, damit im Sinne des Patienten umzugehen, niemals die Verantwortung der Pfleger.

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Mo 28. Jun 2010, 11:44 - Beitrag #5

wobei es rein sachlich natürlich nicht auszuschließen ist, dass gerade das Pflegepersonal, das ja viel näher am Patienten dran ist als die Ärzte, stärker geneigt wäre, dem Patientenwillen zu entsprechen

Lykurg
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Mo 28. Jun 2010, 11:57 - Beitrag #6

Ja und nein - bei einem Komapatienten dürfte die Nähe zum Patienten für die Beurteilung der Lage nicht entscheidend sein, es geht dabei ja um den Umgang mit seinen früheren Willensbekundungen, unabhängig davon, wie er jetzt aussieht oder sich verhält.

Nach anderen als den geltenden moralischen Maßstäben könnte es auch um seine Rekonvaleszenzchancen gehen; diese kann nur ein Arzt beurteilen (wenn überhaupt).

Mit einiger Wahrscheinlichkeit hat das Pflegepersonal aber mehr Kontakt zu den Angehörigen als der Arzt; wenn deren Entscheidung hierbei mit einfließt, ist die Sicht der Pfleger auf die Angehörigen eventuell nicht uninteressant; allerdings finde ich es sehr schwierig, daraus eine allgemeingültige Regelung zu formulieren.

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Mo 28. Jun 2010, 12:38 - Beitrag #7

zugegeben, es mag eine Grauzone geben, in der nicht sicher ist, ob der Patient nicht doch eines Tages zurückkehrt. Aber unzählige Patienten aufgrund der vagen philosophischen Position, dass nichts unmöglich sei, dazu zu verurteilen, jahre- oder jahrzehntelange im Wachkoma oder schlimmeren Formen des irreversiblen Ich-Verlusts zu verharren, scheint mir unlauter.

Von einer Regelung - wenn -> dann - halte ich auch nichts. Was mir vorschwebt ist die Schaffung eines Ermessensrahmens, der dann von gleichberechtigten Gesprächspartnern aus den Kreisen der Angehörigen, der Ärzte, des Pflegepersonals, einem Juristen, einem Ethiker in echten Gesprächen ausgefüllt wird. Gesprächen, nicht Verfügungen seitens der Fachleute.

Lykurg
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Mo 28. Jun 2010, 13:14 - Beitrag #8

Ja, das teile ich, und in diesem Sinne war auch die Aussage über Perspektiven gemeint: wenn keine Verfügung bekannt ist, sollten Gespräche im von dir skizzierten Personenkreis stattfinden, in denen Ärzte sich zum medizinischen Stand äußern. Sie sollten dabei nur meinungsbildend, nicht entscheidend mitwirken.
Zitat von Lykurg:wenn deren Entscheidung hierbei mit einfließt,
meinte eben einen solchen Fall. Tatsächlich finde ich dann fraglich, inwieweit die Pfleger zur Sicht der Ärzte auf den Patienten maßgebliches beitragen können, es sei denn eben aus dem täglichen Umgang mit den Angehörigen deren Sicht zu hinterfragen.

Ipsissimus
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Mo 28. Jun 2010, 13:58 - Beitrag #9

zumindest kann ich aus meiner eigenen Zeit im Krankenhaus sagen, dass die Perspektive der Pfleger und der Ärzte nicht identisch ist. Mag sein, dass die Perspektive der Ärzte eine sachliche ist, die PflegerInnen fügen eine Komponente hinzu, die sowohl der Sachlichkeit der Ärzte als auch der Emotionalität der Angehörigen gegenüber stehen kann. Und Perspektivenvielfalt scheint mir in diesem Kontext das einzige zu sein, was eine einigermaßen angemessene Grundlage für eine derartige Entscheidung schafft, sonst sind wir doch wieder nur bei einem Fachleute-Votum.

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Mi 19. Nov 2014, 15:36 - Beitrag #10

Ein mE lohnender Essay zum Thema in der Zeit: http://www.zeit.de/kultur/2014-11/sterb ... gion-essay

Neu war mir u.a. die Befürwortung der Sterbehilfe bei Thomas Morus:
Sei "die Krankheit nicht nur unheilbar, sondern dazu noch dauernd qualvoll und schmerzhaft", so Morus, "solle er nicht darauf bestehen, die unheilvolle Seuche noch länger zu nähren, und nicht zögern zu sterben, zumal das Leben doch nur eine Qual für ihn sei". Der Mensch solle sich "getrost und hoffnungsvoll aus diesem bitteren Leben wie aus einem Kerker oder aus der Folterkammer befreien oder sich willig von anderen herausreißen lassen"
- zudem zeigt er deutlich auf, welche Machtkalkulationen in die Entscheidungsprozesse auch über eine Legalisierung mit einfließen.

Maglor
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Mi 19. Nov 2014, 20:24 - Beitrag #11

Das Zitat stammt aus dem Werk "Utopia". Es handelt sich um einen teilweise satirischen Roman und nicht um ein politisches Pamphlet.
Es ist daher verfehlt den Thomas Morus als Fürsprecher der Sterbehilfe heranzuziehen.

Vor allem ist das Zitat derart gekürzt, dass der Sinn entstellt ist.

Hier ist der vollständige Satz, allerdings in anderer Übersetzung:

Zitat von Thomas Morus:Ist jedoch die Krankheit nicht bloß unheilbar, sondern quält und martert sie den Patienten auch noch dauernd, dann stellen ihm die Priester und obrigkeitlichen Personen vor, er sei allen Ansprüchen, die das Leben an ihn stelle, nicht mehr gewachsen, falle anderen nur zur Last und überlebe, sich selber zur Qual, bereits seinen eigenen Tod.


Die in der Zeit zensierten Stellen habe ich unterstrichen. Die Kürzung ist manipulativ. Die Deutung der Romanauszuges als ethische Aussage eines katholischen Heiligen ist literaturwissenschaftlich gesehen einfach nur Schrott. Der Autor ist nicht mit dem Erzähler oder den Romanfiguren identisch. Morus wurde auf nicht aufgrund seiner Verdienst für die fiktionale Literatur heilig gesprochen. Er starb als Märtyrer.

Der unheilbar kranke und unter Schmerzen leidende Utopier bekommt also von Priester und Beamten eingeredet, er solle endlich sterben, damit er nicht allen anderen zur Last falle und sich nicht selber quäle.
Machtkalkulationen und Entscheideungsprozesse in Utopia werden durch Morus klar und deutlich dargestellt.
Zitat von Thomas Morus:Sich überreden zu lassen und so zu sterben, gilt als ehrenvoll. Wer sich aber das Leben nimmt aus einem Grunde, den Priester und Senat nicht billigen, den hält man weder der Beerdigung noch der Verbrennung für würdig; zu seiner Schande läßt man ihn unbestattet und wirft ihn in irgendeinen Sumpf.

Morus erfand einen unheimlichen Machtstaat, in der der Patient am Ende doch dem Staat und dem Ehrenkodex der utopischen Gesellschaft völlig ausgeliefert war. Eine augenscheinliche Übereinstimmung der BRD gibt es insofern, als auch hier scheinbar der Senat und Priesterschaft die Entscheidung treffen, was Würde ist und was nicht. ;)
Die Gefahren einer Sterbehilfepraxis hat Thomas Morus wohl trefflich dargestellt. Das ist auch das Problem bei der Sterbehilfe. Wenn die Sterbehilfe erlaubt wäre, könnte Angehörige, Ärzte und Dritte versuchen auf den Patienten einzureden und ggf. auch Druck auf ihn ausüben. Am Ende würde man vom Patienten erwarten, dass er sich für den Tod und das angebliche Sterben in Würde entscheidet. Abweichendes Verhalten wäre unwürdig und egoistisch.

Lykurg
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Do 20. Nov 2014, 00:15 - Beitrag #12

Danke für den deutlichen Widerspruch, Maglor! Als Nichtleser von Utopia habe ich die Verwendung letztlich gutgläubig hingenommen, auch wenn ich mich nun erinnere, daß mich kurz der Anflug eines Zweifels berührte - eben weil Roman und nicht Sachtext - aber zumindest die Zitatverkürzung und -entstellung mir nicht auffallen konnten (das zu prüfen hätte ja Arbeit bedeutet^^). Lustig, daß ebenfalls heute auf Zeit.de ein Artikel über den deutschen Zweig von Russia Today erschien, der genau diese Praktiken beim politisch unliebsamen Konkurrenten verdammt... ;)


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