Person mit Migrationshintergrund

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blobbfish
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Di 21. Jan 2014, 22:58 - Beitrag #1

Person mit Migrationshintergrund

Ich habe gestern ein wenig darüber sinniert. Wir nutzen gemeinhin den Ausdruck Migrationshintergrund, allerdings, eine direkte Ummünzung auf Personen gibt es indes nicht, es kann sich also immer nur um eine Person mit Migrationshintergrund handeln. Ich finde das zu unspezifisch und wenig flexibel, ich würde lieber diese Eigenschaft nicht als Attribut sondern direkt im Wort unterbringen, quasi Migrationshintergründiger, das scheint mir aber nicht ganz korrekt zu sein, von 'Hintergrund' kenne ich Personifizierung, wie man es ja von einer Reihe Worten kennt. Eventuell bin ich aber auf dem Holzweg und es gibt kein Wort oder ich denke dabei in die vollkommen falsche Richtung.

Ipsissimus
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Di 21. Jan 2014, 23:41 - Beitrag #2

hmm, wie wäre es ganz einfach mit "Mensch"?

früher hätte man auch "Immigrant" gesagt, aber das war mal was Positives, das hatte was von politischem Widerständler, obwohl mehr verstohlen, nicht explizit, und der Migrationshintergrund ist ja nur eine infame, weil sich wohlwollend stellende Verschleierung der Diffamierung, die damit eigentlich ausgedrückt werden soll: hau doch endlich wieder ab, Fremder. Also kommt Immigrant eher nicht in Frage, es sei denn, man bräuchte noch ein Wort, das man in den Dreck ziehen kann.

Einwanderer?

blobbfish
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Di 21. Jan 2014, 23:49 - Beitrag #3

Mensch ist freilich zu allgemein, wenn dann aber bitte Entität, ich glaube, das kann man nicht mehr abstrahieren ;).

In meiner Nutzung von Migrationshintergrund wirst du eine solche Diffamierung allerdings nicht finden; ich verwende das Wort ganz gerne (gedanklich) mit den Adjektiven 'aktiv' und 'passiv' und versuche damit z.B. auf Unterschiede einzugehen, die eben durch denselben hervortreten, ein Unterschied ist aber keineswegs negativ gemeint.

Einwanderer und Immigrant bezieht sich aber doch tatsächlich auf eine Person die einwandert, aber nicht auf deren Kinder oder Enkel, oder sehe ich das falsch? Der Migrationshintergrund tut aber doch genau das.

Ipsissimus
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Mi 22. Jan 2014, 00:24 - Beitrag #4

nein, das war auch nicht auf dich gemünzt^^

keine Ahnung, wie die offizielle Definition von "Person mit Migrationshintergrund" ist. Umgangssprachlich ist der Begriff jedenfalls nicht wohlwollend gemeint

Feuerkopf
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Mi 22. Jan 2014, 19:23 - Beitrag #5

Vor allem: Wie lange "zählt" der Migrationshintergrund? Ein Türke der dritten Generation mit deutschem Pass wird bestimmt eher danach gefragt, als ich, deren Oma ihrerzeit aus Polen herkam. Warum? Man sieht mir die ausländische Herkunft nicht an.
Der Migrationshintergrund könnte ein interessanter Anknüpfungspunkt für Gespräche sein, so wie in den USA, wo man sich auch gern darüber unterhält, welches "heritage" man denn so in den Knochen hat. Aber hier - und da gebe ich meinen Vorschreibern recht - wird noch gern auf das rein deutsche Blut geäugt. Als ob es das je gegeben hätte und als ob es ein Wert an sich sei!!

Traitor
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Mi 22. Jan 2014, 22:00 - Beitrag #6

Zitat von Ipssisimus:früher hätte man auch "Immigrant" gesagt, aber das war mal was Positives, das hatte was von politischem Widerständler
Das musst du mir als Spätgeborenem erklären. Weil es (zwischen den großen Gastarbeiterphasen?) mal Phasen gab, in denen ein Großteil der Einwanderer politisch Verfolgte waren...?
(In Bonn gab es noch die Sonderspezies der "Immis", zu denen ich wohl auch in zweiter Generation zähle. ;))

Zitat von Ipssisimus:Umgangssprachlich ist der Begriff jedenfalls nicht wohlwollend gemeint
"Umgangssprachlich" halte ich den Begriff nicht für existent; oder wenn, dann nur als Satire auf PC-Behörden-und-Medien-Sprech gemeint.

Abgesehen von reiner PC wurde der Hintergrund auch meines Wissens, wie vom fish vermutet, eingeführt, um Folgegenerationen mit diskriminieren zu können, da in Deutschland geborene Enkel von Einwanderern ja nun bei schlechtestem Willen keine "Immigranten" mehr sind.

Reiner Wortbastelvorschlag ohne politischen Hinterund: "Migrationsbehintergründeter"? "Hintergründiger" klingt doch irgendwie so... hintergründig. ;)

@Feuerkopf: Die USA sind aber auch nicht gerade ein leuchtendes Vorbild an entkrampftem Umgang mit Immigrationsvokabular. Besonders beliebt die kuriosen Diskussionen darüber, ob und wer sich "***an American" nennen darf.

Maglor
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Mi 22. Jan 2014, 22:56 - Beitrag #7

Ich mag diese Bezeichnung nicht. Sie ist unscharf, unfair und vor allem unsinnig.

Mich plagt vor allem die Frage, warum der Begriff nicht auch für Spätaussiedler aus Rumänien oder Polen verwendet wird, oder gar für Heimatvertriebene.

Der Begriff des Migrationshintergrundes ist ein Euphemismus. Das Wort ist sicherich irgendwann verbraucht.
Früher war ja Asylant ein ganz normales Wort, genau wie Neger. Später kam der fixe Gedanken, man müsse stattdessen Asylbewerber sagen bzw. Schwarzer, weil ja die althergebrachten Wörter als im Ober- oder Unterton diskriminierend erkannt wurden. Inzwischen sind diese beiden Ersatzworte auch verbrannt.

Die Sache mit dem Unsinn und der Unschärfe habe ich ja erklärt. Unfair ist der Begriff insoweit, als dass er mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechtes und der Spätaussiedlerwelle aus der GUS boomte. In 90er gab es plötzlich so viele Menschen mit deutschem Pass, die ja gar nicht in Deutschland geboren wurden, als Deutsche geboren wurden oder deren Eltern keine Deutschen waren. Der Begriff Migrationshintergrund hat daher die unfaire Aufgaben die falschen Deutschen von den deutscheren Deutschen zu unterscheiden und den Neubürgern ihre Herkunft oder Abstammung vorzuhalten. Das tolle an dem Begriff ist, dass er die Neubürger in einen Topf mit den Nichtbürger wirft. Die Neubürger und die Ausländer gehören also zusammen, nicht aber die Neubürger und die Eingeborenen.
Um dem Unwort die Stirn zu bieten, sollte als der geneigte Leser sich des althergebrachten Wortes Neubürger annehmen. Zugegebermaßen fairerweise endet dieser Begriff schon in der zweiten Generation, also der, die hier geboren wurde und die Staatsbürgerschaft durch Geburt erhält.

Zitat von Feuerkopf:Vor allem: Wie lange "zählt" der Migrationshintergrund? Ein Türke der dritten Generation mit deutschem Pass wird bestimmt eher danach gefragt, als ich, deren Oma ihrerzeit aus Polen herkam. Warum? Man sieht mir die ausländische Herkunft nicht an.

Ich möchte an der Stelle gern wiedersprechen. Inzwischen muss ich mir ziemlich oft anhören, in welchem Land junge Leute geboren wurden oder wie sie heißen.
Die Gesichter kann ich ehrlich gesagt nicht mehr zuordnen. Häufig bin ich dann überrascht, wenn jemand mit einer bestimmten Frisur oder einem Brilliantohrring keinen türkischen Namen hat, sondern einen typisch Deutschen. Bei sogenannten "Russen", Kasachstan-Deutschen u. a. ist ähnlich. Bei der Einteilung kaukasoider Bevölkerung in Schubladen stehen oft milieuspezifische Trachten oder auch Dialekte im Vordergrund, die auch von den Eingeborenen geteilt. Nach der Haarfarbe kann man ohnehin nicht gehen, dafür ist die Vielfalt in diesem Land zu groß.
Auch bei offensichtlich negrider oder mongolider Physiognomie ist oftmals so, dass es sich um ein Zögling aus deutschem Hause handelt, lediglich mit Adoptionshintergrund.
Nach dem Aussehen kann man nicht mehr gehen.

Ipsissimus
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Do 23. Jan 2014, 16:21 - Beitrag #8

Traitor, "Immigrant" war deswegen positiv besetzt, weil es nie wirklich auf Personen angewandt wurde, die nach Deutschland kamen, sondern auf deutsche Emigranten während des zweiten Weltkriegs, die logischerweise in ihren Aufnahmeländern den Status von Immigranten inne hatten und darin etwas Positives erblickten, nämlich dass sie sich erst mal in Sicherheit fühlten (wohingegen sie ihre Emigration oft genug leidend durchlebt haben).

Padreic
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Fr 24. Jan 2014, 03:06 - Beitrag #9

Es ist die Frage, inwieweit in Deutschland das Wort Immigrant überhaupt benutzt wurde -- Einwanderung nach Deutschland im größeren Stil nach Deutschland ist mir, wie Ipsi auch schon anmerkte, von vorm 2. Weltkrieg kaum bekannt. Diejenigen, die vor dem dritten Reich oder dem zweiten Weltkrieg geflohen sind, haben die sich nicht vielmehr als Emigranten denn als Immigranten gesehen? Anzumerken bleibt auch, dass Emigration aus Deutschland keinesfalls erst mit dem dritten Reich aufgekommen ist; gerade die Emigration in die vereinigten Staaten gab es schon lange und massenhaft (z. B. durch einen Großonkel meinerseits).

Der Terminus 'Person mit Migrationshintergrund' ist zwar verständlich insofern, dass man eben Menschen bezeichnen will, die vielleicht nicht in erster Generation hier eingewandert sind, aber der Bedarf diese als Gruppe zusammenzufassen und über einen Kamm zu scheren, erschließt sich mir nicht. Gewiss, viele mögen zum Teil ähnliche Probleme haben, beispielsweise mit der deutschen Sprache (zum Beispiel in sehr türkischsprachigen Enklaven in Deutschland). Aber eben doch längst nicht alle - sie alle zusammenfassen, unabhängig vom Bildungsgrad, von ihrer Einstellung zu Deutschland und dem Heimatland ihrer Vorväter und -mütter, das ist doch eher was für die typische unhilfreiche Statistik. Es gibt ja durchaus genügend Einwanderer selbst 1. Generation, die Deutsch quasi akzentfrei, ihre Muttersprache tatsächlich vielleicht eher selten oder ungern sprechen, die deutsche Staatsbürger sind und sich auch ansonsten "voll integriert" haben -- diese schlicht als Deutsche zu fassen, wenn sie sich denn so sehen, halte ich für sehr viel sinnvoller als den Begriff 'Person mit Migrationshintergrund' zu benutzen.
Bezüglich der Sinnigkeit des Begriffs scheint hier ja auch ungefähre Einigkeit zu bestehen. Eine besonders negative Konnotation ist mir aber eigentlich nicht bewusst. "Plaste-Deutscher", "Kanake", usw. scheinen als abwertende Ausdrücke mir da doch geeigneter. Wenn man einer Sache oder Menschengruppe feindlich gegenüber steht, schwingt aber natürlich selbst in eigentlich neutralen und sachlichen Ausdruck diese Feindseligkeit noch mit.
Jegliche begriffliche Unterscheidung von Menschengruppen zu vermeiden und einfach stets von 'Menschen' zu reden, erscheint mir allerdings wenig dienlich. Sozialpolitik oder auch Soziologie kann nicht immer vom konkreten Menschen ausgehen; Verallgemeinerungen, auch wenn im Detail unzutreffend, sind ähnlich Vorurteilen eben doch häufig notwendig.

Ipsissimus
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Fr 24. Jan 2014, 10:56 - Beitrag #10

na ja, Padreic, Immigrant oder Emigrant, das ist ja nur perspektivisch unterschieden. Vom Ursprungsland aus gesehen gehe ich in die Emigration, vom Gastgeberland aus gesehen komme ich in die Immigration. Bei den Personen, die diesen Weg gingen oder gehen mussten, dürften sehr unterschiedliche Haltungen feststellbar sein. Manche sind in dem neuen Land geblieben, manche kamen zurück so schnell es ging, wirklich aus eigenem Antrieb ist kaum eine/r gegangen, manche haben darin die Chance ergriffen, manche sind daran verzweifelt. Als Emigranten haben sie sich also wohl alle gesehen, Immigrant aus eigener Wahl wurden deutlich weniger, obwohl sie natürlich alle auch Immigranten waren, sonst hätten sie keine Emigranten sein können.

Auch die "Person mit Migrationshintergrund" ist ja eine perspektivische Geschichte. Wie wäre es mit "Person, die systematischen und andauernden Vorurteilen der Primärkultur ausgesetzt ist"? Meint genau dasselbe, wechselt aber die Perspektive, und dieser Perspektivenwechsel sollte eigentlich etwas deutlich machen

Traitor
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Fr 24. Jan 2014, 11:05 - Beitrag #11

@Maglor: "Spätaussiedler" (auch an sich ein fragwürdiges Wort) werden meinem Eindruck nach durchaus mit gemeint. Da gibt es ja auch genug von mti Sprachproblemen, sodass sie sich leicht identifizieren und etikettieren lassen.

Ist ein "Asylant" nicht jemand, der bereits erfolgreich Asyl bekommen hat, im Gegensatz zum "Asylbewerber"?

"Neubürger" ist wieder etwas anderes, da es eben Bürgerschaft voraussetzt, während Behintergründete den nicht brauchen.

@Ipsissimus: Ah, so weit wolltest du mit "früher" zurückgehen. Ich hatte an 50er-80er gedacht. Aber dazu siehe Padreics Einwände, wieso sollte im hiesigen Sprachgebrauch der Perspektivwechsel von Emi- zu Immi- so verbreitet gewesen sein? Und was hatte das dann mit Einwanderern hierhin zu tun?

Hier übrigens mal ein bisschen Statistik (via Google Books Ngrams, Deutsch, 1900-2013), wenn auch "dem Volk aufs Maul geschaut" hier sicher relevanter wäre als ein Buchindex:
migri1.png

migri2.png

migri3.png


Eine Stichprobe zu "Immigranten" in den Jahren 1950-1960 liefert auf den vorderen Plätzen:
  • deutschsprachige Immigranten in Chile
  • Immigranten aus Rußland in Amerika
  • 2x Immigranten in Israel
  • atlantäische Immigranten in Nordafrika :D
  • deutsche Immigranten in Argentinien
  • 2x allgemeine Immigranten in den USA
  • Immigranten in russischen Gewässerbiotopen :D
  • britische Immigranten in Niederländisch-Südafrika
Das widerspricht anscheinend sowohl meiner Annahme, das Wort wäre damals vor allem für Gastarbeiter benutzt worden (obwohl die sicher damals noch weniger in akademischen Texten auftauchten, also vielleicht doch nicht so explizit), als auch einer Fortsetzung deiner vermuteten politischen Konnotation.

Ipsissimus
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Fr 24. Jan 2014, 13:59 - Beitrag #12

eigentlich unterstützt es die Vermutung einer politischen Implikation, denn es darf vermutet werden, dass in all diesen Fällen keine Gastarbeiter gemeint sind^^

schwieriger dürfte eine deutliche Abgrenzung der Begriffe Immi-/Emigrant und Asylant werden. Der Asylant war ursprünglich auch nichts anderes als ein Flüchtling, der aus politischen Gründen irgendwo emigrierte um irgendwo anders zu immigrieren. Zwischenzeitlich wurde der Begriff aber unterschiedslos auch auf sog. "Wirtschaftsflüchtlinge" angewandt und hat mittlerweile im allgemeinen Sprachgebrauch deutlich den "Stallgeruch" dieser Gruppe angenommen, ist also formal immer noch korrekt, dient aber weitgehend zur Diffamierung.

Maglor
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Fr 24. Jan 2014, 19:25 - Beitrag #13

Zitat von Traitor:@Maglor: "Spätaussiedler" (auch an sich ein fragwürdiges Wort) werden meinem Eindruck nach durchaus mit gemeint. Da gibt es ja auch genug von mti Sprachproblemen, sodass sie sich leicht identifizieren und etikettieren lassen.

Ich habe nochmal nachgeforscht. Tatsächlich habe ich damit "Aussiedler" aus Polen und Rumänien gemeint, die vor allem in den 70ern und 80ern in die BRD kamen. Diese gelten rechtlich als Heimatvertriebene, anderes als die "Spätaussiedler".

"§ 1 Bundesvertriebenengesetz
(2) Vertriebener ist auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger [...]
3. nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege des Aufnahmeverfahrens vor dem 1. Januar 1993 die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die ehemalige Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verlässt, es sei denn, dass er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler)."

Traitor
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Fr 24. Jan 2014, 21:05 - Beitrag #14

@Ipsissimus: Ich würde sagen, bei den Beispielen geht es größtenteils um die klassiche Massen(ein/aus)wanderer-Mischung aus wirtschaftlichen, religiösen, politischen und persönlichen Gründen, und ums 19. bis frühe 20. Jahrhundert, siehe Padreic. Die Aufarbeitung der politischen Emigration der 30er bis 40er fand vermutlich erst ab den 70ern statt, die Recherche wird mir aber gerade zu komplex.

Ach ja, Beitrag von heute Morgen übersehen:
Auch die "Person mit Migrationshintergrund" ist ja eine perspektivische Geschichte. Wie wäre es mit "Person, die systematischen und andauernden Vorurteilen der Primärkultur ausgesetzt ist"? Meint genau dasselbe, wechselt aber die Perspektive, und dieser Perspektivenwechsel sollte eigentlich etwas deutlich machen
Meint mit Sicherheit nicht dasselbe, sondern ist ein Oberbegriff, der auch Andersreligiöse, Andersbeschäftigte, Anderssexuelle, Andersmusikhörende usw. einschließt.

Zur Ehrenrettung der Intention des Begriffes (nicht seiner Deskriptivität oder sprachlichen Qualität, da gibt es nichts zu retten) möchte ich noch anmerken, dass er meinem Eindruck nach eher zur positiven Diskriminierung geschaffen wurde, bzw. um zu erkennen, wo Diskriminierung gegen diese Gruppe vorliegt und ob/wie man sie bekämpfen kann. Das dürfte auch der Hauptgedanke des Einbezugs von Folgegenerationen sein. Ob dabei dann tatsächlich ein Fortschritt herausgekommen ist...

@Maglor: China? :wzg:

Feuerkopf
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Sa 25. Jan 2014, 11:05 - Beitrag #15

Streng genommen haben wir doch alle einen "Migrationshintergrund", unsere Eltern sind mal mehr oder mal weniger weit von ihrem Geburtsort gelandet.
"migrare" heißt (aus)wandern, aus/wegziehen, übersiedeln. Der Umzug von einem Dorf in ein anderes war vor 100 Jahren im ländlichen Raum noch richtig bedeutend. Ich brauche mir bloß das nahe gelegene Sauerland anzugucken, wo es sogar Dialektunterschiede von Tal zu Tal gab.
Zieh als Norddeutscher mal ins bayerische Hinterland, dann bist du fremder als im europäischen Ausland. ;)

Es hat immer wieder Menschen in andere Regionen verschlagen, sei es aus Not oder weil die Umstände halt so waren. Händler, wandernde Handwerker, Soldaten - sie sind immer schon in die Fremde gezogen und oft dort geblieben. Es hat Migration gegeben, weil das Klima es erzwang, weil die eigenen Anschauungen verfolgt wurden, weil man verschleppt wurde.

Ich z. B. habe Vorfahren aus dem heutigen Polen, aus Thüringen, aus dem Lippischen und vermutlich aus Frankreich. Mein Mann ist viel mehr verwurzelt in Westfalen, da kommt die Sippe aus Dortmund und dem sauerländischen Herscheid. Mein Schwiegersohn aus den USA hat Vorfahren aus Deutschland und Polen und ist quasi ein interkontinentaler Migrant. ;)

Gestern habe ich mich mit einem Kollegen arabischer Provenienz unterhalten, der allerdings in Celle geboren wurde und nur noch "ausländisch" aussieht. Einen britischen Kollegen kann ich wunderbar mit all den Vorurteilen foppen, die hier so gang und gäbe sind, z. B., dass Briten im Winter immer in viel zu dünnen Klamotten rumlaufen, weil sie sich weigern zu frieren. Richtig fremd sind mir allerdings die Chinesen im Büro, bis auf die, die schon hier geboren wurden.
Es macht sich eben vieles an der gemeinsamen Sprache fest.
Ich kenne nichts Spannenderes, als mir von den Herkunftsländern und den dortigen Gepflogenheiten erzählen zu lassen. Die kulturelle Vielfalt ist so bereichernd!
Außerdem führen mir diese Gespräche vor Augen, dass ich anderswo eben auch ein Exot bin qua Herkunft. Deutsche sind im Ausland auch sonderbar. ;)
Da bediene ich auch schon mal gern die klassischen Vorurteile und bin ordentlich und pünktlich - was übrigens auch auf hier lebende Zuwanderer abfärbt. Mein Physiotherapeut aus Eritrea bekommt inzwischen Zustände, weil es "zuhause" in Afrika so chaotisch zugeht.

Wenn ich mir überlege, dass ich in den 60ern es noch exotisch fand, mal beim Italiener zu essen oder gar beim Chinesen!

Lykurg
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Sa 25. Jan 2014, 11:07 - Beitrag #16

@China: Ich dachte zunächst, das beziehe sich auf deutsche Exilanten in Shanghai und ihre Nachkommen. 1946 waren allein knapp 17.000 europäische Juden dort, die sind aber bis 1950 restlos remigriert bzw. in Drittstaaten gegangen. Exilierte deutsche Sozialisten/Kommunisten dürften in China eher eine Ausnahme gewesen sein. Dann gibt es natürlich Nachkommen deutscher Kaufleute dort (ich habe entsprechend auch ein paar entfernte Verwandte mit chinesischen Vorfahren) - insbesondere im Raum Shanghai und natürlich in der ehemaligen deutschen Kolonie Tsingtao/Qingdao. Zahlenmäßig dürfte das aber wirklich nicht ins Gewicht fallen, 1998 wars kein einziger (obwohl in einer Liste vorgesehen); eher pro forma.

Traitor
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Sa 25. Jan 2014, 12:48 - Beitrag #17

@Feuerkopf: "Binnenmigration" innerhalb eines (von Dialekten abgesehen) gemeinsamen Sprachraums oder einzelne "exotische" Vorfahren in ansonsten deutlich "mehrheitsgesellschaftlicher" Abstammung sind aber noch etwas deutlich anderes als der Zuzug großer, relativ klar abgegrenzter Gruppen. Insbesondere muss man bei ersterem deutlich weniger mit in echte Diskriminierung umschlagenden Vorurteilen rechnen. Ein Norddeutscher in Bayern oder ein Bayer mit einem einzelnen chinesischen Großelternteil wird zwar vielleicht gefoppt, aber wohl kaum ernsthaft benachteiligt.
Will man aber "Urdeutsche", die ernsthaft etwas gegen "die Ausländer" haben, die Perspektive zurecht rücken, dann sind solche Hinweise wie deine sicher eine gute Idee. Wie das klassische Dein-Jesus-ein-Jude-Poster.

@Lykurg: Wegen der Nennung in einer Reihe mit Danzig etc. scheint es mir am naheliegendsten, dass es sozusagen um "deutsche Fernostgebiete" geht, also insbesondere um Tsingtau. Zur Authentizitätsprüfung als Spätaussiedler muss man vermutlich bei der Einreise eine Flasche Bier mitbringen.

Maglor
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Sa 25. Jan 2014, 13:01 - Beitrag #18

Zitat von Traitor:@Feuerkopf: "Binnenmigration" innerhalb eines (von Dialekten abgesehen) gemeinsamen Sprachraums oder einzelne "exotische" Vorfahren in ansonsten deutlich "mehrheitsgesellschaftlicher" Abstammung sind aber noch etwas deutlich anderes als der Zuzug großer, relativ klar abgegrenzter Gruppen.

Vor ein paar Jahrzehnten wurde auch konfessionelle Unterschiede immer wieder thematisiert. Da war auch schon mal von katholischer oder evangelischer Diaspora die Rede. Die Masseneinwanderung von Schlesiern, Ostpreußen, Sudetendeutschen, Siebenbürger Sachsen usw. wurde ganz anders war genommen, als die der Spätaussiedler aus Russland, Kasachstan usw. Bei den Spätaussiedler ist natürlich die "One-drop rule" anzuwenden.

Zitat von Traitor:Ein Norddeutscher in Bayern oder ein Bayer mit einem einzelnen chinesischen Großelternteil wird zwar vielleicht gefoppt, aber wohl kaum ernsthaft benachteiligt.

Bei Chinesen, mehr noch bei Negern, ist die [url="http://en.wikipedia.org/wiki/One-drop_rule"]One-drop rule[/url] anzuwenden. Ein einziger Tropfen artfremden Blutes, also beispielsweise ein chinesischer Großvater um nicht dazuzugehören. EIn französischen, dänischen oder nordamerikanischen Großvater wird man dem Enkel nicht mehr vorhalten, höchstens positiv. Es gibt eine Hierarchie der Ausländer. Der Spitze stehen West- und Nordeuropäer sowie Nordamerikaner, Australier usw. Sie gelten als dem Deutschen ebenwürtig. Ihnen folgen die Südeuropäer. Danach kommen die Osteuropäer (einschließlich der Spätaussiedler), mit Ausnahme der Rumänen, Bulgaren, Albaner und insbesondere der Zigeuner, die wohl in der üblichen Hackordnung noch weit unterhalb der Türken einzuordnen sind. Weitere Abstufungen erspare ich euch. Sied dürften aus dem rassistischen Alltag bekannt sein.

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Sa 25. Jan 2014, 14:13 - Beitrag #19

@Rangordnung: Hinsichtlich Australien bin ich anderer Meinung; einerseits gilt für Aboriginees sicher auch die One-Drop-Rule, andererseits weiß ich, daß einer Großtante, die wegen jüdischer Herkunft in Australien aufgewachsen ist, schon das als charakterprägend negativ angemerkt wird, im Sinne von 'ruppigen Sitten einer Sträflingskolonie'. Da wäre Abstammung sicher nicht besser. ;)

Der religiöse bzw. konfessionelle Zusammenhang spielt auch für die jüdischen Einwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die sogenannten Kontingentflüchtlinge, eine Rolle. In gewissen Zügen wiederholt sich dabei die Geschichte: Von den assimilierten deutschen Reformjuden (zumeist Aschkenasim) in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. wurde der Zuzug von Ostjuden aus Polen und Rußland, meist orthodoxe Chassidim, stark abgelehnt, weil die ihre gesellschaftliche Teilhabe gefährdeten: Sie waren - im Gegensatz zu den Liberalen - mit jiddischem Akzent, Hut, Tefillim und Schläfenlocken sofort auf der Straße zu erkennen, fremdartig und gut geeignet als Zielscheibe antisemitischer Propaganda, die sich dann aber auch gegen die bisher unauffälligen Liberalen wendete. Die Geschichte gab ihnen - irgendwie - recht.

Der erste Teil der Entwicklung hat sich nach 1990 wiederholt, allerdings mit dem Unterschied, daß die Zahlenverhältnisse noch krasser sind als damals: die heute viel kleineren jüdischen Gemeinden haben sich durch den Zuzug in wenigen Jahren mehr als vervierfacht, viele bislang liberale Gemeinden haben plötzlich eine orthodoxe und nur bedingt deutschsprachige Mitgliedermehrheit. Wie sich das auf einen gegenwärtigen deutschen Antisemitismus auswirken wird, mag die Zeit zeigen (evtl. auch das Vorbild Frankreich).

Maglor
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So 26. Jan 2014, 14:51 - Beitrag #20

Nichts hat die antisemtische Propaganda um ein übermächtiges, internationales Finanzjudentums so sehr befeuert, wie das massenhafte Auftreten mittelloser jüdischer Flüchtlinge. ;)

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