Tonsysteme

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janw
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Sa 7. Apr 2007, 13:49 - Beitrag #1

Tonsysteme

Alles mal in der Schule gehabt irgendwann...und seitdem immer nur mit dem einen Tonsystem gearbeitet, das in der Stimmung des Klaviers manifestiert ist...und den Rest vergessen.
Daher jetzt an dieser Stelle mal einige Fragen zum Tonleitersystem.
Unsere Tonleiter umfasst 8 Töne - wie der Name Oktave schon sagt - und dementsprechend 7 Intervalle dazwischen.
Warum eigentlich hat sich in Europa diese Aufteilung des Klangspektrums ergeben und wann? Warum nicht eine gleichteilige - bzw. wie würde die klingen?

Traitor
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So 8. Apr 2007, 12:20 - Beitrag #2

Zur Eröffnung ein kurzer Gedanke vom Physiker und Musikbanausen: Eine Oktave ist als Verdopplung der Frequenz definiert, der Faktor 2 ist das naheliegendste ganzzahlige Verhältnis, die Oktave ist also die sich natürlich anbietende Wahl des Grundintervalls.
Zu ihrer weiteren Aufteilung und den Konkurrenzsystemen überlasse ich anderen das Feld.

Lykurg
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So 8. Apr 2007, 13:34 - Beitrag #3

Wir sollten Tonleiter/Tonart und Tonhöhe/Stimmung säuberlich auseinanderhalten.

* Zur Stimmung:


Traitor hat natürlich recht, die entscheidende Ergänzung dazu ist aber die (reine) Quinte (Schwingungsverhältnis 3:2 -> [size=84]a' hat 440 Hz, e'' 660 Hz[/size]). Durch Auftürmung von Quinten, also jeweils Veranderthalbfachung der Frequenz, erreicht man alle Töne:

As -> Es -> B -> F -> C -> G -> D -> A -> E -> H -> Fis -> Cis

Das ist der Witz der pythagoreischen Stimmung.

Allerdings stellt man, o Graus, dann fest, daß das logischerweise auf Cis folgende Gis nicht dem As entspricht, von dem man hier ausgegangen war - es ergibt sich das sogenannte pythagoreische Komma, es klingt ziemlich fies:

(3/2)^12 {zwölf Quinten rauf} /2^6 {sechs Oktaven runter} = 1,0136... != 1 {es sollte ja derselbe Ton sein}

Außerdem sollte eine rein gestimmte große Terz das Frequenzverhältnis 5:4 haben - das paßt aber ebenfalls nicht:

1,5^4 {vier Quinten rauf} /4 {zwei Oktaven runter} = 1,265625 != 1,25 {die reine große Terz}

Europäische Stimmungen seit Anfang "unserer" Musikgeschichte bemühen sich darum, aus diesem "Fehler" das beste zu machen.
Wenn man ohne Instrument singt (und die Töne trifft, die man treffen will^^), singt man meistens reine Intervalle - jeweils aufeinander bezogen. Ein guter Musiker wird allerdings hören, wenn man sich durch ständiges Singen mit einem Instrument an dessen nicht reine Stimmung anpaßt und sie auch beibehält, wenn es nicht mitspielt. Streicher können sich in der Stimmung anpassen (bzw. tun es von selbst), viele Blasinstrumente auch (besonders gut etwa Posaunen); andere sind auf eine Stimmung fixiert (insbesondere Tasteninstrumente).

Hier hat der Stimmer eine Entscheidung zu treffen, wie er den "Fehler" verteilt. Dafür haben sich insbesondere im Barock eine ganze Reihe von Stimmungssystemen entwickelt. Meist hatte man versucht, die weißen Tasten besonders "gut" zu stimmen und die weniger verwendeten schwarzen Tasten weniger gut, mit dem Ergebnis, daß abgelegenere Tonarten (mit vielen Vorzeichen) praktisch nicht spielbar waren.

Sehr eindrucksvoll finde ich dieses Beispiel von Kadenzen in C-Dur und Des-Dur in mitteltöniger Stimmung, das ich in Wiki fand.

Die neuen Kompromißlösungen inspirierten etwa Bach dazu, mit dem Wohltemperierten Clavier auch alle die Tonarten mal auszuprobieren, die vorher grausig klangen - und auch dann noch nicht wirklich ideal, sondern eben ihren eigenen Charakter hatten. Diese Tonartencharakteristik führte auch dazu, daß bestimmte Komponisten bestimmte Tonarten massiv bevorzugten und für ihre Stücke gern verwendeten (z.B. Mozart A-Dur, Schubert oft F-Dur).

Im 19. Jahrhundert setzte sich dann die gleichstufige Temperatur durch, die jedem Halbtonschritt das Schwingungsverhältnis 12√2 zuweist, wodurch alle Tonarten genau gleich gut und gleich schlecht klingen.
Davon wieder abzuweichen, ist eine Spezialität der Alte-Musik-Bewegung und des historisierenden Orgelbaus.

Der Abschnitt zur Tonleiter folgt nach dem Essen. ;)


Lykurg
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So 8. Apr 2007, 17:08 - Beitrag #4

* Zur Tonleiter

Mit dem oben beschriebenen Tonmaterial (ähnlich, aber nicht genau entsprechend übrigens der Naturtonreihe, auf die ich nicht weiter eingehen will, es sei denn, es würde danach gefragt) kann man eine Reihe von Tonleitern zusammenbasteln - und quer durch die Kulturen wurde das auch gemacht. Natürlich haben Völker, die sich eines anderen Tonvorrats bedienten, etwa die Inder mit ihren 22 Shrutis (~Vierteltönen), ganz andere Lösungen finden müssen, aber das ist nun wirklich nicht mein Gebiet.

Ein archaisches Musiksystem, das sich insbesondere in Ostasien, aber auch etwa in deutschen Kinderliedern (wie "Backe, backe Kuchen") gehalten hat, ist die Pentatonik, die mit Ganzton- und Anderthalbtonschritten auskommt. Das greifbarste Beispiel sind (alle) schwarzen Tasten des Klaviers, aber auch etwa CDE-GA. Das Schöne an Pentatonik: Alles paßt zu allem. Der Nachteil: Das kann schnell langweilig werden.^^

In der mittelalterlichen Gregorianik dominierte das Denken in Hexachorden aus drei Ganztonschritten, einem Halbtonschritt, drei Ganztonschritten. Warum? Weil es gut klang und in sich konsistent war. Außerdem war Drei immer gut.
Man benutzte also im Wesentlichen
CDEFGA
FGABCD
GAHCDE
Die Unterstreichung verdeutlicht den Halbtonschritt.

Man hatte aber schon in der Antike auch heptatonische Systeme verwendet, die (in Europa) auf zwei Tetrachorden basierten, von denen der letzte dem ersten entsprach: drei Ganztonschritte und ein Halbtonschritt. Dem gab man dann im Mittelalter die Namen, von denen man glaubte, daß die Griechen sie auch benutzt hatten - allerdings verstand man die antiken Musiktraktate anders als wir heute (höchstwahrscheinlich falsch) und gab daher andere Bezeichnungen, was gelegentlich zu gelinder Verwirrung führt.

CDEF-GAHC "ionisch"

Das läßt sich beliebig verschieben...

DEFG-AHCD "dorisch"
EFGA-HCDE "phrygisch"
FGAH-CDEF "lydisch"
GAHC-DEFG "mixolydisch"
AHCD-EFGA "äolisch"

...oder doch nicht beliebig, denn HCDE-FGAH "lokrisch" war eigentlich immer nur eine Gelehrtenspinnerei (schade um den schönen Tritonus^^)
Mit dem Ende der Renaissance verlor man die Kirchentonarten außer ionisch und äolisch, die sich nun mit den Bezeichnungen Dur und Moll durchgesetzt hatten, aus den Augen und erinnerte sich erst wieder an sie, als man im späten 19. und 20. Jh. nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchte.

Diese Suche begann mit Kontakten zur außereuropäischen und volkstümlichen Musik, etwa bei Debussy und Liszt, viel später besonders bei Bártok. Das Experimentieren mit Tonsystemen begann, aber auch eine "Methode des Komponierens mit zwölf nur auf einander bezogenen Tönen", wurde von Schönberg entwickelt und verbreitet. Zu den Absichten der Zwölftonkomponisten gehörte auch die Entwicklung neuer Instrumente und einer neuen Notenschrift, die den Erfordernissen einer solchen Gleichberechtigung von zwölf Halbtonschritten gerecht würde - beides sollte sich nicht durchsetzen, wohl auch weil Schönberg wie viele seiner Schüler im Dritten Reich als Juden und Komponisten entarteter Musik gebrandmarkt und zur Auswanderung (vielfach in die USA) gezwungen wurden, wodurch sie ihr angestammtes Publikum und den Anschluß an Musikerkollegen verloren und sich an traditionellere Formen anpassen mußten oder marginalisiert wurden.

Die Entwicklungen nach dem zweiten Weltkrieg liefen in anderen Richtungen weiter, Messiaen etwa stellte ein System aus "begrenzt transponierbaren Modi" zusammen, die von der Ganztonleiter bis zur Halbtonleiter eine Reihe von Oktavteilungen ermöglichten (auch solche mit Anderthalbtonschritten und unregelmäßig verteilten Halbtönen).

Andere Komponisten arbeiteten (und arbeiten weiterhin mit Mikrotonalität, also kleineren Intervallen, etwa Viertel-, Sechstel-, Achtel- und Sechzehnteltönen) - Anfänge dazu hatte Ives geboten, eine Fortführung etwa Wyschnegradsky, aber auch Partch mit einer in 43 Schritte geteilten Oktave. Stücke dieser Art stellen an Ausführende und Hörer gleichermaßen einen extremen Anspruch. Das Gute für den Ausführenden: Der Hörer merkt nicht, was falsch ist. Leider auch meist nicht, was stimmt.^^


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