Madonnen/Huren-Komplex

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Traitor
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Fr 31. Aug 2012, 11:39 - Beitrag #1

Abgetrennt aus dem Hermann-Hesse-Thread

Zitat von Ipsissimus:der Madonnen/Huren-Komplex, die erotische Sehnsucht vieler Männer nach Frauen, die rein und unbefleckt (welche Vorstellung sich hinter diesen Begrifflichkeiten im Detail auch immer verbergen mag) sein mögen wie die Mutter Gottes, aber über das erotische Können einer Edelprostituierten verfügen, ohne allerdings dem Mann zu vermitteln, wie langweilig er im Bett wirklich ist, ist bei weitem nicht auf Hesse begrenzt und geht auch nicht auf diesen zurück - ganze Kulturen können als Ausprägung dieser psychischen Fehlleistung aufgefasst werden, nicht nur der italienische Mama-Kult.



Zitat von Ipsissimus:ganze Kulturen können als Ausprägung dieser psychischen Fehlleistung aufgefasst werden
Können sie? Dass das Schema ein in Literatur wie Realität sehr wirkmächtiges ist, ist klar. Aber diese monothematische Kulturinterpretation klingt doch sehr mutig. Hast du Beispiele mit Begründung und Ausschluss der Alternativen?

Ipsissimus
Dämmerung
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Fr 31. Aug 2012, 11:44 - Beitrag #2

die Formulierung "können aufgefasst werden" deutet in meinem Sprachgebrauch darauf hin, dass sie auch anders aufgefasst werden können, ist also nicht logisch excludierend gemeint^^ mensch füge vielleicht einfach an geeigneter Stelle ein "unter einer bestimmten Perspektive betrachtet" hinzu. Ich fand das allerdings so selbstverständlich, dass ich glaubte, den verkürzten Sprachgebrauch vertreten zu können^^

konkreter, ich halte die meisten Kulturen, in denen Wert auf die Jungfräulichkeit einer Frau zum Zeitpunkt der Eheschließung gelegt wird, um sie anschließend im Haus zu "bewahren", für verdächtig, diesem Komplex zu frönen

Traitor
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Fr 31. Aug 2012, 11:50 - Beitrag #3

Vermutlich sind wir uns eh einig, dass es in der Soziologie gar keine alles andere logisch exkludierenden Interpretationen geben kann. ;) Von einer im weichen Sinne gültigen Interpretation, auch nur aus einer bestimmten Perspektive, verlange ich aber schon, dass sie sowohl in sich schlüssig ist ("Begründung") als auch aus ihrer Perspektive begründet versucht, die Alternativen als weniger stichhaltig dastehen zu lassen (nur das sollte das eindeutig zu hart formulierte "Ausschluss der Alternativen" in diesem Kontext heißen).
So eine Ausführung würde aber eh über Hesse hinausführen. Ich bleibe aber dabei, die Behauptung auch nur der schlüssigen Möglichkeit sehr mutig zu finden und ihr ersteinmal nicht zu glauben. ;)

PS zum PS (oder habe ich es beim ersten Lesen nur übersehen?):
konkreter, ich halte die meisten Kulturen, in denen Wert auf die Jungfräulichkeit einer Frau zum Zeitpunkt der Eheschließung gelegt wird, um sie anschließend im Haus zu "bewahren", für verdächtig, diesem Komplex zu frönen
Ja, der Komplex ist in vielen Kulturen präsent. Aber inwiefern ist dadurch die gesamte Kultur nur noch eine Ausprägung dieses Komplexes?

e-noon
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Fr 31. Aug 2012, 12:04 - Beitrag #4

sehr schöne Darlegung, e-noon^^

Danke ^^

Bezüglich des Madonnen/Hurenkomplexes bzw. dessen Formulierung:
Alles kann, nichts muss, das ist schon klar, aber allgemein verwendet man den Ausdruck schon für eine These, der man auch zustimmt ;) Wenn ich schreibe "das Leuchten am gestrigen Nachthimmel kann als klares Zeichen für eine UFO-Sichtung gedeutet werden", so impliziere ich wohl kaum "wenn man ein leichtgläubiger Depp ist", sondern in der Regel würde so etwas jemand sagen, der selbst an Ufos glaubt. Insofern wäre interessant, ob du rein kommentierend feststellst, dass es Menschen gibt, die eine Kultur rein unter dem genannten Aspekt zusammenfassen, oder ob du selber es für eine bestimmte Kultur zu einer bestimmten Zeit terminologisch sinnvoll findest, sie primär unter diese Dichotomie zu fassen.

Dann von mir ebenso noch ein PS zum PS:
konkreter, ich halte die meisten Kulturen, in denen Wert auf die Jungfräulichkeit einer Frau zum Zeitpunkt der Eheschließung gelegt wird, um sie anschließend im Haus zu "bewahren", für verdächtig, diesem Komplex zu frönen

Das wären ja die meisten Kulturen vor der Erfindung der Pille und in Gebieten, in denen sich diese noch nicht durchgesetzt hat. Ich denke aber, man kann durchaus in den Diskursen der Zeit Unterschiede feststellen. Das Viktorianische Zeitalter mit seiner "Angel in the House"-Ideologie beispielsweise hat ganz stark die Engelhaftigkeit der (Jung)Frau und ihre gesellschaftserhaltende Funktion als mütterlicher Hausvorstand hervorgehoben, während das Gegenstück, Prostitution und männliches "Austoben" vor der Ehe zwar ein gesellschaftliches Problem war, jedoch kaum offen thematisiert wurde, und wenn, dann so gut wie niemals in Form einer halb faszinierten, halb erschreckten Anziehung, sondern entweder verteufelnd, indem die Frau als wahnsinnig und böse hingestellt wurde, oder didaktisierend, indem sich ein in Not geratenes Bürgerstöchterchen zwar (für ihre Familie aufopfernd) prostituiert, durch ihre hehren Motive und hohe Moral jedoch ihre engelsgleiche Reinheit bewahrt und aus der Gruppe der "fallen angels" gerettet werden kann. Sex in der Ehe ist dann aber gut und billig und eher nicht mit Komplexen belegt, jedenfalls nicht aus Sicht des Mannes. Irgendwie habe ich den Faden verloren. Vielleicht sollten wir eine Definition des Komplexes mit Beispielen in einem anderen Thread diskutieren?

Ipsissimus
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Mo 3. Sep 2012, 12:55 - Beitrag #5

Ja, der Komplex ist in vielen Kulturen präsent. Aber inwiefern ist dadurch die gesamte Kultur nur noch eine Ausprägung dieses Komplexes?
hmm, möglicherweise legt hier der Physiker doch eine andere Form von Sprachstrenge an den Tag^^ wenn eine Kultur als Ausprägung einer bestimmten Eigenart aufgefasst werden kann, heißt das nicht, dass sie nicht auch als Ausprägung anderer Eigenarten verstanden werden kann, die Aussage ist also nicht monokausalierend gemeint^^ das "nur noch" in obigem Zitat ist jedenfalls eine Hinzufügung zu meiner ursprünglichen Aussage^^

thematisch: halte ich den Madonnen/Huren-Komplex für eine Auswirkung einander widerstrebender gesellschaftlicher Rollenerwartungen, die sich in den Psychen von Männern breit macht, wenn sie nicht in der Lage sind, Überlappungen von Bedürfnissen zu integrieren. Dann wird in der Partnerin instinktiv noch die Mutter gesucht und gefunden, zum Schaden der Partnerin und der Beziehung. Da den Männern niemand hilft, diese Integrationsarbeit rechtzeitig zu leisten, bleibt es beim Komplex. Wenn sie Glück haben, hilft ihnen ihre Partnerin, wofern selbige Lust auf eine therapeutische Beziehung hat.

Maglor
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Mi 28. Nov 2012, 22:48 - Beitrag #6

Zurück zur Hesse' schen Problemstellung möchte ich anmerken, dass es in den Erzählung gerade zwischen den Huren und der Hauptperson eine besondere Seelenverwandtschaft mit der männlicher Hauptfigur gibt.
Gerade die angeblich besonders indische Dichtung beschreibt eine tiefe platonische Beziehung (hier ganz im Sinne Platons) zwischen Siddharta und der "Kurtisane" Kamala, die alle Züge einer antiken Hetäre trägt.

"Männliches Austoben" und "weibliche Schande" wurden kulturell noch und nöcher themasiert, bilden gar das Rückrat der Kunst, das Herz des bürgerlichen Trauerspiels bis hin zu Volksliedern und Schlagern. Es ging um nichts andere bis in die 80er.
Hör dir mal den Schlager "Pass gut auf dich auf mein Kind" von Peter Alexander an, da geht es um den ganzen Wert einer Tochter, ohne auch nur ein klares Wort zu benutzen, wird beschrieben, wie aus dem "Engel" eine "Frau" wird. Tja, so drückte man es 1976 in der Taliban-Moral des deutschen Schlagers aus, ganz ohne die bösen Worte mit F, H oder S. :rolleyes:

e-noon
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Do 29. Nov 2012, 02:03 - Beitrag #7

Naja, nach der Beschreibung hatte ich jetzt einen schlimmeren Text erwartet. Da finde ich den Begriff der väterlichen Eifersucht viel irritierender als die väterliche Sorge - der Vater vergleicht ja sogar die Erfahrung der Tochter mit der der Mutter, an der er ja wohl nicht unbeteiligt war. "Mein Engel" ist eben hier noch "unschuldig, kindlich, Papakind", die "Frau" ist hier nicht negativ belegt, würde ich mal sagen, keineswegs ein gefallener Engel.

Sag
hab' ich dich heute nacht verloren
ist die Kinderzeit vorbei?
Wenn deine Welt nun neu beginnt
paß' gut auf dich auf
mein Kind.


Schon wehmütige Trauer, aber auch Akzeptanz eines neuen Lebensabschnitts und Fürsorge auch in diesem. Finde ich gar nicht mal so viel schlechter als heutiges "Solange du verhütest und ich nichts mitbekomme, ist mir alles egal". Immerhin spricht hier ein sehr feinfühliger Vater, der die Lüge bemerkt hat und die Freiheit seiner Tochter nicht infrage stellt, sondern ihr nur einen Brief schreibt, in dem er um ein Gespräch bittet. Wenn ich noch weiter schreibe, werde ich mich wohl zum Peter Alexander - Apologeten aufschwingen müssen, also lasse ich das besser :D

Maglor
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Di 24. Sep 2013, 22:05 - Beitrag #8

Durch einen anderen Thread erinnerte ich mich an das Hessische Matriarchat. Kurz angerissen wird in dem Lebenslauf des Regenmachers im Glasperlenspiel. Dort heißt zu Anfang schlicht: "Es war vor manchen tausend Jahren, und die Frauen waren an der Herrschaft:"
Anschließend wird die herrschende Ahnmutter beschrieben.
Im Grunde ist es eine Geschichte voller weiblicher Klischees: Mütter, Mädchen Hexen.
[spoiler]Am Ende ist es auch die Ahnmutter, die den Schüler auffordert den Meister zu opfern.[/spoiler]
Das muss die große Mutter, die Frau Eva, die Magna Mater, jene Kybele, der der verwunschene Attis sein bestes gab.
Auch den Goldmund lockt die große Mutter in den Tod, während dem armen Giebenrath in "Unterm Rad" noch der Herr Jesus zuwinkt.

Ipsissimus
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Do 26. Sep 2013, 11:44 - Beitrag #9

Goldmund ist schon ewig her bei mir, so dass ich das Ende nicht mehr exakt parat habe. Aber war es da nicht so, dass es eher das Scheitern des zweiten Versuchs war, eine Nacht mit der Fürstin zu verbringen, ein Scheitern nicht aufgrund mangelnden Geschicks, sondern altersbedingt mangelnder Attraktivität Goldmunds, wodurch der zweite Versuch unmittelbar als reine Wiederholung des ersten entlarvt ist, ohne dass damit ein wie auch immer gearteter Erkenntnisgewinn verbunden ist. Goldmund hat im Grunde damit gegen seine eigene Lebensmaxime verstoßen ("Vögeln als Weg zur Erkenntnis"), und kassiert prompt die Klatsche, die ihm den Lebensmut nimmt. Damals starben die Leute halt noch an metaphysischem Entsetzen^^

Maglor
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Do 26. Sep 2013, 18:43 - Beitrag #10

Das hast du schon richtig zusammengefasst. Seine letzten Worte sind jedoch:
"Aber wie willst denn du einmal sterben, Narziß, wenn du doch keine Mutter hast? Ohne Mutter kann man nicht lieben. Ohne Mutter kann man nicht sterben."

Die Frage ist dann natürlich, ob er die Madonna oder die Hure meint.


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