Alte Musik im Norden und Süden

Diskussionen zu allen Musikrichtungen und Künstlern, von der Klassik bis zu den aktuellen Charts.
janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Do 31. Mär 2011, 14:11 - Beitrag #1

Abgetrennt aus dem Youtube-Kleinode-Thread, da thematische Eigenständigkeit beweisend. -Traitor

Bei alldem fällt mir auf, daß ein großer Teil der mittelalterlichen bis Renaissance-Musik aus dem Raum (Süd)frankreich, Spanien und Italien stammt, während aus dem Raum nördlich der Alpen wenig bekannt ist - oder täuscht das?

Für England lässt sich ja feststellen, daß altenglische Musik aus dem Grunde kaum überliefert wurde, weil die des Schreibens kundigen Kreise aus dem kirchlich-adeligen Bereich stammten, in dem Musik vorrangig lateinisch gesungen wurde und religiösen Zwecken diente.
Und in Deutschland? Es gibt ja Literatur zuhauf, Minnelieder usw. aber offensichtlich wenig Musik dazu, oder?

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Do 31. Mär 2011, 16:46 - Beitrag #2

da gibt es schon einiges, ich bin nur gerade zu faul zum Suchen^^

http://www.youtube.com/watch?v=GJvF9xucG90 (Sumer is incumen in, ältester überlieferter europäischer Kanon, England)

http://www.youtube.com/watch?v=y4GUjmSWflw

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Do 31. Mär 2011, 17:26 - Beitrag #3

Summer is icumen kannte ich, ist aber auch ziemlich einzig in England.
Ich kenne von dort noch Feweles in the frith und Bryd one brere.
Fuweles in the frith
http://www.youtube.com/watch?v=Xo7_ApsbkjU&feature=related

Das andere ist mir neu, aber vergleiche das mal mit dem überlieferten Werk von Marcabru, Jacopo da Bologna, Francesco Landino, Jean Vaillant,...

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Fr 1. Apr 2011, 14:45 - Beitrag #4

ein paar Stichworte

Glogauer Liederbuch (z.B. http://www.youtube.com/watch?v=uc0xhmIeld8 )
Hans Judenkönig (z.B. http://www.youtube.com/watch?v=-33SnnL3BpY )
Hans Neusidler (z.B. http://www.youtube.com/watch?v=UVnOsXpWPHY )
Sebastian Virdung (z.B. http://www.youtube.com/watch?v=0ZabYp92BAA )
Martin Agricola
Adam von Fulda (z.B. http://www.youtube.com/watch?v=TU8ubTT4mL4 )
Hans Gerle (z.B. http://www.youtube.com/watch?v=mB5t3izUbqY )
Jacob Praetorius der Ältere (z.B. http://www.youtube.com/watch?v=csX1IIyxKe0 )
Jacob Praetorius der Jüngere (z.B. http://www.youtube.com/watch?v=CfbmqW_J5-c )
Hermann von Reichenau (z.B. http://www.youtube.com/watch?v=3-qtbizBQUg )

insgesamt wird an den Beispielen sicher deutlich, dass mediterrane Musik und die Musik nördlich der Alpen eine sehr unterschiedliche Grundcharakteristik pflegen

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
So 3. Apr 2011, 13:10 - Beitrag #5

Danke für die aufschlussreichen Links! :)

Die unterschiedliche Grundcharakteristik wird sehr gut deutlich, aber wodurch kam sie zustande?
Die Stücke stammen überwiegend aus der Zeit um 1500, wo die wichtigen Prozesse zur voll durchkomponierten Musik hin im Süden abgelaufen waren, Entwicklung der Ars nova usw.
Wie wurde diese Entwicklung nördlich der Alpen vollzogen? Als durch wandernde Handwerker und Musiker vermittelter dernier cri?

Ciconia d.J. lernte nach 1370 die ars subtilior kennen, als er von Lüttich nach Italien reiste. Dort blieb er bis zu seinem Tode, konnte also nichts selbst zur Weiterverbreitung nach Norden beitragen.

Wie weit hat die zunehmende Distanz zwischen dem Hl. Römischen Reich und Frankreich bzw. die zunehmende Beschränkung auf den Raum nördlich der Alpen unter Karl IV zu der getrennten Entwicklung beigetragen?
Keine höfischen Kontakte - kein Zusammentreffen von Trobars und Minnesängern?

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Mo 4. Apr 2011, 10:32 - Beitrag #6

Hans Werner Henze, ein seit langem in Italien lebender deutscher Komponist und einer der renommiertesten Komponisten der Gegenwart, hatte mal in einem Interview über die Änderungen berichtet, die der Aufenthalt in Italien hinsichtlich seines Kompositionsstils bewirkt hat. Ich kann es nur aus dem Gedächtnis zusammenfassen, aber es lief darauf hinaus, dass der direkte Einfluss musik- oder kompositionstheoretischer Konzepte der neuen Umgebung marginal war, das andere Licht und das milde Klima aber essentiell. Es wurde ihm unmöglich, den schroffen Ernst seiner Kompositionen durchzuhalten.

Den ersten Teil darf man für die Komponisten aus Mittelalter und Renaissance so sicher nicht stehen lassen, die zeigen teilweise erhebliche Änderungen ihrer Kompositionsstile in Abhängigkeit von den Orten, an denen sie lebten, wahrscheinlich deswegen, weil neue Aspekte der Kompositionstheorie sich damals natürlich nicht einfach so verbreiteten; in der Regel musste man dorthin, wo ein besonderer Komponist lebte, um etwas über seinen Kompositionsstil zu lernen. Der zweite Aspekt, der Einfluss von Licht und Klima, darf aber wohl auch für die damalige Zeit als gültig gelten, vielleicht sogar verschärft, weil spätere Mittel zur Entschärfung klimatischer Kontraste damals noch nicht zur Verfügung standen, die Kontraste also noch schärfer empfunden wurden.

Es gibt in der Entwicklung des Minnesangs mehrere Phasen und Regionen. Für die frühen Phasen des Minnesangs, wie er sich an der Donau, besonders Passau und Linz, entwickelte, wurde ein erheblicher Einfluss der Trouvèrs (nordfranzösische Trobadors) nachgewiesen; die weitere Entwicklung im alemannischen Sprachraum entzog sich diesem Einfluss zunehmend.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 4. Apr 2011, 12:23 - Beitrag #7

Verstärkend kam dazu, daß aller Wahrscheinlichkeit nach das Niveau der Musiker an den großen Höfen Italiens deutlich höher war als nördlich der Alpen. Nicht ohne Grund gingen über viele Jahrhunderte die besten Musiker dorthin, um ihre Ausbildung zu vervollkommnen oder überhaupt Karriere zu machen. Das prägte naturgemäß auch den Charakter und Anspruch der Kompositionen, der wesentlich stärker zu einer Darstellung des musikalischen Könnens geraten konnte. Ähnliche Differenzen lassen sich für die frühere Zeit auch zwischen Ost- und Westreich zeigen, nicht grundlos sind die Troubadour-/Trouvére-Begriffe französisch geprägt. Musikalische Entwicklung im deutschen Sprachraum ereignete sich bis in die Spätrenaissance tendenziell später als im romanischen Raum. Das schließt natürlich keine Einzelbegabungen und lokale Exzellenzcluster^^ aus, wirkt sich aber auf den allgemeinen Anspruch der Werke (angesichts des überlieferten Materials) merklich aus.

janw
Moderator
Moderator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 8488
Registriert: 11.10.2003
Mo 4. Apr 2011, 19:57 - Beitrag #8

Eine gewisse Schroffheit der deutschen Musik war mir auch aufgefallen; ich hätte es beinahe als Kontrast von Mittelaltermarkt zu Kammerkonzert beschrieben, mir das dann aber doch lieber verkniffen^^

Wärme und Licht mögen gewiss inspirierend gewirkt haben. Aber sind sie hinreichend erklärend für die Entwicklung der ars nova und des Trecento, oder spielt da Zufälliges hinein? Hätte diese Entwicklung nicht auch nördlich der Alpen beginnen können?

Als Erklärungsmuster kam mir noch in den Sinn, daß vielleicht die unterschiedliche historische Entwicklung nördlich und südlich der Alpen Spuren hinterlassen hat - südlich relativ großräumige und politisch stabile Staatsgebilde, in denen Künstler materiell günstige Möglichkeiten zur Entwicklung und zum Austausch fanden, nördlich die sich entwickelnde Kleinteiligkeit der deutschen Fürstentümer, die einem weiteren Austausch vielleicht im Wege stand, die dafür Künstler vielleicht stärker an Höfe band, wo sie überwiegend geistliche Werke produzierten.
Andererseits waren aber doch die deutschen Fürsten auch keine Kinder von Traurigkeit, warum hat Karl keine Saltarelli und Tarantellen aus Canossa mitgebracht?

War vielleicht auch die Instrumentenentwicklung im Süden weiter? Weshalb ist im Süden die Laute so wichtig im Verhältnis zum Norden, wie mir scheint?

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Mo 4. Apr 2011, 22:10 - Beitrag #9

Paris war die Metropole der Zeit und (auch durch die Sorbonne und ihre Vorläufer) ein geistiger Brennpunkt, an dem sich neue Konzepte (die Motette, aber auch die Schritte zur Ars nova) besonders gut verwirklichen ließen. Musikalische Entwicklung der Zeit beruhte aber, wie du es auch darstellst, ganz wesentlich auf den Höfen (egal ob geistlicher oder weltlicher Herren). In Italien waren es schon damals große Städte mit luxuriös lebenden Herrschern, zu deren Repräsentationsanspruch prunkvolle Hofmusik gehörte. Eine Entsprechung fehlte in den wesentlich weniger reichen und bürgerlich geprägten Städten des Nordens, schon in Ermangelung einer festen Hauptstadt (entsprechend wurde etwa Wien ein wichtiges Zentrum des musikalischen Lebens, das aber erst im 14./15. Jh. mit der Stabilisierung der Habsburger).

Karl möglicherweise darum nicht, weil Heinrich in Canossa war, allerdings gab es da die beiden Tänze noch nicht, sonst wäre er vielleicht nicht auf den Knien angekommen.^^
Die Verbreitung der Laute würde ich aber im Sinne des von dir festgestellten Stilunterschieds^^ auf ihre klanglichen Möglichkeiten zurückführen - ein eher leises, sehr kunstvolles und empfindliches Instrument, das sich etwa für Tanzmusik weniger eignet.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 5. Apr 2011, 11:29 - Beitrag #10

erwähnt werden sollte vielleicht auch, dass mit diesen unterschiedlichen Grundcharakteristiken in späteren Jahrhunderten massive Umwertungen begründet wurden. Mediterrane Musik galt bei uns spätestens seit dem Rokoko als "seicht", auf blankes Virtuosentum reduziert, eitler Tand, während mitteleuropäische Musik als "tief" aufgefasst wurde, in Widerspiegelung tiefründiger Emotionen und Gedanken.

So richtig überwunden ist das in der deutschen Musikwissenschaft noch immer nicht ganz.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 5. Apr 2011, 12:15 - Beitrag #11

Stimmt teilweise, wobei neuere Publikationen zur Oper dem deutlich entgegenwirken (z.B. Silke Leopold: Händel und die Oper). Bei manchen^^ Hamburger Barockkomponisten, die sich um Stilvielfalt bemühten in diesem Zuge sogar mehrsprachige Libretti vertonten, geht das so weit, daß italienische Arien eher beiseitegesprochene bzw. emotionale/innerliche Vorgänge abzubilden scheinen, während deutsche die Handlung vorantreiben und plattdeutsch den komischen Figuren vorbehalten ist. Daß man aber ohnehin Form (/Stil), Inhalt (/Aussage) und Qualität (/Tiefe) nicht verwechseln sollte, steht auf einem anderen Blatt.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 5. Apr 2011, 12:49 - Beitrag #12

richtig, bei neueren Publikationen ist das der Fall^^

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Di 5. Apr 2011, 13:13 - Beitrag #13

klar, aber "noch immer nicht ganz überwunden" faßte ich als Kritik der derzeitigen Forschung auf, in der die entsprechenden Positionen aber meines Erachtens keine wesentliche Rolle mehr spielen, höchstens als historisch zu betrachtendes Rezeptionsphänomen.


Zurück zu Musik

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 18 Gäste