Die schlimmste Dystopie

Literatur und Medien, die die Grenzen der bekannten Welt sprengen - die Zukunft der Menschheit und ihre Abenteuer in fantastischen Welten.
Traitor
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Di 22. Jun 2004, 15:21 - Beitrag #1

Die schlimmste Dystopie

Ich habe mich gerade mal wieder durch einige alte Dystopien-Threads gewühlt (u.a. "Glück oder Freiheit" ). Dabei kam immer wieder die Frage auf, welche Dystopie schlimmer oder "tiefgehender" ist: 1984 oder Brave New World.

Häufig wird gesagt, BNW wäre auf den zweiten Blick die schlimmere der Dystopien, da bei 1984 die Menschen nur unterdrückt werden, aber ihren Willen tief innen doch behalten, während sie bei BNW so manipuliert sind, dass sie zu keiner Freiheit mehr in der Lage sind.

Dem möchte ich widersprechen. 1984 ist eine Welt im Werden, BNW ein Endzustand. Der Blick, den wir in die Welt von 1984 haben, ist einer in einen noch frühen Zustand dieser Diktatur. Schon jetzt ist freies Denken kaum noch möglich, da die Überwachung so weit geht, dass jeder, der dies tut, vernichtet wird.
Aber das entscheidende sind die Pläne der Regierung für die Zukunft. Mithilfe der Gleichschaltung der Sprache durch Newspeak, der Vernichtung der Vergangenheit durch deren "Rektifizierung" und dem generationenlangen Halten der Menschen in einer überarbeitenden, reizarmen Umgebung strebt sie an, den Menschen ebenso freiheitsunfähig zu machen wie in BNW.
Und zwar mit IMHO subtileren Mitteln - während er dort genetisch manipuliert wird, das ganze sich also als ein äußerer Eingriff deuten lässt, werden hier rein psychologische und soziologische Methoden angewandt. Indem den Menschen die Möglichkeit zu einer intelektuellen Ausdrucksweise genommen wird und jede Möglichkeit zur Entfaltung fehlt, wird der Mensch ebenso intelektuell verkrüppelt, aber aus "normalem" Leben heraus.

Deshalb denke ich, dass sozusagen auf den dritten Blick 1984 doch wieder schlimmer ist als BNW. Denn es zeigt Möglichkeiten, die sich graduell einführen ließen und die bei weitem keinen so radikalen Umbruch der Gesellschaft voraussetzen wie BNW, das stärker ein reines Gedankenexperiment bleibt.

Noriko
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Di 22. Jun 2004, 16:34 - Beitrag #2

ich entscheide mich Für die dritte ;)
Fahrenheit 451
Kennen tuen es sicher Viele:
In F451 werden bücher verboten und verbrannt, und somit wissen im grunde utnerdrückt.
Aber das so übermäsig schlimme an F451 finde ich ja nichtmal das verbrennen der Bücher und die konsequente Verdummung der Menschen (sehr fragwurdiger "fakten" unterricht ohne vertiefung oder refelktion, 50% der schule sind Sport) sondern die tatsache das die Menschen eine Übermassig gesteigerte Agression entwickelt haben, welche wohl auch zum teil aus ebendieser systematischen Elemienierung der Intelligenz resultiert, und diese rauslassen durch reine Zerstörungswut und tötungsgier und das es niemanden kümmert solange man versichert ist.

Ausserdem gibt es in dem Sinne keinen totalitären Staat der die Menshen unterdrückt, unmittelbar unterdrückt einen die anderen Menschen, indem sie alles was nciht in das bild bassen als "A-sozial" abstempeln und somit einen in die geselslchaft hineinzwängen durch anpassung und fremdzwänge, welche sich zu selbstzwängen ändern.

Traitor
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Di 22. Jun 2004, 16:42 - Beitrag #3

Fahrenheit hatte ich mal bewusst außen vor gelassen, da es allgemein als noch die harmloseste der großen Drei angesehen wird. Wie ich dazu im entsprechenden Thread geschrieben habe, teile ich diese Meinung: BNW und 1984 haben etwas finales. Die Welt ist in einem Zustand perfekter Unterdrückung angekommen (oder entwickelt sich von ausreichender Unterdrückung noch weiter), es gibt keine Hoffnung mehr, daran etwas zu ändern. In Fahrenheit ist das anders, die Gesellschaft hat noch genug mit unserer zu tun, um prinzipiell die Chance der Selbstheilung in sich zu tragen, und das Ende weckt eindeutiger die Hoffnung, dass diese Gesellschaft sich selbst zerstört und man eine neue alte nach ihr errichten kann.

PS: Was Fahrenheit auch fehlt, ist die komplette Umgestaltung des Menschen. Es ist eher eine Fortschreibung unserer gegenwärtigen Entwicklungen. Deshalb hat es vermutlich den höchsten Realitätsbezug, ist aber für mich nicht so fundamental erschreckend.

Noriko
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Di 22. Jun 2004, 17:05 - Beitrag #4

Es kommt wohl ganz auf den Betrachtungspunkt an.
Was ich bei weiterem nachdenken besonders schlimm an F451 finde, ist das es keinen klaren "Feind" gibt, wie in 1984 z.b.
Die Gesellschaft Formt sich selbst, es ist ein grosser dezivilisationsprozess der sich selbstaufrecht erhält und den man nicht aufhalten kann in dem man irgendwen stürzt.
BNV und 1984 zeugen von vollkommener Unterdrückung des einzelnen durch ein Totalitäre Regime, was zweifelsohne eine erschreckende vorsellung ist, aber F451 zeichnet einen Teufelskreis der verdummung:
Die Verdummung führt zu ungelaublicher Agression, welche zu weiteren Agressionen führen kann, aufgrund von selbstjustitz.
Keiner kümmerrt sich um desorientierte Jugendlche welche nur für den Moment des adrenalins leben und für dieses töten udn getötet werden.
So stirbt nicht nur eine spätere Generation schon von vornerein fast aus, sondern die wenigen die überbleiben sind selektiv diejenigen die besonders brutal waren und sich somit durchsetzen konnten.
Mit dieser Elterngeneration ist nur weitere Dummheit gefördert welche wieder zu ungebremster Agresson führt, da besagte Elterngeneration die "Überwacher" sind, denen alle egal ist, solange es Versicherungen gibt.

Shockk
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Di 22. Jun 2004, 22:05 - Beitrag #5

Brave New World oder 1984 ... Gute Frage.

Ich finde den Ansatz 1984 = Entwicklung und BNW = Endzustand gut, aber er sollte nicht alleiniger Interpretationsansatz sein. Denn beide Dystopien laufen im Ende auf eine Auswegslosigkeit hinaus. In beiden sterben die "Helden", in beiden haben die Menschen als freie Individuen keinerlei Bedeutung mehr (bzw. existieren nicht mehr). Was 1984 angeht, so gebe ich dir recht - allzu lange würde es in diesem Szenario nicht mehr dauern, und es wäre vorbei, alle Menschen wären Marionetten und alles wäre kontrolliert. In BNW ist dies bereits der Fall.

Für mich ist keine der beiden schlimmer als die andere - sie sind gleich tragisch. Die Menschen in 1984 haben vielleicht noch ein wenig zu leiden bevor sie willenlos sind - aber die Willenlosigkeit in BNW ist m.E. schon leid genug.

@ Noriko - Fahrenheit spielt u.A. nicht auf dem selben Level mit, weil dort Hoffnung suggeriert wird. Der Held überlebt, er findet Gleichgesinnte, und vor allem - der Krieg, der am Rande verläuft, beschreibt höchstwahrscheinlich das Ende der Gesellschaft, in der Guy Montag bis dato gelebt hat.

Traitor
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Fr 25. Jun 2004, 00:42 - Beitrag #6

@Noriko: Ja, das sind Dinge, die Fahrenheit auf erschreckende Weise zeigt. Aber es sind eben Dinge, die wir aus der Realität in schwächerer Form deutlich eher kennen als das, was uns 1984 zeigt. In 1984 wird der Mensch vollkommen zugrundegerichtet, ohne eine Möglichkeit, sich zu wehren, egal was er tut. In Fahrenheit ist es ein langsamer Verfall, der zwar ohne klaren Feind stattfindet, aber deshalb auch wiederum weniger unaufhaltsam ist. Denn der engagierte Einzelne kann sich ihm entziehen.

Irgendwie finde ich es immer wieder interessant, dass Diskussionen über die Dystopien stark die Tendenz zum im Sande verlaufen aufweisen. Man kommt höchstens noch zu einer Diskussion, wenn man sie vergleicht, aber auch die ist ja ein bisschen künstlich. Anscheinend zeigen diese Werke dem Leser eine so fundamentale Wahrheit, dass man sie kaum unterschiedlich verstehen kann...

Maurice
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Sa 3. Jul 2004, 15:15 - Beitrag #7

BNW - die unvollkommene Utopie

Der Thread wäre auch in der Philosophie gut aufgehoben und da würde er wahrscheinlich auch ein stärkeres Feedback bekommen.

Also ich kenne F451 leider nur vom hören, das Buch bzw. den Film muss ich mir auch unbedingt noch anschauen. 1984 und BNW kenne ich aber. :)
Komisch, dass ich fast immer der einzige bin, der BNW nicht als Dystopie ansieht. Für mich ist BNW im großen und ganzen eine positive Utopie, mit ein paar Schöhnheitsfehlern. Was mich am meisten stört ist, dass Fortschritt nur noch in sehr engen Bahnen betrieben wird, um bloß nicht zuviele Neuerungen zu entwickeln, die das System verändern könnte. Das Prinzip "änder kein System, das funktioniert" ist hier imo pervertiert. Eine Menschheit voller interlektuell, aufgeklärter Individuun wäre mir zwar lieber als diese Konsum-Junkies in BNW, aber wenn Utopie heißt eine bessere Weltvorstellung als die Realität, dann ist BNW dies trotzdem auf jeden Fall. Hätte ich die Möglichkeit zu entscheiden in welcher Welt ich leben könnte, in dieser oder in BNW würde ich eindeutig BNW vorziehen. Kein Krieg, keine Gewalt, Konflikte auf ein Minimum reduziert, keine Krankheiten, Ordnung und eine glückliche Menschheit, was will man mehr? Dafür würde ich meine Individualität jeder Zeit hergeben.
Es ist für mich nicht eine perfekte Utopie, aber eine weit bessere Welt, als die unsere. Das einzige, was ich mich in Bezug auf die Utopie frage ist, warum die Menschen dort überhaupt noch Emotionen haben, sie spielen dort ja keine Rolle mehr, weil ja alle happy sind, weil sie Soma schlucken. Würde man sie nach ihrer Individualität auch noch von ihren Emotionen befreien, könnte man sich diesen ganzen Luxus in BNW sparen. Aber wenn Huxley sich BNW so vorgestellt hätte, hätte er eine andere Story schreiben müssen. :D

Zu 1984 braucht man denke ich nicht viel zu sagen, entspricht dies doch sehr gut einem Kommunismus, wie wir ihn in der UdSSR gesehen haben zusammen mit der fast perfekten Überwachung des Menschens auf die ganze Welt übertragen. Die Balance of Power, die für den Erhalt der drei identischen Systeme notwenig ist, steht immer auf Messersschneide und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis das Gleichgewicht kippt, und das statt diesen ständigen Psyeudo-Krieg ein erbarmungsloser ausbricht.
1984 und BNW als ähnlich schlimm darzustellen kann ich nur schwer nachvollziehen. In 1984 leidet der Großteil der Menschen, in BNW dagegen ist (fast) jeder glücklich. Allein von dem Gesichtspunkt aus sollte für jeden, wenn er sich zwischen einer der beiden Systeme entscheiden müsste, BNW klar im Forteil sein.

Noriko
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Sa 3. Jul 2004, 15:32 - Beitrag #8

Ich würde niemals in der welt von BNW leben wollen, ich fände es abscheulich, zumindest von hier aus gesehen, denn wäre ich ein Teil davon, würde ich es ja nicht merken.
Ich würde entsprechend lieber in unserer Welt leben als in einer "Schönen neuen", aber lieber in dieser als 1984, denn dann merke ich meine Unfreiheit wenigstens nicht.

Doch ist dies nicht weiter als die alte farge "Glück oder Freiheit", ausgegraben aus den untiefen des Philo-Forums.

Maurice
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Sa 3. Jul 2004, 15:40 - Beitrag #9

Und um kurz nochmal auf die Frage einzugehen: Sich für die Freiheit statt des Glücks zu entscheiden halte ich für in höchsten Maße irrational.

Traitor
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So 4. Jul 2004, 18:36 - Beitrag #10

Ich habe den Thread ganz bewusst in dieses Forum gestellt, da ich eben nicht philosophisch diskutieren will, wie lebenswert so eine Welt wäre - dazu gibt es eben den alten Thread. Hier soll es eher um die literarisch-konzeptorische Ausgefeiltheit der Konzepte gehen. Darein spielt die Philosophie bei so komplexen Werken natürlich mit hinein, ich würde sie hier aber eher als Erklärungsmuster denn als Diskussionsziel betrachten.

Dass die BoP in 1984 kurz vor dem Scheitern steht, würde ja gerade dafür sprechen, dass die Sache nicht so schlimm ist, wie man denkt. Denn das würde ja bedeuten, dass ähnlich wie in Fahrenheit ein großer Umbruch bevorsteht - denn ein fortschreitender Weltkrieg würde einen Umbruch bewirken. Daraus muss natürlich nicht zwangsläufig eine bessere Zukunft entstehen, aber es ist eine Veränderung und eine Möglichkeit der Verbesserung in der Zukunft.
Dagegen ist die zentrale Schreckensbotschaft des Werkes ja gar nicht, wie schlecht die Leute leben. Sondern die völlige Aussichtslosigkeit ihrer Situation, der Verlust von Vergangenheit und Zukunft, durch den sie langfristig auf einen tierartigen Status zurücksinken. Gäbe es Hoffnung auf Veränderung in der Zukunft, wäre dies nicht mehr so radikal.
Und BigBrother und seine beiden Kollegen werden sicherlich miteinander in Kontakt stehen und dafür sorgen, dass der Krieg stets ausgeglichen bleibt. Denn seine Funktion ist ja nicht, Gebiet zu gewinnen, sondern Material zu vernichten, wie es im Buch (iirc im Buch im Buch, also dem von Goldstein) explizit erklärt wird: nur durch Krieg kann man die Produktion der riesigen Volkswirtschaft wieder vernichten, so dass der Lebensstandard nicht steigt.


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