Wörter der Jahre

[009]

Gerade habe ich ergebnislos im Archiv nach Threads zu den Worten (oder auch Unworten) der Jahre gesucht. Gerade in der Matrix hätte ich dazu eine diskursiv erörternde Begleitung erwartet. Deswegen nun dieser Thread.

Ich beginne mit dem Jugendwort 2012, das von einer Jury des Langenscheidt-Verlages unter 40.000 Publikumsvorschlägen gewählt wurde:

YOLO (Abkürzung von "you only live once"; Aufforderung eine Chance zu nutzen)

Die Plätze 2-5 (laut dieser Seite )
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FU! (Abkürzung für Fuck You!; Bedeutungen 1. Scheiße, 2. Fick dich!

Yalla (aus dem arabischen "Beeil dich!)

Wulffen (1. jemandem die Mailbox vollquatschen; 2. lügen; 3. auf Kosten anderer leben, etwas umsonst bekommen)

Komasutra (versuchter Geschlechtsverkehr zwischen zwei sehr betrunkenen Personen)

Und nun die Frage in die Runde: was sagt ihr zu diesem Ergebnis?

[Lykurg]

@noch kein Thread: Ich nehme die vergebende "Gesellschaft für deutsche Sprache" nicht sonderlich ernst und habe mich des öfteren an der klaren politischen Ausrichtung von (Un-)Wort-Entscheidungen gestört, dementsprechend sah ich bisher wenig Anreiz dazu, dies zu tun. Entscheidungen für völlig ungebräuchliche Wörter wie "Rettungsroutine" 2012 bestätigen meine Vorbehalte.

@Jugendsprache: Nunja. Danke immerhin für die Erklärung von "Yolo" - als mir das vor einem halben Jahr mal begegnete, fand ich noch keine sinnvolle Bedeutung, witzigerweise fehlte der Begriff auch im von mir gern genutzten "urban dictionary".

Für "Yallah" gegenüber arabischen Kunden ist vor einiger Zeit irgendwo in D jemand entlassen worden, las ich. In der Begründung hieß es, das benutze man im Arabischen nur für Vieh. Scheint zumindest in der deutschen Jugendsprache anders zu sein.

1 und 3 sind klar, FU! aber wenig spezifisch/neu, finde ich, auch als Abkürzung; 4 ist ein schöner Begriff.^^

[Traitor]

Hm, ich bin mir fast sicher, schonmal einen kritischen Beitrag zum Jugendwort verfasst zu haben, aber wo...?

Für die Plätze 1-3 (009, du bist da um 1 verrutscht) scheinen sie diesmal ja immerhin tatsächlich halbwegs verbreitete Ausrufe erwischt zu haben. 4 und 5, so wie viele Sieger und Platzierte der Vorjahre, sind aber offensichtlich Scherzbegriffe, die keine ernsthafte Verbreitung als Sprachelement haben, sondern ihren Erfolg primär der Kombination aus öffentlicher Nominierungsphase und Endauswahl durch streberische Feuilletonisten verdienen.

Bei yolo haben sie sich übrigens vertan, das steht bekanntermaßen für you obviously like owls.

Die politische Schlagseite von Wort und vor allem Unwort halte ich auch für "Thema verfehlt".

[Ipsissimus]

"FU!" ist aber ein alltime Klassiker, geht diese ominöse Gesellschaft jetzt schon dazu über, altehrwürdige Vulgärsprachtraditionen zu adeln, nur weil sie das Akronym nicht kannten?

"Rettungsroutine" ist ein seit der Schuldenkrise inflationär auftretender Begriff, man kann sich sicher streiten, ob es die Auszeichnung verdient hat, aber warum nicht. Es geht ja nicht um Erkenntnis, sondern um Medienpräsenz und damit Rechtfertigung der eigenen Existenz.


interessanter fände ich übrigens eine Auszeichnung für praktisch ausgestorbene Worte. Gibt es dazu schon einen Thread?

[Traitor]

"FU!" dürfte "alltime" höchstens im englischen Sprachraum und im Internet sein, wenn es inzwischen tatsächlich in der allgemeinen Jugendkultur verbreitet sein sollte, dann wäre das tatsächlich eine eher neue Entwicklung.

Das Phänomen "Rettungsroutine" ist allgegenwärtig und bezeichnenswert, aber dass die Bezeichnung bis zur Preisverleihung etabliert war, bezweifle ich stark:
Google Books Ngrams und Google Trends erfassen noch keinen hinreichend statistierbaren Bestand an "Rettungsroutine", in Google News findet sich aber vor Dezember genau 1 (ein) Ergebnis, "Er beklagt eine "Art Rettungsroutine".", und bei Standard-Google mit Einschränkung auf bis 30.11. gibt es fast nur fehldatierte spätere Ergebnisse zum Wort des Jahres. Genauere Recherche steht noch aus, es sieht mir aber doch sehr nach Eigenprägung der Jury aus, gestützt auf höchstens sporadische Verwendungen.

Es gibt zwar wohl keine jährliche Auszeichnung, aber eine "Liste der bedrohten Worte".

[Traitor]

Wikipedia fasst einige ähnliche Archivrecherchen mit weitgehend negativem Ausgang zusammen, schön vor allem der Spiegel-Fund zur Seenotrettung.

Und zu den bedrohten Wörtern: wohl keine Liste von der Sprachgesellschaft, aber ein "Lexikon der bedrohten Wörter", dem es dann natürlich medieninhärent an Aktualisierungen mangelt. Im Zusammenhang damit gab es wohl auch 2007 eine einmalige Auszeichnung "Schönstes bedrohtes Wort", mit einer passenderweise auch ziemlich bedroht aussehenden Netzseite, die zu verstetigen sich aber scheinbar niemand bemüßigt sah.

[009]

Verrutscht bei der Nummerierung ist die Forensoftware, hatte versucht die so zu beeinflussen, dass sie bei 2. die Liste beginnt.
Zu Yolo muß ich dann natürlich sofort an owling denken (macht das oder planking hier irgendwer? Wohl eher nicht denke ich).

Was das wahre Wort des Jahres, und vor allem wie es zu küren wäre, ist wohl eine gute Frage.

Bei den Jugendwörtern irritierte auch mich die teilweise der nicht wirklich erst 2012 entstandenen oder/und nicht so dominant empfundene Gebrauch. Und unsicher bin ich dabei, wie ich den Anteil der Anglizismen werten soll.

[Maglor]

Die Wörter haben mich nie besonders beeindruckt. Oft waren es nur einmalig simple Komposita mit um die Ecke gedachter Bedeutung.

Interessanter fand ich immer die Unworte. Die Wahl wurde zwar in quasi allen Fällen politisch begründet, aber die meisten Unwörter sind so ausgekennzeicht, dass sich mittlerweile fest zum Wortschatz gehören.

Das einzig gute an der Sache ist, dass ausnahmsweise mal nicht um Sprachpurismus geht.

[009]

Ich mag nun mal auf die diesjährige Liste von der GfdS eingehen:

Die zweitplazierte Kanzlerpräsidentin ist mir bewusst erinnerlich zumindest nicht untergekommen und das, obwohl ich mich schon für einen politisch interessierten handele und auch die Nachrichten (teils auch in ÖR-Medien^^) durchaus aufmerksam verfolge.

Bildungsabwendungsprämie auf Platz 3 liest soch genauso unbekannt und ausgedacht.

Die viertplatzierten Schlecker-Frauen hingegen hätte ich als nachvollziehbare Wahl gesehen. Der vierte Platz ist aber auch sehr treffend und nett, denn bekanntlich eröffnete Schlecker seine Läden bereits in Ansiedlungen ab 4 Personen: die erste bildete die einzige im Laden arbeitende Person, Person Nr. 2 fungierte als Kundschaft, in deren Beisein Person 3 einen Raubüberfall versuchte, was am dank der Übersichtlichkeit der Dorfstruktur dies direkt bemerkender Person 4, die bei der Polizei beschäftigt ist, scheitert.

Mit dem fünftplatzierten wulffen ist das erste Wort dabei, dass es auf n>1 Ranglisten schaffte.

Für die Plätze 6-10 fehlt gerade der Antrieb zu weiteren Kommentierungen. Sie folgen - bald, später oder ggf, gar nicht...

[Maglor]

"Schlecker-Frauen" ist doch eigentlich ein Unwort.
Frau ist keine Berufsbezeichnung, auch nicht auf 400-Euro-Basis.
Die Wortbildung ist natürlich analog zu überkommenen Worten wie Putzfrau, Krankenschwester oder Dienstmädchen.
(Interessant sind natürlich auch männliche Gegenstücke wie Müllmann, Milchmann oder Strichjunge.)

[009]

Für mich schwingt da gerade die Kombination aus Konzernname und den typischerweise, zudem eher prekär, dort beschäftigten mit. Ein Ausdruck, der kritisierend beschreibt, was dort geschieht (bzw. nun geschah) und von vielen wohl in Unerkenntnis dieses eigentlich negativen Gehaltes benutzt.

[Traitor]

"Kanzlerpräsidentin" war mir ebenso unbekannt wie "Rettungsroutine", scheint aber zumindest marginal weiter verbreitet gewesen zu sein - bei Google News vor Dezember immerhin 4 Treffer, Tagesspiegel vom 16.01., taz vom 17.02., Zeit vom 18.02. und Berliner Umschau vom 19.03. Somit aber wohl auch nur ein sprachlicher Gag von begrenzter Halbwertszeit und auch kein tatsächlich geläufiges Wort.

Ebenso "Bildungsabwendungsprämie", zu dem ich gar keinen prä-GfdS-Beleg finde, im Gegensatz zum tatsächlich verbreiteten und beliebten Synonym "Herdprämie".

"Schlecker-Frauen" ist der erste tatsächlich verbreitete Begriff auf der Liste, ich sehe ihn aber wie Maglor eher als Unwort, zum einen weil er die durchaus vorhandenen Schlecker-Männer wegdiskriminiert, zum anderen während des sehr herablassenden Tonfalls, in dem finanziell gesicherte Journalisten und Politiker ihn gerne benutzen.

"Wulffen" hat es amüsanterweise sowohl auf die allgemeine als auch auf die Jugend-Liste geschafft, bei den Medienfuzzis (pardon, "Erwachsenen") wirkt es auch glaubwürdiger als bei der doch offiziell politikdesinteressierten Jugend.

"Netzhetze", nicht zu verwechseln mit "Netzhexe", ist recht unspezifisch, scheint im von der Jury gemeinten Sinne aber wohl nichts mit Schleppnetz-Fischerei von Schnellbooten aus zu tun zu haben, sondern eine rezente, mäßig verbreitete und ziemlich falsche Eindeutschung von "Shitstorm" zu sein. Stattdessen hätte eher das Original auf die Unwort-Liste gehört, bzw. in die Spezialkategorie "von Journalisten, die sich dadurch für cool und aktuell halten, unverhältnismäßig häufig aufgegriffene Worte".

"Gottesteilchen" ist immmerhin sehr verbreitet, aber (hoffentlich) bekanntermaßen eigentlich auch ein Unwort.

"Punk-Gebet" ist kein Wort, sondern ein Eigenname für ein semirelevantes Ereignis.

"Fluch-Hafen" scheint ein regionales Phänomen zu sein, und auch hier gilt wieder: Ein mäßig lustiges Wortspiel ist noch lange kein verbreitetes Wort.

Dass es "ziemlich beste" zu einer stehenden Wendung gebracht haben soll, war mir schließlich auch neu, der Trendverlauf scheint sich ausschließlich auf den Film zu beziehen, aber wenigstens eine Handvoll Ergebnisse mit "-freunde" gibt es dann doch.


PS: Das deutsche Unwort scheint noch auf sich warten zu lassen, hier schonmal die/eine (noch unoffiziellere) amerikanische Liste, netterweise mit Überschneidung zum deutschen Jugendwort.

[009]

Nun sind die dran, die Plätze 6-10 aus der GfdS-Liste:

6. Netzhetze - nochnie gehört, mE unpassendes Wort für zB in Emden (das war doch in 2012?) aufkommende Phänomene, die aus meiner Sicht aber nicht originär mit dem Netz zu tun haben, sondern durch dieses Medium wohl nur leichter entständlich wie verbreitbar sind.

7. Gottesteilchen - zu den physikalischen Aspketen fanden sich gottlob ;-) schon Kommentare dazu befähigterere. Wie ein den allmächtigen erfreundes Süßgebäck aussehen würde, ist wohl eine eher mir in der Durchdenkung fernliegende philosophischere Frage.

8. Punk-Gebet - nie hgehört, finde keinerlei Bezug zu 2012.

9. Fluch-Hafen - kenne ich als uralten, kaum noch witzigen bewussten Vertipper bei dem Wort. LAs Jahreswort wegen zumindest von mir nicht wahrgenomener Verbreitung wohl weniger tauglich. Auch wegen der wohl eher fraglichen Relevanz dieser Berliner Geschehnisse für das ganze Jahr und das ganze Deutschland.

10. ziemlich beste... - wurde schon besprochen, als Nicht-Cineast hab ich da mehr oder minder nix zu zu sagen.

Das Unwort des Jahres wird, wie http://www.unwortdesjahres.net/ verrät, nicht mehr von der GfdS gewählt und für 2012 erst in 10 Tagen publizier. Da bin ich ja mal gespannt!

[Lykurg]

Das Unwort des Jahres wird [...] nicht mehr von der GfdS gewählt

klingt immerhin schon mal nach einer guten Nachricht.

8. "Punk-Gebet" bezieht sich auf die Aktion von Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale. Der Bezug zu 2012 ist insofern vorhanden, Relevanz des Wortes aber nicht.

Zu den anderen Begriffen stimme ich dir zu. Die GfdS scheint Netzhetze als Alternative zu Shitstorm etablieren zu wollen - ich weiß nicht recht, vielleicht setzt es sich durch, braucht aber bessere Multiplikatoren, etwa irgendein sehr bekanntes zukünftiges Opfer, das sich mit dieser Wortwahl darüber beklagt.
Fluch-Hafen und Gottesteilchen könnten auf zuviel Bild-Lektüre zurückzuführen sein? Ersteres Wort ist komplett an mir vorbeigegangen, letzteres einfach nur dumm, "ziemlich beste" dann wieder nicht relevant genug. Naja, irgendwas mußten sie halt nominieren.

[009]

Theoretisch könnten wir/ich ja noch eine Abstimmung einbasteln, mit der matrixintern das (Un-)Wort des Jahres gekürt wird...

[Traitor]

Inzwischen haben wir auch ein Unwort, das "Opfer-Abo", bei dem sogar offiziell eingestanden wird, das es im ganzen Jahr nur einmal verwendet wurde. Eine Diskussion erübrigt sich fast...
Mein erster Gedanke dazu war übrigens, dass es sich auf das beziehen könnte, was ansonsten meistens als "Abo-Falle" bewortet wird.

@009: Wenn ich sie richtig verstanden hatte, wäre Emden nichtmal ein Beispiel für ihre "Netzhetze", obwohl da immerhin noch das Bild einer hetzenden Meute gepasst hätte, sondern eher Twitter-Kommentaraktionen im Piraten-Umfeld und sowas.

[009]

Trotzdem ich Urheber und Entstehungssituation wußte, dachte ich beim Opfer.-Abo auch an die Version, an die Du dachtest.
Zumindest mit kurzem nachdenken finde ich zwar mehrere reine private Unwörter, aber ein generell gesellschaftliches will mir nicht wirklich einfallen.

[Traitor]

Dieses Jahr haben sie zwar ein Nichtwort genommen, aber immerhin ein existentes, "GroKo". Alles mit Überwachungs-Bezug wird wohl für das Unwort aufgehoben.
Gerade daran sieht man schön die Unsinnigkeit der Aufteilung nach inhaltlicher Konnotation, nicht nach sprachlichen Kriterien; gerade im Sinne einer Sprachreinheitsgesellschaft kann "GroKo" doch eigentlich nur ein Unwort sein. Auch dass knappe 2 Monate Nutzung ein "des Jahres" rechtfertigen sollen, ist grenzwertig - wenn auch sicher eine Verbesserung gegenüber den 2 Sekunden im Vorjahr.

[Maglor]

Warum muss es immer ein neues Unwort sein? Die alten sind doch völlig ausreichend bis ungenügend.

[Traitor]

Maglors Vorschläge wurden nicht berücksichtigt, ebenso wie das angeblich mehrheitlich eingesendete "Supergrundrecht" (Was war das nochmal, Sicherheit laut Friedrich?), stattdessen wurde es der "Sozialtourismus". Damit haben sie zur gelungenen Abwechslung endlich mal wieder einen relativ verbreiteten Begriff gewählt, dafür allerdings den "des Jahres"-Aspekt noch mehr vermasselt als beim ununigen Wort, denn die zum Begriff gehörende Debatte ist doch eigentlich erst zum Jahreswechsel ernsthaft hochgekocht.