Frank Schirrmacher plötzlich gestorben

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janw
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So 15. Jun 2014, 21:56 - Beitrag #1

Frank Schirrmacher plötzlich gestorben

Am 12. Juni ist der Journalist Frank Schirrmacher plötzlich gestorben, Mitherausgeber der FAZ und ihr Feuilletonchef.
Schirrmacher hatte das Feuilleton der Zeitung seit 1989 geleitet, seit 1994 als Mitherausgeber verantwortet.

Seit 2004 war er zudem mit mehreren Büchern zu politischen Themen hervorgetreten, in denen er sich ("Das Methusalem-Komplott") mit der Überalterung der Gesellschaft, der Auflösung der Familie als gesellschaftlicher Grundeinheit ("Minimum"), den gesellschaftlichen Herausforderungen der Datenwirtschaft ("Payback") und den Mechanismen der neoliberalen Politik ("Ego: Das Spiel des Lebens") auseinandersetzte, neben verschiedenen weiteren Interviews und Debattenbeiträgen zu anderen gesellschaftspolitischen Themen.
Schirrmacher begleitete das Erscheinen seiner Bücher jeweils mit einer starken Medienpräsenz in einem Querschnitt der deutschen Medienlandschaft und erreichte dadurch eine hohe Aufmerksamkeit für seine Thesen im jeweils aktuellen gesellschaftlichen Diskurs.

In Nachrufen wird ihm u.a. ein Gespür für kommende gesellschaftliche Entwicklungen und Bedingungen und die Fähigkeit zur pointierten Darstellung komplexer Sachverhalte zugesprochen.

Schirrmacher hat für dieses Schaffen neben zahlreichen publizistischen Preisen vielfach Zustimmung, aber auch zahlreiche Ablehnung erhalten.
Zu erwähnen wären hier Rezensionen von "Payback" im http://www.merkur-blog.de/2013/02/sorgfaltspflichten-wenn-frank-schirrmacher-einen-bestseller-schreibt/ und "Ego" in der "Welt", in denen ihm ein sehr unsauberer sprachlicher Stil, fehlerhafte und offenbar zurechtgebogene Übersetzungen und Zitate, Defizite im Verständnis der behandelten Sachverhalte und konstruierte Bezüge vorgehalten wurden.
Kritisiert wurde auch seine Laudatio auf das Scientology-Führungsmitglied Tom Cruise für dessen Mitwirken an dem - zu dem Zeitpunkt noch nicht im Ergebnis zu besehenden - Film "Stauffenberg".
Schirrmachers aktive mediale Vermarktungsstrategie wurde mehrfach als Kampagnenjournalismus und als populistisch kritisiert.

Ipsissimus
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Mo 16. Jun 2014, 11:01 - Beitrag #2

aus meiner Sicht war Schirrmacher eine Art Felix Krull. Ein Felix Krull, der manches besser konnte und verstand als die Leute in den Kreisen, zu denen er dazu gehören wollte, manches, aber nicht alles; so hat er z.B. eine brilliante Dissertation über Franz Kafka verfasst, für die er viel Lob eingeheimst hat, ehe ihm Fleischhauer in einem bitterbösen Spiegelartikel nachgewiesen hat, wie knapp er damit an einem direkten Plagiat vorbeigeschrammt ist. Bekannt ist auch, dass in seinen direkten journalistischen Beiträgen so manches Detail frei erfunden war.

Von einem Teil seiner früheren Mitarbeiter, denen, die ihm wohlgesonnen blieben, wurde er als der kindliche Kaiser bezeichnet. Der Teil, der ihm nicht wohlgesonnen war, sagte ihm das Kalkül eines Machtmenschen von Kohlschen Dimensionen nach. Er teilte mit dem Altbundeskanzler zumindest eine Zeitlang auch die Leibesfülle, und wie dieser wurde er darob von vielen unterschätzt, bis es zu spät für sie war.

Aber eigentlich war Schirrmacher Literaturmensch. Als Literaturchef der FAZ, Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki war er aber ganz anders als der klassische, klischeehaft ästhetisierende Literaturkritiker. Weder glaubte er daran, dass Literatur die Welt verbessern könnte oder sollte, noch war er ein feinsinniger Ästhet. Seiner Ansicht nach musste Literatur groß, tief und bedeutsam, immer auch ein bisschen tabubrechend sein. Sie musste politisch sein. Kurzum: er war der Karl Heinz Bohrer für Arme.

Aber alles das erklärt nicht, warum Schirrmacher derart in den Köpfen drin war. Michael Angele hat über ihn geschrieben:

... wir Feuilletonmänner wollten sein wie er. Allerdings eben nicht ganz genau so wie er. Wir hätten gerne diese Macht gehabt, aber ohne Machtmensch zu sein, wir hätten gerne seine Intelligenz gehabt, aber ohne das Halbseidene darin, wir wären gerne so begeisterungsfähig gewesen, aber ohne das Infantile darin, wir hätten gerne so groß gedacht, aber ohne die Rücksichtslosigkeit darin, wir hätten gerne auch so ein Sensorium für die Gefahren und Nöte der Zeit gehabt, aber ohne den apokalyptischen Furor darin.


Und das ist nur die Vor-Internet-Geschichte. Mit dem Internet erfand sich Schirrmacher komplett neu, wurde quasi über Nacht von einem Helmut Kohl- und Ernst Jünger-Verehrer zum Nerd und Internet-Junkie. Das wurde ihm anfangs übel genommen, zu einer Zeit, in der die großen Verlage noch dachten, auf das Internet mit einem Schulterzucken reagieren zu können.

Diese extrem frühe Reaktion Schirrmachers war es wohl, die ihn wirklich unsterblich machte.

Traitor
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Mo 16. Jun 2014, 14:20 - Beitrag #3

FAZ und FAS sind bei mir als verkappte Mischung aus Börsenblatt und CDU-Parteiorgan abgespeichert und ich lese sie nur sehr selten, dann meist äußerst missbilligend. (Bis auf den FAS-Wissenschaftsteil und einzelne andere politikferne Artikel.) Den Sinn und Wert modernen Feuilletons als krude Mischung aus Nischenpublikums-Kulturrezensionen und aufgebauschten Meinungsartikeln sich für wichtige Publizisten haltender Redakteure habe ich auch noch nie verstanden.

Insofern ist Schirrmacher mir nie als intellektuelle Größe erschienen; als Organisator, wirtschaftlicher Lenker (sofern dies bei der FAZ Teil der Herausgeberaufgaben ist?) und Meinungsmacher muss er aber eindeutig seine Qualitäten gehabt haben.

Zitat von Ipsissimus:Und das ist nur die Vor-Internet-Geschichte. Mit dem Internet erfand sich Schirrmacher komplett neu, wurde quasi über Nacht von einem Helmut Kohl- und Ernst Jünger-Verehrer zum Nerd und Internet-Junkie. Das wurde ihm anfangs übel genommen, zu einer Zeit, in der die großen Verlage noch dachten, auf das Internet mit einem Schulterzucken reagieren zu können.
Diese extrem frühe Reaktion Schirrmachers war es wohl, die ihn wirklich unsterblich machte.
Da muss ich etwas extrem verpasst haben - die FAZ hielt ich bisher für im Internet weitgehend irrelevant. Bestenfalls Nr. 5 hinter Spiegel, Welt, SZ und Zeit. Laut WP soll die FAZ zwar angeblich vorne stehen (SpOn sicher als nicht-"Qualitäts"-Zeitung ausgenommen), laut aktuellem AGOF z.B. (das WP auch zu zitieren glaubt...) aber Welt vor Süddeutscher vor Zeit vor FAZ, wie ich es mir dachte. Natürlich gibt es immer zig widersprüchliche Statistiken, aber zumindest an eine klare Führungsrolle glaube ich nicht. Höchstens halt zu bereits zu lange für mein Statistikgedächtnis zurückliegenden Zeiten. Aber waren da nicht auch eher SpOn, Heise und unabhängige Seiten voraus?

Was ist von seinem angeblichen späten Linksschwenk zu halten? Zumindest an der Gesamtausrichtung seiner Zeitung konnte ich den nicht ablesen.
Zitat von SpOn:In der Finanzkrise des Jahres 2008 wandte sich Schirrmacher gegen die neoliberale Doktrin: "Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik." Unter der Überschrift "Demokratie ist Ramsch" diagnostizierte er 2011 eine Deformation des Parlamentarismus im Namen einer höheren, "finanzökonomischen Vernunft".

Ipsissimus
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Mo 16. Jun 2014, 16:26 - Beitrag #4

Man muss kein Linker/Konservativer sein, um den Wahrheitsgehalt mancher linker/konservativer Positionen zu erkennen. Schirrmacher war wohl so einer, der in diese Dichotomie nie richtig hinein gepasst hat.

Die Bedeutung des Internet zu erkennen, heißt nicht automatisch, seine gesamte Umgebung auf diese Einsicht verpflichten zu können. Zu der Zeit, zu der Schirrmacher seine Konversion vollzog, stand er damit gegen den Mainstream der Zeitungsverleger. Die FAZ als Ganzes ist erst später auf den fahrenden Zug gesprungen.

Maglor
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Mo 16. Jun 2014, 21:00 - Beitrag #5

Ab einem gewissen Grad ist es egal, was man schreibt, es wird so oder so zum Bestseller.
Er war vielleicht ein Leitwolf des Feuilletonismus, der sich den Luxus leisten konnte, selbst zu denken oder wenigstens so zu tun.

janw
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Do 19. Jun 2014, 01:26 - Beitrag #6

Vielleicht hatte Schirrmachers Hinwendung zum Netz etwas mit seiner Vermarktungsstrategie zu tun:
Vielen aus seiner Branche erschien das Netz nicht allein aus Neuigkeitsgründen als reines Zeitgeistphänomen und als solches weder als Informationsquelle noch als Marktkonkurrenz ernst zu nehmen, sondern aufgrund der sich dort ebenfalls tummelnden Subkulturen als halbseiden, nicht einem selbst verstandenen "Qualitätsmedium" angemessen.
Schirrmacher hatte keine Probleme damit, sich bei der Vermarktung seiner Bücher auch niederrangiger Massenmedien aus dem Springer-Imperium zu bedienen.


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