Basso continuo, cantus firmus, Tenor - eine Begriffsklärung

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janw
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Sa 11. Aug 2007, 20:57 - Beitrag #1

Basso continuo, cantus firmus, Tenor - eine Begriffsklärung

Im Laufe der Zeit bin ich auf einige Grundbegriffe der Kompositionsgeschichte gestoßen, deren Bedeutung und Unterschied mir nicht so recht klar geworden ist. Vielleicht könnt Ihr mir da weiter helfen.

Es geht dabei im wesentlichen darum, daß, wie ich es verstehe, seit dem Mittelalter zwischen einer Haupt-Melodielinie und ihren Variationen unterschieden wurde. So wurde in Gesangskompositionen die Singstimme (Hauptmelodielinie?) von einer instrumentalen Contratenor-Stimme begleitet, in Orgelimprovisationen gab es die Choralstimme als Tenor im Gegensatz zu darüber gelagerten Stimmen (Diskant).
Daraus ging später der Generalbass (basso continuo) hervor.
Den immer wieder genannten cantus firmus, als unkonventionelles Zitat sei
First, the use of the cantus firmus in the first aria, and also the use of double reeds. Now many, composers have written for double reeds, but P. D. Q. Bach is the only one I know to do so without the use of oboes and bassoons.

genannt, kann ich da nicht recht einordnen.

Irgendwie kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als handele es sich um verschiedene Begriffe für denselben Sachverhalt, daß eben eine dominante Unterstimme von einer oder mehreren Oberstimme(n) begleitet wird/werden, welche durch Variation derselben auf die Unterstimme eingehen.
Wenn dem so wäre, dann frage ich mich aber, warum die Tatsache der Existenz der Unterstimme als basso continuo bei der Ankündigung klassischer Werkaufführungen explizit erwähnt wird - daß ein Stück eine Melodie hat, ist doch eigentlich zu erwarten, sieht man mal von moderneren Entwicklungen ab, oder verstehe ich das falsch?

Lykurg
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So 12. Aug 2007, 10:47 - Beitrag #2

Der Contratenor muß nicht instrumental sein, ursprünglich dürften Contratenor und Diskant hinzugesetzte Gesangsstimmen gewesen sein - aber wie man es besetzt, ist mehr oder weniger egal, es kommt auf die Schreibweise an, ein lineares bzw. horizontales Denken in Melodien.

cantus firmus ist die Bezeichnung der Stimme, in der die Hauptmelodie liegt, bzw. die Markierung der Stelle im Stück, an der das so ist. Den Begriff frei zu verwenden, setzt logischerweise voraus, daß der c.f. nicht mehr unbedingt im (alten) Tenor zu suchen ist, wobei ich dir jetzt nicht genauer sagen kann, wann der Begriff aufgekommen ist - ist aber ziemlich langlebig.

Mit dem Generalbaß/basso continuo kommen wir aber direkt in die Barockmusik, er bildet eine Entwicklungsstufe des vertikalen Denkens, also in Harmonien. Das hat mit dem etwaigen Vorhandensein eines cantus firmus nichts zu tun - und entspringt in der Namensnennung bei Stücken wohl der Orchestersystematik der Zeit...

Mit den double reeds sind wir allerdings wieder in einem ganz anderen Bereich: Doppelrohrblattinstrumente, also Oboe und Fagott. Man kann auch nur auf dem Mundstück einer Oboe bzw. eines Fagotts spielen, allerdings dürfte P.D.Q. nicht der einzige geblieben sein, der dafür komponiert hat.

janw
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So 12. Aug 2007, 11:41 - Beitrag #3

Dann ist also der Wechsel vom Mittelalter zum Barock dadurch gekennzeichnet, daß im MA eine Grundstimme die Melodie gespielt hat, variiert von Oberstimmen, wohingegen später Thema und Variationen auch in einer Stimme passieren konnten, mit entsprechender Kennzeichnung des Themenabschnitts?

Ipsissimus
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Di 14. Aug 2007, 12:03 - Beitrag #4

also zunächst mal, PDQ Bach hat nie gelebt^^ was auch immer er komponiert haben mag, ist die Invention seines Schöpfers Peter Schickele, der ihn zu eindeutig parodistischen Zwecken gebrauchte^^

cantus firmus - der Start der europäischen Musikgeschichte wird traditionellerweise im a capella unisono Gesang von frühmittelalterlichen Mönchschören, dem sog. Gregorianischen Choral, gesehen. Viele dieser Choräle waren in einschlägig gebildeten Kreisen weit verbreitet und bekannt. Als dann die Mehrstimmigkeit anfing, ihr zartes Haupt zu heben, geschah dies zunächst in der Form, daß eine dieser bekannten Melodien als gegeben genommen wurde, cantus firmus wurde, während andere Stimmen hinzutraten, zunächst nur als Parallelgesänge in Quintabstand (Bordungesang), dann zunehmend auch mit - im Rahmen bestimmter Gesetzmäßigkeiten - freier Melodieführung. "cantus firmus" bezeichnet also ursprünglich nur den Umstand, daß in einem vielstimmigen Werk eine der Stimmen nicht komponiert war, sondern "vorgegeben", den einstimmigen Mönchschorälen unverändert entnommen war

Die Begriffe Tenor, Countertenor und Cantus sind demgegenüber satztechnische Begriffe, die aus der sich entwickelten Contrapunktik stammen. jede dieser Stimmlagen kann Träger des c.f. sein; in späteren Zeiten wurden sie daher auch teilweise als Synonyme für den c.f. verwendet, auch dann, als der c.f. schon längst nicht mehr zwangsläufig aus dem Corpus der Mönchschoräle stammte, sondern auch der Volksmusik oder sogar eigens komponiert wurde.

Tatsächliche kennzeichnet die aufkommende Basso continuo Technik den Umschlag von horizontalem (melodischem) zu vertikalen (harmonischem) Denken in der Musik. Dennoch bleibt festzustellen, daß ein Basso continuo zu einer Melodiestimme hinzugefügt wurde, und dass die Gesetze, die seine Gestalt bestimmen, im wesentlichen kontrapunktischen Gesetzen für den Zusammenklang und die Auflösung von konsonanten und dissonanten Klängen entstammen.

janw
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Mi 15. Aug 2007, 19:02 - Beitrag #5

Dank Euch beiden für die eingängige Erklärung!

Mann, das ist alles so lange her, daß wir das in Musik hatten...

Irgendwie interessant, die Entwicklung von den getrennten Melodien zur Entwicklung gewissermaßen emergenter "Klanglinien" als Ausdruck harmonischer Gesetze.
Könnte dies auch als Modell dienen für Entwicklungen auf anderen kulturellen Gebieten?

janw
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Fr 7. Sep 2007, 02:18 - Beitrag #6

Mal weiter gefragt...
Die Entwicklung von der Gregorianik zur Polyphonik stellt ja eine Entwicklung dar, die durch zunehmendes Wissen über musikalische Gestaltungsmöglichkeiten gesteuert worden sein könnte.
Ich frage mich aber, ob dem so ist, oder ob nicht prinzipiell auch schon im Hochmittelalter die Technik zur mehrstimmigen Melodiegestaltung bekannt war und in der damaligen nicht-geistlichen Musik auch eingesetzt wurde.
War der Gregorianische Stil vielleicht einfach Ausfluss einer reduktionistischen Haltung, passend zur bewussten Schlichtheit und Weltabgewandtheit der noch ihren Gründern nahestehenden Mönchsorden?
Ist vielleicht der Gregorianische Stil für uns nur deshalb für diese Zeit so charakteristisch, weil nur in den Klöstern überhaupt Aufzeichnungen angefertigt wurden, die weltliche Muisk der Zeit uns also nicht überliefert ist?

Ipsissimus
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Mo 13. Dez 2010, 17:36 - Beitrag #7

nach so langer Abwesenheit, vielleicht interessiert es dich ja immer noch, Jan^^

also für die harmonisch geprägte Musik glaube ich nicht so an die Ausbildung emergenter Klanglinien; hier ist üblicherweise die melodische Idee zentral, die dann harmonisch ausgeschmückt wird. Dies sagend muss ich mich natürlich sofort wieder korrigieren - bei den "Großen" fallen melodische und harmonische Ideen oft genug zusammen, spätestens ab dem gebrochenen Stil der Klassiker, vereinzelt aber schon vorher nachzuweisen.

"Emergent" sind - wenngleich der Begriff in diesem Gebiet kaum je angewandt wurde - die Klanggestalten polyphoner Musik; die Klangfolgen wurden kaum je explizit komponiert, sondern entstanden implizit durch die Anwendung der contrapunktischen Satzregeln zum Zusammenklang und Auflösung konsonanter und dissonanter Klänge. Auch da fallen natürlich sofort Ausnahmen ein, für komplexere Proportionskanons ist es fast unmöglich, ohne eine Vorstellung von Klangfolgen vernünftige Linien zu komponieren, ohne in freie Atonalität zu driften.

Über frühmittelalterliche (vor dem 9ten Jahrhundert) weltliche Musik Europas lässt sich nicht wirklich viel sagen. Es gibt ein bisschen was zu römischer Musik, ein bisschen was zu griechischer Musik und das war es schon in Bezug auf Europa. Natürlich ist die weltliche und Volksmusik im 12/13ten Jahrhundert nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Leider wissen wir über das Vorher aber nur sehr wenig. Deine Vermutungen könnten also sehr wohl zutreffen; belegbar sind sie ohne neue massive Funde aber kaum.

janw
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Do 16. Dez 2010, 02:56 - Beitrag #8

Oh danke! Das erklärt mir einiges.
Was meinst Du mit dem gebrochenen Stil?

Ipsissimus
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Do 16. Dez 2010, 11:24 - Beitrag #9

der gebrochene Stil entstand - etwas vereinfachend formuliert - aus der Auseinandersetzung der Wiener Klassiker, vor allem aber Beethovens, mit der Kontrapunktik. Natürlich gab es keinen Weg zurück zur Polyphonie des Barock oder früherer Zeiten, aber es kam zu einer Ausweitung der musikalischen Sprache.

Vor den Klassikern kann man sich ein Thema, eine Melodie z.B., idealtypisch so vorstellen, dass das Thema in einem Instrument, in einer Stimme vollständig wiedergegeben wird, ehe es dann, gegebenenfalls auch modifiziert, in einer anderen Stimme, einem anderen Instrument wiederholt wird.

Beim gebrochenen Satz wandern die Motive eines Thema durch die Stimmen, das Thema wird also nicht in toto in einer Stimme wiedergegeben, sondern entsteht erst durch das Zusammenspiel mehrerer Stimmen. Sehr schön lässt sich das bei den späten Beethoven-Streichquartetten verfolgen, aber natürlich bei weitem nicht nur da. Idealtypisch würden also bei einem 16taktigen Thema die ersten vier Takte in Violine 1, die nächsten vier in Violine 2, die nächsten vier in der Bratsche und die letzten vier im Cello wiedergegeben werden, während die Stimmen, die gerade nicht das Thema führen, Begleitung spielen. Tatsächlich ist dieses Schema natürlich viel zu plump, der Einfallsreichtum der Komponisten geht weit über derartige triviale Anordnungen hinaus^^


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