Ich habe mich gerade mal wieder durch einige alte Dystopien-Threads gewühlt (u.a. "Glück oder Freiheit" ). Dabei kam immer wieder die Frage auf, welche Dystopie schlimmer oder "tiefgehender" ist: 1984 oder Brave New World.
Häufig wird gesagt, BNW wäre auf den zweiten Blick die schlimmere der Dystopien, da bei 1984 die Menschen nur unterdrückt werden, aber ihren Willen tief innen doch behalten, während sie bei BNW so manipuliert sind, dass sie zu keiner Freiheit mehr in der Lage sind.
Dem möchte ich widersprechen. 1984 ist eine Welt im Werden, BNW ein Endzustand. Der Blick, den wir in die Welt von 1984 haben, ist einer in einen noch frühen Zustand dieser Diktatur. Schon jetzt ist freies Denken kaum noch möglich, da die Überwachung so weit geht, dass jeder, der dies tut, vernichtet wird.
Aber das entscheidende sind die Pläne der Regierung für die Zukunft. Mithilfe der Gleichschaltung der Sprache durch Newspeak, der Vernichtung der Vergangenheit durch deren "Rektifizierung" und dem generationenlangen Halten der Menschen in einer überarbeitenden, reizarmen Umgebung strebt sie an, den Menschen ebenso freiheitsunfähig zu machen wie in BNW.
Und zwar mit IMHO subtileren Mitteln - während er dort genetisch manipuliert wird, das ganze sich also als ein äußerer Eingriff deuten lässt, werden hier rein psychologische und soziologische Methoden angewandt. Indem den Menschen die Möglichkeit zu einer intelektuellen Ausdrucksweise genommen wird und jede Möglichkeit zur Entfaltung fehlt, wird der Mensch ebenso intelektuell verkrüppelt, aber aus "normalem" Leben heraus.
Deshalb denke ich, dass sozusagen auf den dritten Blick 1984 doch wieder schlimmer ist als BNW. Denn es zeigt Möglichkeiten, die sich graduell einführen ließen und die bei weitem keinen so radikalen Umbruch der Gesellschaft voraussetzen wie BNW, das stärker ein reines Gedankenexperiment bleibt.