Skurril: "leben" im Zug

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Mi 5. Jan 2011, 23:51 - Beitrag #1

Skurril: "leben" im Zug

Den eben von mir bei der FAZ entdeckten Artikel finde ich so skuril, dass ich ihn kaum gescheit umreissen kann: letztlich Wohnsitzloser hält sich täglich in Zügen und DB Lounges auf, durch Sammeln von Pfandflaschen finanziert er sich die DB Netzkarte, Frage der Ernährung (Spenden?) bleibt etwas diffus wie auch die Frage des Nachtlagers.

Ich bin unentschlossen zwischen "das ist ja wohl der König der Flaschensammler" und "in was für Alltage Menschen geraten können".

So reizvoll das viele Reisen im Zug sein mag, ob das die Erfüllung sein kann? Zumindest kann in dem Fall wohl Flaschensammlung echt als Lebensunterhalt und "Arbeit" gesehen werden; Alkohol scheint keine Rolle zu spielen.

Meinungen Eindrücke dazu?

Oder eigene Erfahrungen, natürlich gern auch der sanfteren Art mit - ich sag mal - gesellschaftlich eher nicht hoch angesehenen Formen des Gelderwerbs bzw Lebensunterhalt auf Wegen, die andere nicht oder nur beschränkt nutzen?

Lykurg
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Do 6. Jan 2011, 01:24 - Beitrag #2

Wirklich grotesk. Ich hatte über Flaschensammler schon vor Ewigkeiten einen Thread eröffnen wollen, weil mir schon seit ein paar Jahren öfters dieselben auffallen, und wirklich eigenartige Typen dazwischen sind (auch einige, die in Mülleimern wühlen, denen man es niemals zutrauen würde). Der Artikel ist wirklich anders und erfüllt mich auf eine eigenartige Weise mit Bewunderung.

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Do 6. Jan 2011, 01:51 - Beitrag #3

Zum Zutrauen: es scheint sozusagen irgendwie auch in diesem "Beruf" Leute (Arbeitnehmer/-geber/Freiberufler :crazy: ) zu geben, deren ihr Erscheinungsbild nicht vollkommen egal zu sein scheint und die andere mit ihrer Berifsausübung nicht mehr als unbedingt nötig belästigen oder gar erfreuen wollen (zumindest der aus Pfandflaschen bestehende Müll verschwindet).

Traitor
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Do 6. Jan 2011, 22:59 - Beitrag #4

Der Artikelschreiber scheint sich ja selbst nicht sehr sicher zu sein, wie er diese Figur beurteilen oder auch nur verstehen soll. Anscheinend jemand mit den typischen psychischen Problemen vieler Obdachloser, der sich aber doch irgendwie etwas besser in einer besonderen Nische zurechtgefunden hat, und also vielleicht ein Gegenbeispiel zu meiner Haltung, dass man solchen Leuten besser auch mit Zwang zu einem normalen Leben zurückverhelfen sollte. Wie gut es ihm psychisch und körperlich in dieser Existenz geht und ob er sich nicht doch freuen würde, herauszukommen, da bewirken seine Äußerungen jedoch schon einige Zweifel.

Ernährung und Nachtlager werden doch recht explizit diskutiert, mit dem Fazit, dass er noch mindestens 3 externe Vertraute bzw. Gönner hat, also nicht rein in und von der Bahn lebt.

Sehr geraderückend für eventuelle romantische Vorstellungen ist meines Erachtens die Erkenntnis, dass er andauernd Routinestrecken fährt - völlige Freiheit mit Erlebnissen und Erfahrungen quer durchs Land scheint es nicht gerade zu sein.

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Fr 7. Jan 2011, 01:42 - Beitrag #5

Yoah, wobei wenn es nicht gerade täglich ist, kann oft ein und dieselbe lange Strecke doch immer wieder etwas anderes zeigen und bieten - und das nicht nur bei Bahnbaustellen, so zumindest meine Erfahrungen.

Gerät eigentlich jemand ier so ein bisschen in Versuchung, wenn man sieht/ahnt, wie doch relativ viel Geld sich zB eben mit Flaschen sammeln machen lässt?

blobbfish
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Fr 21. Jan 2011, 12:31 - Beitrag #6

Für die romantische Vorstellung gibt es diese Studentin, ebenfalls etwas seltsam, aber wirkt für mich weit ökonomischer und wesentlich weniger nachhaltig als der Herr aus der FAZ.

Was das Bahnfahren betrifft, soweit kann das schon auch mit gleicher Strecke immer wieder sehr schön sein, aber das kommt natürlich auf die Strecke an. Meine übliche Strecke sehe ich mir auch immer wieder sehr gerne, ich sitze soweit möglich auch immer so, dass ich die Eder betrachten kann, mit dem Effekt, dass mir die andere Seite der Bahnstrecke recht unbekannt ist. Veränderungen sind dann auch garnicht nötig und ohnehin gibt es sie kaum.

Traitor
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Fr 21. Jan 2011, 23:01 - Beitrag #7

Die Dame scheint ja grundsätzlich nicht im Zug zu schlafen, was die Sache noch viel stärker abschwächt. Und im Rahmen eines zeitlich festgelegten Projektes ist es natürlich auch etwas anderes. Dafür scheint sie sehr viel mehr vom Land zu sehen.

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Sa 22. Jan 2011, 00:36 - Beitrag #8

Bei ihr ist es wohl mehr ein begrenztes geplantes Projekt, bei dem Herrn aus der FAZ hat es sich als derzeit wohl nicht trivial veränderbare alltägliche Lebenssituation herausgebildet.

Zum Gelderwerb beim skuril leben: nach eigener Erfahrung sorgt man für reundlich fröhlich erheiterte, entgeisterte Ungläubigkeit wenn man regelmäßig alle paar Tage in seinem Kaufland an der Info mal wieder mit einem abgelaufenen Artikel aufläuft, um den 2,50 Euro-.Einkaufsgutschein zu erhalten...

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Sa 9. Jul 2011, 22:44 - Beitrag #9

Im Express ist zu lesen, wie ein Dosensammler binnen 30 Tagen 13.000 Euro an Pfand einsammelte - ua. in dem er sich für 100.- eine Karte zu Rock am Ring kaufte und dort dann 1.500.- in Pfandflaschen zusammensammelte.
Wird der Erwerb von Investitionsgüter durch das einsammeln der bepfandeten Konsumgüter nun zum Trend? :confused: :crazy:

Padreic
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Mo 11. Jul 2011, 16:48 - Beitrag #10

Die Frage bleibt: wie kann man 1500 Euro in Pfandflaschen transportieren?

Lykurg
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Mo 11. Jul 2011, 22:50 - Beitrag #11

Wenn auf einmal, dann sicher nur in Scheinen. ;) - Ich vermute, auf dem Gelände gibt es diverse Rückgabeautomaten, die Leute sind bloß zu faul bzw. betrunken, um sie zu benutzen.

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Sa 15. Dez 2012, 03:30 - Beitrag #12

Es gibt neues von Eduard Lüning, dem "Pfofi-Pfandsammler". Wie vermutlich nur kurz beim WDR zu sehen und offenbar (noch?) nicht woanders zu lesen ist, hat er vom gebrauchten Wohnmobil für rund 7.000 Euro nun zu einem fabrikneuen für rund 50.000 Euso, wieder aus Flaschenpfand erwirtschaftet, gewechselt.
Merke: Flaschensammeln als Einkommen geht im Zug und auf Festivals. Verrückte Welt.
Ob es das ist, was Jürgen Trittin & Co damals wollten...

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So 13. Jan 2013, 16:53 - Beitrag #13

Die Süddeutsche weiss neues von Herrn Lüning: seine Pfandeinnahmen sind so hoch, dass darauf Steuern fällig wurden bzw. das Finanzamt es so sah. Ob de facto welche gezahlt wurden/gezahlt werden bleibt etwas nebulös, da von einem mit Stuerberaterin wohl erfolgreich widersprochenen Steuerbescheid die Rede ist.

Sicher scheint nur, dass Lüning nicht allein vom Pfand lebt:
Lüning hat eine Rente. Daneben bekommt er noch Geld von seiner Lebensversicherung. Zusammen macht das 900 Euro pro Monat.


Zudem wird erwähnt, wo Pfandsammler inzwischen ihr "Geschäftsmodell" nicht/nicht mehr so gut umsetzen können:
Auf Festivals haben die Dosen schon organisierte Banden angelockt, die auch Handys und Portemonnaies aus den Zelten klauen. Deshalb ist Pfandsammeln bei einigen Festivals wie Area4 und Summerjam inzwischen verboten.

[...]

Auch in manchen Zügen und Bahnhöfen schickt das Bahnpersonal inzwischen rigoros Flaschensammler weg. Zu viele haben auf den Bahnsteigen Bier ausgeleert und Müll in die Abteile geschmissen. Lüning gibt sich trotzdem unbekümmert: "Wenn sie die Sammelei ganz verbieten, wird mir schon irgendwas anderes einfallen."

Katinka3
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So 13. Jan 2013, 21:07 - Beitrag #14

Die Mengen sind ja wahnsinn, die man für so viel Geld brauch. Das geht nur mit vielen Sammelstellen, auf dem Gelende. Habe noch nie Frauen gesehen, die Pfandflaschen sammeln. Genauso wie es selten Frauen gibt die hinter dem Müllauto herrenne, um die Mülltonnen zu leeren.

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So 13. Jan 2013, 21:10 - Beitrag #15

Dann warst Du wohl noch nicht in Köln... Hier würde ich nach eigenen Beobachtungen schätzen, es sind 2/3 Männer und 1/3 Frauen die in bemerkenswerteren Umfang (im dunkeln mit Lampen in Mülleimer leuchten, klappernde Hackenporsche oder Einkaufswagen zum Transport dabei) Leergut sammeln.

Eine weibliche Müllfrau am Müllwagen wäre mir auch neu, öfters zu sehen sind die aber an den Wertstoffhöfen als Personal (also da wo Sperr- und Sondermüll selbst angeliefert werden kann).

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Do 7. Feb 2013, 21:10 - Beitrag #16

Das Phänomen Flaschensammler wird inzwischen auch durch ein Promotionsprojekt geadelt, siehe Seite des Instituts für Soziologie der Uni Freiburg
Die Rückkehr der Sammler: Konturen einer neuen Sozialfigur in deutschen Städten

[...]

Diese Menschen sehen auf den ersten Blick nicht wie Obdachlose aus, obgleich ihre Tätigkeit sie in Verbindung mit dieser stigmatisierten Gruppe bringt.

[...]

Zugleich werden sie als vermeintlich Ob-dachlose stigmatisiert und/oder kriminalisiert, weil ihr „Wühlen im Müll“ zivilisatorischen Rein-lichkeitsstandards widerspricht. Zudem scheint sich in den Medien ein Trend abzuzeichnen, in dem Pfandsammeln synonym für „arm sein“ und als ein stellvertretendes Symbol für die sich öffnende „soziale Schere“ Verwendung findet. Neben einem Beitrag zur Soziologie prekärer Lebens- und Arbeits*verhältinisse leistet die Beschäftigung mit den Pfandsammlern einen Beitrag zur Soziologie des Sammlers, die sich bis zum jetzigen Zeitpunkt stark auf das Sammeln als Liebhaberei fokussiert und – abgesehen von ethnologischen Studien über segmentäre Gesellschaften – das Sammeln als eine Form der Subsistenzsicherung weitestgehend ausgespart hat.

Im Vordergrund steht die Frage: Welche gesellschaftlichen und/oder individuellen Krisen sind es, für die das Pfandsammeln als eine angemessene Lösung gedeutet wird?; d.h. welche gesellschaftlichen und individuellen Dispositionen begünstigen die Entstehung einer solchen informellen Tätigkeit.


Der Promovierende hatte, wie einer Freiburger Nachrichtenseite zu entnehmen, so leicht gar nicht:
Als Sebastian J. Moser, 31, seinen Betreuern an der Uni Bielefeld vorschlug, über Flaschensammler zu promovieren, stieß er nicht auf Begeisterung. Dann las er einen Aufsatz des Freiburger Soziologen Ulrich Bröckling zum Thema, kontaktierte ihn und schreibt nun in Freiburg seine Doktorarbeit.

Dort wird der Promovierende auch interviewt und sagt ua.
Flaschensammler – sind das nicht vor allem Arbeitslose, Obdachlose und Rentner?

Das kann man so nicht sagen. Entscheidender als die gesellschaftliche Gruppe scheinen die Lebensumstände zu sein. Wie gesagt: Ich glaube, dass Flaschensammeln eher etwas mit sozialer Vereinsamung zu tun hat.
Haben Flaschensammler immer dieselbe Route?

Ich habe zwei Gruppen von Flaschensammlern ausmachen können: Routensammler, also die, die einer festgelegten Route folgen. Und die eben genannten Veranstaltungssammler, also die, die zu Großveranstaltungen gehen und dort sammeln. Allerdings können die beiden Gruppen sich auch überschneiden.
Wie sind Sie bei Ihren Forschungen vorgegangen?

Zuerst habe ich sehr viel beobachtet, dann habe ich selbst Pfandflaschen gesammelt. Wenn man einmal in die Mülltonne gegriffen und sich dabei umgeschaut hat, versteht man vielleicht besser, was in einem Flaschensammler vorgeht. „Teilnehmend beobachten“ nennt man das in der Soziologie. Dann habe ich in mehreren deutschen Städten Gespräche mit Pfandsammlern geführt – vor allem in Bielefeld, Berlin und Stuttgart – und diese Gespräche vermittels der Sequenzanalyse untersucht.
Was sagt das Phänomen der Flaschensammler über unsere Gesellschaft aus?

Dass diese Leute Tätigkeiten brauchen, die sie an Arbeit erinnern. Und dass sie nicht Flaschen sammeln gehen, um Geld zu verdienen, sondern um ihren Alltag zu strukturieren und sich in ihrer freien Zeit zu beschäftigen. Flaschensammler sind einer Arbeitsideologie verhaftet, die der Soziologe Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts als protestantische Arbeitsethik genannt hat. Sie wollen arbeiten um jeden Preis. So wie jener bekannte Arbeitslose aus der Weimarer Republik, der ein Schild trägt auf dem steht: Nehme jede Arbeit gleich welcher Art sofort an.

Der Gesellschaft gehen einfache Erwerbstätigkeiten aber immer mehr aus. Und sie schafft es nicht, diesen Menschen ein gutes Gewissen einzureden, wenn sie nicht arbeiten. Daher sind immer mehr Menschen dazu bereit, sich egal wie weit zu erniedrigen, nur um einer Tätigkeit nachzugehen, die irgendwie an Arbeit erinnert. Das finde ich beängstigend, denn diese Situation hatten wir in Deutschland schon einmal.


Einen weiteren IMHO interessanten Aspekt findet man in einem Bericht der Welt
Eine weitere Erklärungsmöglichkeit liege in der Sammlernatur des Menschen. "Das ist eine Tätigkeit, die selbstverstärkend ist und fast Abhängigkeitscharakter haben kann", erklärte Moser. "Man denke nur mal an die Briefmarken- oder Kunstsammler, die einen regelrechten Jagdtrieb entwickeln, der letztlich dazu führt, dass diese Menschen immer weiter sammeln."

Das sei beim Flaschensammeln "vermutlich ein bisschen ähnlich".
Zwar nicht mit Sammeln von Pfnadflaschen, was ich nie betrieb, aber von der Suche nach abgelaufenen Artikeln im Einzelhandel dort, wo es Einkaufsgutscheine dafür gibt, kenne ich das wohl auch ein bißchen... Also diese jägerartige Lust an der Suche, jedoch ohne Abhängigkeitscharakter.

Maglor
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Do 7. Feb 2013, 21:25 - Beitrag #17

Wirklich sehr soziologisch und voller Widersprüche.
Flaschensammlern geht es eigentlich nicht ums Geld, das bilden sie sich nur ein. ;)

Ich kenne auch Flaschensammler, die keine Sozialfälle sind. Für die spielt Geld eigentlich auch keine große Rolle, sie sind nur geizig, ordnungsverliebt und ziemlich schmerzfrei mit Tendenz zur Zwangsneurose. :crazy:


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