Zweck der klassischen Komposition

Diskussionen zu allen Musikrichtungen und Künstlern, von der Klassik bis zu den aktuellen Charts.
janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Sa 4. Feb 2006, 02:43 - Beitrag #1

Zweck der klassischen Komposition

Gerade sah ich im Fernsehen eine Darbietung eines Cello-Stücks von Bach. Der Cellist stellte dem ein paar einführende Worte voran, in denen er auf die Charakteristik des Stücks und auf den Zweck der Komposition per se einging.
Tenor war, daß Bach überwiegend für Aufträge komponierte, ebenso Mozart und andere, Beethoven sei der erste freie Komponist gewesen, der seine Stücke Verlegern anbot.
Mir fielen dann Bachs Kaffeekantate und die Bauernkantate ein, die IMHO wohl kaum Auftragsarbeiten gewesen sein können.

Deshalb meine Frage: Stimmt das, was der Cellist erzählt hat, absolut, oder findet sich freie Kompositionsarbeit auch schon bei Komponisten vor Beethoven? Und wenn in welchem Umfang?

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Sa 4. Feb 2006, 03:02 - Beitrag #2

Er sagte "überwiegend", und für eine große Anzahl von Komponisten stimmt das so auch. Wobei man auch Bachs geistliche Kantatenzyklen zu den Auftragswerken zählen muß, da sie Teil seiner Dienstpflicht waren. Die Bauernkantate entstand zum Geburtstag eines sächsischen Hofbeamten, für die Kaffeekantate weiß ich es nicht, würde aber einen ähnlichen Anlaß annehmen. Dagegen hatten etwa die letzten Sätze der h-Moll-Messe oder die "Kunst der Fuge" mW keinen Auftraggeber oder Anlaß.

Aber wohl kaum ein Musiker hat ausschließlich Auftragswerke geschrieben, es fiel immer etwas nebenbei ab. Dazu kommen die komponierenden Fürsten (etwa diverse Esterházys, Friedrich der Große oder der von mir so geschätzte Carlo Gesualdo, Principe de Venosa), für die Komposition Zeitvertreib oder Ausdruck des Innersten war, aber nicht dem Lebensunterhalt diente, im Gegenteil von Macht und Ansehen des Komponisten profitierte, z.T. dank des Namens als abschreibewürdig betrachtet wurde.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Sa 4. Feb 2006, 13:57 - Beitrag #3

Gut, damit ist es mir schon deutlich klarer geworden. :)
Dann hatten also die Esterhazys quasi Komposition als Hobby...bzw. es war gerade eben nicht Hobby, weil eben nur wenige Privilegierte ein Hobby haben konnten.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
So 5. Feb 2006, 14:04 - Beitrag #4

wobei, wenn wir noch weiter zurückgehen, ins Mittelalter, wird es wieder fraglich - ich kann mir Leonin, Perotin, Josquin und wie sie alle heißen, nicht wirklich dabei vorstellen, wie sie aus reiner Freude an der Musik komponieren. Auch die Strenge der Mensuralnotation steht dem ein bißchen entgegen.

Feuerkopf
Moderatorin
Moderatorin

Benutzeravatar
 
Beiträge: 5707
Registriert: 30.12.2000
So 5. Feb 2006, 15:03 - Beitrag #5

Ein kleiner Schlenker zur Malerei:
Ohne die Auftragsmalereien hätten die berühmten Maler gar nicht existieren können. Sie unterhielten z. T. professionelle Werkstätten und machten für manches berühmte Werk lediglich Entwurf und Produktionsüberwachung.
Hätte Van Gogh nicht seinen Bruder gehabt, hätte er kein Geld für Leinwand und Farbe gehabt.

Erst ein aufgeklärteres Mäzenatentum und die Entwicklung eines wohlhabenden Bürgertums hat überhaupt so etwas wie einen Markt entstehen lassen, auf dem auch Bilder oder Musik abseits des Mainstreams eine Chance hatten.

Oder irre ich mich? Ist doch im Prinzip heute nicht viel anders.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
So 5. Feb 2006, 22:57 - Beitrag #6

Doch, genau, Feuerkopf, die Erscheinungen in der Malerei (und bedingt sogar Literatur) sind dem sehr vergleichbar. Das bürgerliche Mäzenatentum hat eine entscheidende Rolle dabei gespielt; dazu kam ein weiter gestärkter Geniebegriff und -kult, der es allmählich Leuten ermöglichte, von ihrem Talent zu leben, ohne ständig nur die Erwartungen ihrer Auftraggeber erfüllen zu müssen.

Ipsissimus, es gibt doch auch (z.B. im 'Roman de Fauvel') genügend Aufzeichnungen mittelalterlicher Trinklieder, Tänze, weltliche Chorsätze etc. in mensuraler Notation - jedenfalls erstere sind wohl kaum Auftragswerke... Und von Francesco Landini gibt es z.B. ein Madrigal "Musica son io", Ausdruck der Lebensfreude und Musikliebe um der Musik willen beim Urheber unserer berühmten Klausel.^^

Bei den Komponisten von Madrigalen (etwa Orlando di Lasso, Palestrina, Byrd, Morley) entwickelte sich auch ein erster Ansatz zur Selbständigkeit des Musikers als Selbstvermarkter seiner geistigen Leistung: Durch den Druck der Madrigalbücher, die sich bereits ab den 1530ern schnell über ganz Europa verbreiteten, zum Teil mehrere Auflagen erlebten und in ihrer Zusammenstellung ebenso wie inhaltlich und musikalisch dem Komponisten neue Freiräume gewährten.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Mo 6. Feb 2006, 15:42 - Beitrag #7

es war ja auch nur als Tendenz gemeint, Lykurg

aber allgemein glaube ich schon feststellen zu können, daß die Künstler, Musiker wie Maler, früherer Zeiten von ihrem Selbstverständnis her eher Kunsthandwerker denn Künstler waren - zu Künstlern wurden sie erst durch den im frühen 19ten Jahrhundert aufkommenden Geniegedanken. Es mag da schon vorkommen, daß so ein Kunsthandwerker aus Gründen der Technikschulung einen doppelten Kontrapunkt in Augmentation und Spiegelung gesetzt hat, aber rein zum Selbstzweck? Mag vorgekommen sein, kostet aber eigentlich zuviel Mühe, um so was "nur so" zu machen.

Ich habe zum Roman de Fauvel eigentlich alles wieder vergessen; daß er 5 Motetten Vitrys enthält und eine Persiflage auf den Sittenverfall der Zeit ist, weiß ich gerade noch so eben. Wie ist es mit den anderen Stücken, er ist ja ein Kompilat der Musik des 13/14ten JH? Ganz dunkel erinnere ich mich noch, daß da ziemlich viel anonymus-Zeug drin ist, oder hat man da in den letzten 15 Jahren neue Erkenntnisse hinsichtlich der Urheber der Stücke?

Inwieweit Trinklieder und anderes "Volkstümliche" in dieser Zeit überhaupt "komponiert" waren oder einfach nur für bestimmte Zwecke "gesetzt" wurden, wäre auch noch zu prüfen

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 6. Feb 2006, 16:10 - Beitrag #8

Zum Selbstverständnis als Kunsthandwerker stimme ich dir weitestgehend zu, Ipsissimus, allerdings nur, weil die Trennung zwischen Kunst und Kunsthandwerk an sich mE modern ist, und die historische Gesellschaftsposition wohl dem Kunsthandwerker näher steht. Die Wertigkeit unterschiedlicher Kunstformen (Paradebeispiel: Architektur, wer erbaute den Dom von Chartres?^^) hat sich stark verschoben (auch in der anderen Richtung: von vielen griechischen Vasen kennen wir den Namen des Töpfers, aber nicht den des Malers), was aber nicht bedeuten muß, daß man etwas weit unter seinen künstlerischen Möglichkeiten gemacht hätte, weil es zum Gebrauchsgegenstand bestimmt war.

Ja, die kleineren Stücke sind überproportional anonym, aber trotzdem nicht zwangsläufig unbedeutend, mir ist ein Proportionalkanon (?) aus dem Roman de Fauvel vage im Gedächtnis geblieben (ziemlich am Schluß, auf den Text eines Trinkliedes), der gar nicht schlecht gestrickt war. - Die Unterscheidung "Satz" und "Komposition" finde ich nun wirklich schwierig, gerade, wenn wir im strengen Kontrapunkt denken; einen anständigen Josquin-Satz kann ich schließlich auch schreiben. Ist das jetzt eine Komposition? Ja: Zusammengesetztes!^^ Aber ich glaube nicht, daß man eine solche Trennung, wenn man sie denn aufstellen will, entlang einer Gattungsgrenze orientieren dürfte - dann braucht nur einmal eine Parodie dazwischen zu hocken, und wir haben ein verdoppeltes Problem!

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Mo 6. Feb 2006, 16:59 - Beitrag #9

letzteres sehe ich auch so; ich meinte damit jedoch eher, daß die volkstümliche Musik^^ zu allen Zeiten existierte, ohne daß ihre Melodien auf explizite Erfindung zurückführbar wären; komponierte Volkslieder sind auch erst im frühen 19ten Jahrhundert aufgekommen. Insofern wäre die Frage bei den anonymus-Sätzen des Roman de Fauvel, ob ihre Themen nicht Allgemeingut waren, um dann z.B. für diesen Roman in zwei- oder mehrstimmigen Satz gesetzt zu werden

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 6. Feb 2006, 17:04 - Beitrag #10

Achso, ja, das kann natürlich sein. Auch dann ist es zwar eine gewisse künstlerische Leistung, einen Satz daraus zu machen, aber das sollte auch der heutige C-Musiker beherrschen.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Mo 6. Feb 2006, 19:29 - Beitrag #11

Kann es vielleicht sein, daß der Schritt zum Kunstschaffer - sei es auch als Handwerker - etwas mit der Entwicklung eines Selbst-Verwirklichungsgedankens zu tun hat?
Die altägyptischen Steinbehauer, Töpfer, Maler kennen wir iirc nicht mit Namen, sie wirkten nach ihrem Selbstverständnis nur für das Wohl und Seelenheil der Auftraggeber, ebenso vielleicht einige der griechischen Tempelbauer und die Dombaumeister - ad maiorem dei gloriam, nicht zum Zwecke der eigenen Daseinsmanifestation.

Bei den Steinmetzen muss das schon anders gewesen sein, man nimmt an, daß sie in den Gesichtern von Wasserspeiern teilweise sich selbst darstellten.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 7. Feb 2006, 14:42 - Beitrag #12

Selbstverwirklichung als Selbstzweck und "Wert an sich" ist eine recht moderne "Erfindung" - vor der Renaissancezeit ziemlich sicher undenkbar und erst mit der beginnenden Romantik und der Industrialisierung wird der Zug allmählich schneller - von daher denke ich eher nicht

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Di 7. Feb 2006, 20:40 - Beitrag #13

Selbstverwirklichung in dem Sinne sicher, ja. Was ich meinte, war eine Identifikation des Kunstschaffers mit seinem Werk, die ihn dazu bringt, sich selbst namentlich damit in Verbindung zu bringen, aus der Anonymität hervorzutreten. Wie soll ich es nennen...Ich-Verwirklichung?

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
Mi 15. Mär 2006, 15:48 - Beitrag #14

Irgendwann hab ich das hier mal aufgeschnappt: Die Mozarts waren damals sowas wie die Kelly-Family. Der Vater ist meinen hochbegabten Kinder Wolfgang Amadeus und Anna-Maria durch ganz Europa getingelt und hat sie dort präsentiert und dabei einen ganzen Batzen Geld einkassiert.
Toll.
MfG Maglor

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Do 16. Mär 2006, 09:03 - Beitrag #15

Ja, wobei Leopold Mozarts Rolle dabei in der heutigen Musikwissenschaft auch positiv gesehen wird. Auch aus seiner Sicht war es wohl mit das Beste, was er für seinen Sohn tun konnte. Natürlich war das ein Dauerstreß, hat wohl zu Wolfgangs schwächlicher Konstitution (-> frühes Ableben) beigetragen und ihn zu dem absonderlichen Wesen gemacht, das er war. Aber gerade das wollen wir doch nicht missen^^ - jedenfalls geriet er durch diese Reisen auch in Kontakt mit den verschiedensten musikalischen Strömungen (und Persönlichkeiten) seiner Zeit, ob Italien, England, Frankreich, Deutschland (insbesondere Mannheim) - ohne das Getingel wäre sicherlich ein anderer Mozart aus ihm geworden. Ein besserer? Wohl kaum.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Do 16. Mär 2006, 13:03 - Beitrag #16

wobei die Frage, allgemeiner gestellt, natürlich wäre, ob die Menschheit einen Anspruch darauf hat, von ihren Genies beliefert zu werden, auch wenn diese sich dabei verzehren und/oder zu Monstern werden^^

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Do 16. Mär 2006, 13:37 - Beitrag #17

Ipsi, sicher...aber wie biegt man es den Genies bei, daß man sie auch ohne Allüren gerne hat?

Ich denke, man muss schon sehen, daß ohne aktive Reiserei Mozart bei dem damaligen Informationsfluß ein genialer Bereicherer der Salzburger und Wiener Musikszene mit "Bordmitteln" gewesen wäre, aber keinen wirklichen Anschluß an die damalige Entwicklung diverser europäischer Strömungen gehabt hätte.
Die aber letztlich erst die wirkliche Inspiration für neues liefern konnten.

So wurde er u.a. zu einem Halb-Sohn Mannheims, glücklicherweise ohne etwas mit dem Gestöhne Späterer zu tun zu haben.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Do 16. Mär 2006, 14:43 - Beitrag #18

na ja, ob der Einfluss der euopäischen Szene auf Mozart wirklich so groß war, ist mir noch ein bißchen fraglich. Er hat sicher auf diese Weise den Geschmack der Zeit wesentlich besser kennengelernt als es in Salzburg je möglich gewesen wäre, aber daß er allzuviel für den musikalischen Rokoko getan hätte, kann man nicht gerade behaupten^^

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 25. Apr 2006, 10:43 - Beitrag #19

Ich war vorletzte Woche in seiner "Schuldigkeit des ersten Gebots" (KV 35), die vor seiner Italienreise entstand. Der Klang war zwar schon eindeutig mozartig, aber der gesamte Rahmen noch so weit dem Barock verhaftet, daß ich mich nur wundern konnte. Dabei spielt sicher mit hinein, daß die Entstehung als erzbischöfliches Auftragswerk oratorischen Zuschnitts (wenn auch ohne Chor) diese Form begünstigte - aber so viele Secco-Rezitative hatte ich beim Wolferl bisher noch nicht gehört^^ - gut, daß er in den Arien darüber (und über das bis dahin typische) auch hinausging.

Ich vermute, daß die Berührung mit dem Rokoko und den Empfindsamen ihm längerfristig eher geholfen hat, zu sehen, wohin er - und mit ihm die Musikgeschichte - nicht wollte. Allerdings wäre das noch gründlicher zu untersuchen.^^

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Di 25. Apr 2006, 11:27 - Beitrag #20

Kurze Zwischenfrage: Du nennst im Zusammenhang mit dem Rokoko die Empfindsamen und sagst dann, daß die Musikgeschichte "da nicht hin wollte".
Ist das eine Beschreibung der historischen Entwicklung, oder liegt der Aussage eine Wertung zugrunde ?

Nächste

Zurück zu Musik

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 7 Gäste

cron