Unmusik

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e-noon
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Fr 22. Apr 2011, 23:51 - Beitrag #1

Unmusik

Eben habe ich mir tapfer "Gesang der Jünglinge" angehört, aus Stockhausens Frühwerk, womit ich vermutlich (durch Reinhören in "Helikopter for strings" bestätigt) noch recht gnädig davongekommen bin. Zum Ausgleich höre ich jetzt Bach's Air und mache mir gar nicht erst die Mühe, Vergleiche zu ziehen oder meine Kopfschmerzen anders als psychosomatisch zu erklären.

Wie ein Freund mir schrieb, ich hoffe, er hat nichts dagegen, dass ich ihn zitiere, "es ist mit ihm [Stockhausen] ja, ähnlich wie mit Zwölftonmusik, Schönberg und Webern und anderen oder wie mit atonaler, experimenteller, "Neuer Klassischer Musik" so, dass es althergebrachten Hörgewohnheiten aufs heftigste zuwiderläuft."

Ich kann das bestätigen. Warum also wird er als Meister gefeiert? Sicher nicht aufgrund des Hörgenusses, um den geht es ihm ja vermutlich selbst nicht. Technisch vermutlich seiner Zeit voraus, kompositorisch äußerst begabt, außerdem wagemutig und innovativ. Genügen diese Eigenschaften, um als Kompositionskünstler gefeiert zu werden, und genügen sie, um gute Musik zu machen? Ich würde ersteres bejahen - Genialität und Kreativität, souveräner Umgang mit komplizierten Mustern sind zu bewundern - und letzteres verneinen - was vermutlich nur bedeutet, dass ich mich nicht von einer letztlichen Bewertungskategorie von "Musik als Genuss" lösen kann, es bleibt somit tautologisch; Musik muss genießbar sein, sonst ist sie keine Musik.

Daher meine Frage an die Kenner: Gibt es "genießbare" Aspekte an Stockhausens Werk? Wenn nicht, gibt es dennoch Aspekte, die einen wünschen lassen, eine bestimmte Stelle ein zweites Mal zu hören? Wenn nicht, kann man die Musik trotzdem in einer Weise gut finden, die über ein Stockholmsyndrom und die Freude, sie überlebt zu haben, hinausgeht?

Und wie sieht es bezüglich dieser Fragen allgemein mit Zwölftonmusik, serieller und punktueller Musik sowie den anderen genannten Künstlern aus?

Lykurg
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Sa 23. Apr 2011, 11:41 - Beitrag #2

Ich bin kein besonderer Stockhausenfreund und -kenner, speziell den "Gesang der Jünglinge" finde ich aber verhältnismäßig zugänglich und kann ihn tatsächlich auch ästhetisch genießen, was auch an der wunderbaren, enorm wandlungsfähigen Stimme Protschkas liegt (insofern also genau entgegen den eigentlichen ästhetischen Konzepten Stockhausens, der eher den Interpreten ausschalten möchte), ich finde aber die Kombination aus Stimme und - sehr sanften, wenig geräuschhaften - elektronischen Klängen überaus gelungen und sowohl die dramatische Struktur als auch die räumliche Wirkung der Komposition (leider in Stereoton weit hinter Stockhausens Absichten zurückgehend) wegweisend und tatsächlich 'bewegend'. Ich hatte weder bei diesem noch bei früherem Hören das Bedürfnis, diese Klänge mit etwas anderem zu überdecken oder betäuben, im Gegenteil, sie wirken positiv nach.

Aber auch wenn ich es nicht mögen würde, und natürlich gibt es moderne Kompositionen, die ich nicht genießen kann oder auch gar nicht aushalte, würde ich dem die Musikalität nicht absprechen wollen, Musik muß für mich nicht Genuß sein, eher schon mit Hanslick gesprochen 'tönend bewegte Form', wobei die eigene ästhetische Anschauung zweitrangig ist. Darstellung der Außenwelt oder Empfindungen können wesentlich beteiligt sein, aber auch die Durchführung eines Plans oder geplanten Zufalls; wie gut der Plan und seine Ausführung sind, entscheidet darüber, wie es mir gefällt, aber nicht darüber, ob es Musik ist.

Von Bach und dem musikalischen Denken seiner Zeit ist das alles aber ziemlich weit entfernt, da wären "angenehme Klänge" eine wesentliche Voraussetzung, ggf. auch moralisch-theologische Zielsetzungen, die Stockhausen höchstens vielleicht auf sich bezogen geteilt haben mag. Bild

Ipsissimus
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Mi 27. Apr 2011, 12:35 - Beitrag #3

es gibt da diese Episode über Adorno, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück nach Deutschland eilte, um den neuen deutschen Komponisten die Kunde von der Zwölftonmusik zu überbringen, die während des Dritten Reichs verboten war. Nun, er eilte und kam und hörte 1946 auf den ersten Darmstädter Ferienkursen und den ersten Donaueschinger Tagen für Neue Musik nach dem 2. Weltkrieg, dass er etwa 15 Jahre zu spät kam. Es gab auf diesen Musikfestivals nämlich neben einigen arrivierten auch völlig unbekannte, neue Komponisten, die wie die Arrivierten keine Kunde von der Zwölftonmusik benötigten, allerdings nicht, weil sie in jener Musiksprache komponieren würden, vielmehr wäre die Zwölftonmusik für sie ein eindeutiger ästhetischer Rückschritt gewesen. Und Adorno brauchte nicht mehr als diese paar Konzerte dieser Exoten, um sich zum profiliertesten Apologeten der Musik des "Projekts Moderne" zu entwickeln.

Das nur nebenbei. Das Augenmerk der avantgardisten Komponisten nach dem 2. Weltkrieg lag nicht auf dem Ausdrucksgehalt ihrer Musik. Wer expressionistische Musik hören wollte, für den gab es die Russen, Ravel, Bartok, Strawinsky und andere. Die Avantgarde konzentrierte sich auf das musikalische Material. Der Grund dafür lag vor allem darin, dass es - genau wie Adorno befürchtet hatte - keine Informationen über die Musik Schönbergs, Bergs und Weberns gab. Das führte aber nicht dazu, dass die neuen Komponisten im Stile Mahlers weitergemacht hätten. Vor allem am neuen elektronischen Studio des WDR in Köln sammelten sich junge Komponisten, die entlang der Erforschung der neuen elektronischen Klangmittel auch komplett neue Wege der Materialaufbereitung und letztlich der ästhetischen Theorie gingen. Tonband, Sinustongeneratoren und Lautsprecher waren die Instrumente, mit denen diese Komponisten umgingen, nicht aber die Instrumente, die sie irgendwann einmal erlernt hatten. Sie waren zur Hälfte Techniker, denn diese Instrumente wollten erst einmal konstruiert und verstanden, danach in ihren ästhetischen Möglichkeiten erforscht werden. Entlang dieser Erforschung entstand die serielle Musik, die dann erst in einem zweiten Schritt auf "klassische" Instrumente ausgeweitet wurde, "Gruppen" lässt grüßen. Die relevanten Komponisten dafür waren Stockhausen, Goeyvaerts, Boulez, Nono, Berio und Koenig, später im erweiterten Kreis auch Kagel, Schnebel, Ligeti und Xenakis.

Man versteht diese Komponisten und ihre Musik nicht, wenn man sich nicht grundlegend mit den ästhetischen Positionen des "Projekt: Moderne" auseinandersetzt, die in Teilen - gewichtigen Teilen - auch politische Positionen waren. In gewisser Weise ist das Folge einer gewissen Naivität dieser Komponisten. Koenig, mit dem ich eine Zeitlang befreundet war, sagte mir mal sinngemäß, dass er nicht wisse, was ein normaler Hörer höre, wenn er serieller Musik lauscht. Er, Koenig, habe sich in aller Bescheidenheit eine professoinelle Hörkompetenz angeeignet und höre daher auch alle die mikrotonalen und rhythmischen Kleinstrukturen. Genau das, die enorm schwierige hörende Durchdringung ihrer Strukturen, macht der seriellen Musik bis heute zu schaffen und bewirkt, dass sie kaum über esoterische Fachleute-Zirkel hinaus gelangt ist.

Ich kann nur sagen, es lohnt, sich diese Hör-Kompetenz anzueignen. Nicht nur strafft sie das Gehör auch für die hörende Durchdringung "normaler" Musik - es wird danach nie mehr möglich sein, in die banale Behaglichkeit eines rein konsumierenden Hörens zurück zu fallen - auch erschließt sich die Schönheit der seriellen und anderer dem Projekt Moderne verpflichteter Musik in ungeahnter Weise. Denn bei aller ästhetischen Legitimierung, diese Musik ist in erster Linie doch Musik, extrem komplexe Musik. Es ist möglich, diese Komplexität hörend zu erschließen, aber es bedarf langjähriger Hörpraxis mit begleitender intellektueller Erschließung - ein nicht notwendiger, aber überaus lohnender Weg.

Zu Stockhausen noch eine Anmerkung: ich habe nicht deswegen aufgehört, ihn zu hören, weil ich seine Musik für schwierig oder unattraktiv fände. Nur hat er einen Weg eingeschlagen, dem zu folgen ich nicht mehr bereit bin. Das Schlimme an seiner Musik etwa seit 1970 ist nicht die musikalische Sprache, die er sich und anderen erschlossen hat, sondern deren größenwahnsinnige ideologische - und eben nicht mehr ästhetische - Fundierung. Wie Lykurg in dem Thread über Opern sagte, Stockhausens Zyklus aus Licht ist eines der stärksten Argumente für ein uminterpretierendes Musiktheater. Ich ergänze: nicht nur der Zyklus aus Licht für das Musiktheater, sondern des Meisters gesamte Musik seit den frühen 70ern für jede Konzertbeilage.


/edit die Bemerkung bezüglich der Sinustongeneratoren als Instrumente kommt sehr harmlos daher, ist jedoch für die neue Musik von dramatischer Wichtigkeit. Wir wissen ja, dass der Ton herkömmlicher Instrumente tatsächlich ein Klang ist, bedingt durch das Obertonspektrum, das jedem Instrument in spezifischer Weise zu eigen ist. Mit dem Klang der Instrumente ist früher nur selten komponiert worden. Es gab natürlich bei den Streichern die Möglichkeit, mal näher am Steg zu spielen, mal weiter entfernt, oder bei den Orgeln konnten verschiedene Register gezogen werden, u.a.. All das waren aber immer natürlich gegebene Klangmöglichkeiten, deren gelegentliche Verfremdung den Rahmen des Instruments nie sprengte.

Sinustongeneratoren erzeugen keine Klänge sondern echte Töne. Die Klangfarbe, die bei Instrumenten automatisch entsteht, muss durch Sinustongeneratoren erst erzeugt werden. Diese Komponisten sind tatsächlich hingegangen, haben unterschiedlich hohe Sinustöne per Mikro auf Tonband aufgenommen und dann Selektionen dieser Sinustöne auf mehreren Tonbandgeräten - pro Tonband ein Sinuston - gleichzeitig gespielt und diesen Klang wiederum auf Mikro aufgenommen. Und damit lag es nahe, mit den Möglichkeiten ein bisschen zu spielen^^

Und in Folge dieses Spielens mit den Möglichkeiten geriet der Klang selbst zum Gegenstand des kompositorischen Prozesses, wurde echter Parameter der Komposition. Das ist der eigentliche Unterschied zwischen der seriellen und aller anderen Musik.

Lykurg
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Mi 27. Apr 2011, 18:22 - Beitrag #4

Das ist ein Teilaspekt, ja, kann aber auch zusammengefaßt werden unter immer weitergehende Determination. Durch gesteigerte Aufzeichnungsmöglichkeiten hat sich von den ersten Neumen- und Notenzeichen bis zu unseren heutigen, bei Boulez und anderen bis zum Extrem formalisierten und ausdifferenzierten Spielanweisungen ein Wandel vollzogen, der die genaue Reproduktion des immer stärker festgelegten Autorwillens zum Ziel hat (logischerweise mit der Gegentendenz der Aleatorik, die ich hier ausklammere, obwohl sie sich in gewisser Weise ebenfalls unter dieses Dach zwingen ließe). Als noch stärkere Weiterführung kamen vorgefertigte elektronische Klänge, Naturgeräusche und Verfremdungen dazu, so daß die Aufführung moderner Kompositionen dieses Typs weitgehend reproduktive Züge aufweist. Es wird zur Kunst, genau das zu tun, was die Partitur vorschreibt (wozu technisch extrem komplexe Spielanweisungen als Herausforderung beitragen), nicht mehr, sie entsprechend dem eigenen Formwillen zu interpretieren.

Das logische Ergebnis davon ist, daß von vielen Stücken nur eine Aufnahme entsteht, die kanonische Geltung hat und, da sie unter Mitwirkung des Komponisten entstanden und somit jede etwaige Abweichung von der Partitur seinem Formwillen entsprechen könnte, strenggenommen auch keine authentische eigene Aufführung möglich ist. Bei entsprechendem Weiterdenken dieser Tendenz wäre dagegen jedes Abspielen der Aufnahme unter den vom Komponisten geplanten Bedingungen (nach dem Beispiel Stockhausen also etwa in einem vorgegebenen Raum mit oftmals um das Publikum herum positionierten Lautsprechern, spezifizierter Sitzordnung und Beleuchtung) eine vollwertige Neuaufführung.

janw
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Mi 27. Apr 2011, 23:03 - Beitrag #5

Das klingt ein bisschen danach, Musik zu hörbarer bildender Kunst zu stilisieren. Das läuft IMHO aber auf das Negieren des der Musik Eigenen hinaus, daß sie aufgrund ihrer Schallgebundenheit eben zwangsläufig ephemer, ein zeitlich begrenztes Geschehen ist.

Ipsissimus
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Do 28. Apr 2011, 10:35 - Beitrag #6

das steht im Kontext vergleichbarer Entwicklungen in allen möglichen Kunstformen, Jan. In der Bildenden Kunst gab es die Farbflächenexperimente, in der Literatur die dadaistischen, später die lautmalerischen Texte. Das Wesentlich an all diesen neuartigen Kunstauffassungen liegt im Vorrang des Materials gegenüber dem Inhalt. Es ging diesen Künstlern nicht mehr darum, einen Inhalt, Semantik zu vermitteln. Das Material sollte aus sich selbst heraus sprechen. Ich will das nicht zu hoch aufhängen, aber aus meiner Sicht stellt das durchaus eine Reaktion auf den im Dritten Reich bis zum Exzess betriebenen Missbrauch von Sprache dar. Mit semantisch greifbaren Inhalten konnte betrogen und manipuliert werden, über jedes Maß hinaus. Diese Künstler hofften, dass vergleichbarer Missbrauch von Vertrauen unmöglich würde, wenn sie die Kunst auf das Material reduzierten. Auch das ist natürlich nur ein Aspekt.

ich bin mir diesbezüglich unschlüssig, Lykurg. Ein Teilaspekt der Entwicklung ist damit sicher bezeichnet, aber ob dieser Teilaspekt zur Alleinerklärung ausreicht erscheint mir zweifelhaft. Vor allem aber sehe ich in der seriell-elektronischen Musik einen echten Bruch mit der Musikgeschichte, deren "normalen" Verlauf ich entlang der angesprochenen Expressionisten vermute. Die seriell-elektronische Musik wäre ohne die vom Dritten Reich losgetretene Erschütterung meines Erachtens nicht so massiv in Fahrt gekommen, quer zu allen sonstigen Entwicklungen. Sie ist auch mit Ausnahme weniger Jahre nicht Mainstream der Musikgeschichte geworden; die Schnelligkeit, mit der sie außerhalb des engsten Kreises ihrer Komponisten wieder ad acta gelegt wurde, zeugt nicht wirklich von Beliebtheit.

Und Leute wie Brian Ferneyhough mit ihrem überzogenen Kontrollzwang sind erst relativ spät ins Boot der seriellen Musik gekommen, zu einem Zeitpunkt, als das Projekt Moderne beinahe schon wieder erledigt war. Selbst Meister Stockhausen erlag seinen Wahnvorstellungen erst seit den 70er Jahren. Bei Leuten wie Boulez oder Nono erscheint es mir auch plausibler, dass der Einfluss des Komponisten auf die Aufführung eher dem Umstand geschuldet ist, dass viele Interpreten mit den unzähligen neuartigen Partituranweisungen erst mal gar nichts anfangen konnten. Es gibt dieses Interview mit dem Arditti-Quartett zur Ersteinspielung von Nonos "Fragmente - Stille, An Diotima", in dem sie davon erzählten, wie sie zunächst wie der Ochs vorm Berg vor der Partitur standen, ehe ihnen Nono erzählte, was eigentlich gemeint war. Das war immerhin schon 1979, der Höhepunkt der seriellen Musik längst überschritten, und das Arditti-Quartett ist eines der ganz großen. Wenn DIE die Partitur nicht angemessen lesen konnten, wer konnte es dann? Und umgekehrt, von Karajan gibt es die Aussage, dass er als Dirigent oft in Konflikt mit jungen Komponisten geriet, weil viele von ihnen keine Vorstellung davon hatten, wie das klang, was sie notiert hatten, und sich erschüttert zeigten, dass ihre Absichten so missverstanden werden konnten. Nicht selten hatte das laut Karajan dazu geführt, dass Stücke komplett umgeschrieben wurden.

Aber ich bin mir auch im Klaren darüber, dass meine Erklärung zu monokausal daherkommt. Die Wahrheit liegt, wie immer, irgendwo in der Mitte aller Einflussgrößen^^

Traitor
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Do 28. Apr 2011, 22:20 - Beitrag #7

Als wie singulär und losgelöst von populäreren Formen der elektronischen Musik muss man sich diese Serialisten vorstellen? Frühe rein elektronische Instrumente wie das Theremin dürften in Ipsis Sinne ja noch als Klang-, nicht Tonerzeuger zählen und somit kein direktes Vorbild sein. Die Hammond-Orgel ist mit Erstbaujahr 1935 auch deutlich älter, als ich dachte, spielerisch aber eher noch näher an klassischen Instrumenten, obwohl technisch durchaus auf Einzel-Sinus-Generatoren aufbauend.
Über zeitlich parallel zu den hier beschriebenen Nachkriegs-Avantgardisten ablaufende Entwicklungen klafft dann bei mir eine Wissenslücke, dass die explosive Verbreitung von Hammonds, Moogs und anderen Synthesizern ab den 70ern im Prog und der anderen "Elektronischen Musik" (das Genre, für das wir mit Marc Effendi einen Experten hätten, wenn er denn mal vorbeischaute) ganz ohne Vorläufer war, kann ich mir aber kaum vorstellen.
Oder waren es doch nur technische Parallelen ohne methodische und kulturelle Verbindungen?

Ipsissimus
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Fr 29. Apr 2011, 12:27 - Beitrag #8

frühe elektronische Instrumente waren eher elektromechanische Instrumente, das gilt für die Hammond-Orgel genauso wie für das Theremin, die Ondes Martenot oder das Trautonium. Diese Instrumente waren für serielles Komponieren aus unterschiedlichen Gründen wenig hilfreich, entweder lag eine Einteilung der Tonhöhen in Intervallschritten nach dem Modell von Klavier oder Orgel vor, oder bei den glissandierenden Instrumente konnten die Parameter nicht genau genug eingestellt und reproduziert werden, da sie meist doch grob quantisiert und für serielle Zwecke zeitlich nicht hinreichend veränderbar waren. Im Prinzip schwebte den Serialisten eine Art Digitalisierung vor, obwohl sie das Wort natürlich nicht benutzten.

Eine echte Erleichterung für das praktische Komponieren stellte erst der Moog-Synthesizer dar, der es ermöglichte, Klangfarben auf einfachem Weg zu synthetisieren und das ganze Geschnipsel mit Tonband-Fragmenten überflüssig machte. Allerdings kam der Moog zu spät. Obwohl eine erste Version schon 1964 auf dem Markt kam, setzte er sich als ernstgenommenes Instrument erst ab etwa 1968 durch, und da waren die Serialisten schon wieder auf dem absterbenden Ast. Zudem ging es dann mit dem Moog schlagartig und massiv Richtung Triviales, es wurde dann alles zu einfach.

Natürlich gab es Alternativen; die Zwölftonmusik wurde nicht eingestellt, nur weil ein paar junge Wilde so verrückte Vorstellungen von Musik hatten, und auch die Expressionisten ließen sich nicht einschüchtern, Jazz kommt dazu. Auch seitens der Serialisten gab es kulturelle Bezüge, die Vororganisation des Materials dient letztlich doch analogen Zwecken wie die Tonsatzlehren früherer musikalischer Epochen, also der Vermeidung als falsch empfundener Konstellationen (so waren in der Klassik Quintparallelen, bei Schönberg Oktavwiederholungen verboten, und bei der seriellen Musik eben tonale Strukturen und regelmäßige Rhythmen). Und der "Sinn" dieser Musik ist von ihren Herstellungsverfahren ähnlich weit entfernt wie der "Sinn" eines Bachschen Chorals von den Anweisungen der Kontrapunktik.

Traitor
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Fr 29. Apr 2011, 21:20 - Beitrag #9

Was soll am Theremin elektromechanisch sein? Digital ist es aber natürlich nicht und somit erwartete ich ja auch keine Serialitätseignung. (Ein faszinierendes Instrument dennoch.)

Die Teilfrage, ob die Serialisten Vorgänger hatten, hast du damit weitgehend zufriedenstellend negativ beantwortet. Weißt du noch etwas zur anderen Seite der Frage, inwieweit die serielle Musik Prog und Elektronische Musik beeinflusst hat?

Ipsissimus
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Di 3. Mai 2011, 11:32 - Beitrag #10

na ja, beim Theremin fließen ja das Spielen des Instruments und die Erzeugung eines Tones in der Bewegung der Hände zusammen; die mechanische Bewegung der Hände verursacht eine Kapazitätsänderung in den Antennen und ist somit ein integrales Element der Klangerzeugung, die das Instrument damit als elektromechanisches kennzeichnet.

Ich habe die Vorgängerfrage nicht so eindeutig beantwortet, wie du sie darstellst. Die grundlegende Idee des Komponierens mit Reihen statt mit Tonleitern stammt nicht von den Serialisten, sondern von Hauer und Schönberg (dessen Konzept sich gegenüber dem von Hauer durchsetzte). Und diese Idee entstand auch nicht aus purem Mutwillen, sondern deswegen, weil Tonalität und regelmäßige Metrik in der Hochromantik am Ende in ähnlicher Weise ausgereizt waren wie Kontrapunktik und Generalbass am Ende des Barock. Es ließ sich tonal einfach nichts Neues mehr sagen; die Konsequenz eines Komponierens in freier Atonalität wurde aber noch gescheut.

Die Serialisten haben dieses Komponieren in Reihen nur konsequent von den Tonhöhen auch auf Tondauern, Lautstärke und Klangfarbe übertragen, wobei der letzte Punkt für die Herausbildung der elektronischen Musik relevant ist, weil eine in letzter Konsequenz Reihen-basierte Komposition der Klangfarbe mit normalen Instrumenten nur in engen Grenzen möglich ist und erst in der elektronischen Musik losgelöst von allen instrumentalen Begrenzungen zu sich selbst findet. Messiaen, dessen Klavierstück "Cantéyodjaya" das erste serielle Musikstück überhaupt war (und nicht "Mode de valeur et d'intensités", wie überall angegeben wird) hatte das sehr wohl verstanden, auch wenn er nie ein Freund der elektronischen Musik wurde^^

[Nebenbemerkung: Die Expressionisten andererseits gingen einen anderen Weg, sie schöpften hauptsächlich aus dem Lokalkolorit, da exotische Rhythmik, Ausweitung der Instrumentierung (und damit der Klangfarben) sowie Tonleitern und Intervallstrukturen ihrer jeweiligen Volksmusiken ermöglichte, die Problematik der veralteten Tonalität zu überwinden, ohne in die relative Starre eines Reihen-basierten Komponierens zu verfallen. Im Prinzip arbeiteten sie an den gleichen Problemen wie die Serialisten.]

Die serielle Musik hat in mindestens zweierlei Hinsicht Auswirkungen: zum einen leisteten die Pioniere der elektronischen Musik erhebliches für die Entwicklung der Studiotechnik. Zum anderen veränderten sie die musikalische Sprache irreversibel. Es ist keinem Komponisten von Rang heute noch möglich, unbedarft in tonalen Strukturen herumzusäuseln; auch wenn das Tonalitätsverbot sich in aller Strenge nicht halten ließ, zeugen noch die postmodernsten aller postmodernen Kompositionen davon, dass die Zeit der Tonalität vorbei ist. In dieser Hinsicht arbeiteten Serialismus und modaler Jazz Hand in Hand, wobei sie sich auch gegenseitig ermutigten. Und wenn es auch nicht mehr viele Komponisten gibt, die streng seriell komponieren, so komponieren doch viele noch in Teilen seriell, wobei die Wiederkehr der "schönen Klänge" oftmals verschleiert, in welchem Ausmaß manche Kompositionen seriell strukturiert sind. Serialismus hat sich damit von einer ästhetischen Theorie zu einem Ausdruckselement gewandelt; nicht im Sinne seiner Erfinder, aber das hat man ja öfter, dass Erfindungen über ihre Erfinder hinweg schreiten^^

Traitor
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Do 5. Mai 2011, 22:29 - Beitrag #11

Ok, man kann sagen, dass die Hände beim Theremin nicht nur Aktivitätsauslöser wie bei einem Tasten- oder Saiteninstrument sind, sondern Teil des Tonerzeugungssystems, und somit ihre Bewegung zur Feststellung der Elektromechanität führt. Der klassischen Verwendung des Wortes "mechanisch" entspricht aber weder das Objekt menschliche Hand noch die elektromagnetische Wirkungsweise auf die Klangerzeugung, weshalb ich es schon sehr gewagt finde, das Theremin so einzuordnen. Der Unterschied zu typischen vollelektronischen Instrumenten, wie einem Sinusgenerator, bei dem der Bediener nur an einem Knopf dreht, aber die Tonerzeugung tatsächlich ganz unabhängig von jeder Bewegung erfolgt, ist aber mindestens ebenso klar, das gebe ich wiederum zu. Ich würde das Theremin also ganz außerhalb dieser Klassifikation stellen. Für die Entwicklung der seriellen und sonstigen modernen Musik dürfte es eh recht irrelevant sein, beenden wir den Exkurs? ;)

Deine Ansichten zur Ausgereiztheit klassischen Komponierens erscheinen mir irgendwie sehr technisch-analytisch, über die Analyse von Einzelelementen die Musik als ganzes vernachlässigend. Ist eine Komposition tatsächlich nur dann neu, wertvoll und hochstehend, wenn sie mindestens ein neuartiges musiktheoretisches Element enthält, oder sollte es nicht ausreichen, wenn sie so gut ist, dass sie als gut wahrgenommen wird? (Durchaus auch gerne auf geschulte Hörer als Qualitätsbeurteiler beschränkt.)
Auf einen Bereich, von dem ich etwas mehr Ahnung habe, übertragen, klingt das für mich danach, dass ein moderner Film nur dann wertvolles Neues leistet, wenn er noch nie dagewesene Kameraperspektiven, Schnittfolgen oder Handlungswendungsverschachtelungen enthält, während reine optische, atmosphärische oder inhaltliche Brillianz unter Verwendung konventioneller Stilmittel doch längst "ausgereizt" sei.
Sicher, hinter Musik steckt mehr Mathematik und damit mehr objektiv feststellbare Formelhaftigkeit oder Neuartigkeit, aber gleichzeitig wirkt sie auf Nicht-Überanalytiker viel stärker als sinnliches Gesamtwerk, sodass dies wiederum ein eher wichtigeres Kriterium sein sollte.

Anmerkung: Bei "als gut wahrgenommen" denke ich übrigens nicht rein an Wohklang oder Hörgenuss, zwischen reinem Genusshören und analytischem Taktzerpflücken (oder halt Reihenzerpflücken ;)) gibt es ja durchaus auch noch einen Bereich, in dem man Musik wegen ihrer Virtuosität und/oder strukturellen Kreativität als qualitativ großartig beurteilen kann, selbst, wenn man sie persönlich nicht unbedingt genießen muss.

Ipsissimus
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Mo 9. Mai 2011, 10:55 - Beitrag #12

Die Sicht eines Komponisten auf seine Musik dürfte eine völlig andere sein als die eines Rezipienten dieser Musik. Zunächst mal steht kaum ein Komponist außerhalb seiner Zeit - sein Komponieren bezieht sich also immer auf den Hintergrund der musikalischen Dialekte seiner Zeit. Diese Dialekte stellen aus kompositorischer Sicht ein handwerkliches und ein Material-Problem dar. Ein Komponist lernt, mit dem Material handwerklich kompetent umzugehen. Die damit einhergehende implizite Vorauswahl des Materials - z.B. Tonleitern, Satzlehre, Rhythmik - beeinflusst den Ausdrucksgehalt der entstehenden Musik.

Sodann komponieren Komponisten keine Gefühle, sie komponieren musikalische Strukturen auf Grundlage des vorhandenen Materials. Viele Komponisten schaffen es, durch ihre handwerkliche Fertigkeit dem verwendeten Material so etwas wie einen Personalstil abzuringen, und selbstverständlich erzeugt Musik auch Gefühle. Da das aber mit erheblichen Freiheitsgraden versehen ist - ein bestimmter musikalischer Ausdrucksgehalt löst nicht zwangsweise ein spezifisches Gefühl aus - können Gefühle auch gar nicht im strikten Sinne komponiert werden, und ich denke, die meisten Komponisten kümmern sich sehr um den grundsätzlichen Ausdrucksgehalt ihrer Musik, halten sich aber erst gar nicht damit auf, was ein Hörer beim Hören eventuell konkret fühlen könnte.

Die europäische Musikgeschichte ist vom 11. Jahrhundert an zunächst zögerlich, dann zunehmend dadurch charakterisiert, dass das Material, welches eine bestimmte Epoche als Rohmaterial zur Verfügung stellte, immer mehr ausgeweitet wurde. Das betrifft "erlaubte" Klänge, Akkordfolgen, die Art der Auflösung, Rhythmik, Metrik, Chromatik, alles, was du dir nur vorstellen kannst. Die Musik anderer Kontinente kannte das in dieser Weise nicht. Was in Europa die Ausweitung des Materials und des musikalischen Ausdrucks ist, nimmt in Indien, China oder Japan die Selbstähnlichkeit des Ausdrucksgehalts ein. Damit ist der Begriff des "Neuen" für die europäische Musikgeschichte zentral; kompositorische Hochwertigkeit wird in großen Teilen über "Neuheit" hergestellt. Diese implizite Tendenz der europäischen Musik trat im Laufe der Zeit immer mehr in den Vordergrund und wurde im 19ten Jahrhundert allmählich explizit. Wenn du neuen Komponisten absprechen möchtest, diesen Weg weiter zu verfolgen, verwirfst du im Grunde alles, was nach Leonin und Perotin komponiert wurde^^ weil fast jede Ausweitung des musikalischen Materials erst mal zu gesellschaftlichen Skandalen führte, ehe das Gehör der Masse sich daran gewöhnte^^

Ich weiß nicht genau, warum das in Europa so war. Meine Vermutung geht dahin, dass der Individualismus in Europa einen sehr viel höheren Stellenwert bekommen hat als in anderen Kulturgroßräumen, möglicherweise auch aufgrund der kommerziellen Situation. Unsere Komponisten wollten sich als etwas Besonderes abheben; woanders wollten Musiker sich einfügen. Das sind natürlich nur Tendenzen.

Jedenfalls war aus Sicht der Komponisten mit der Hochromantik und deren letzten Ausläufern das Äußerste erreicht, was mit tonalen Strukturen noch neuwertig und frisch ausgedrückt werden konnte. Das wurde nicht nur von Schönberg so empfunden, es wurde vielmehr allenthalben an den hergebrachten Strukturen gekratzt und nach neuen Wegen und Ausdrucksgehalten gesucht (Debussy, Ravel, Bartok, Schostakowitsch, Stravinsky). Analoges lässt sich ja auch in der Literatur (Mallarmé, Rimbaud, Proust, Joyce) und Malerei (Goya als frühes Beispiel, Toulouse-Lautrec, Picasso, Dali) nachweisen. Das Komponieren mit Reihen ist nur einer der Wege, die neu beschritten wurden.

Lykurg
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Mo 9. Mai 2011, 16:26 - Beitrag #13

Daß sich das Tonalitätsverbot 'nicht in aller Strenge halten ließ', ist eine gelinde Untertreibung, Ipsissimus^^ - das Ausmaß, in dem moderne Komponisten zumindest seit den 80ern wieder auf weitgehend traditionelle Harmoniebildungen zurückgreifen, ist schon augenfällig. Rihm (z.B. 'Deus Passus') fiele mir da spontan ein, diverses von Schnittke, aber natürlich auch die vielen Weiterverarbeiter von Fremdmaterial, wie z.B. Kempf oder Kagel als prominentere Beispiele. Das trägt schon eher Züge einer radikalen Abkehr von seriellen Prinzipien, denn auch wenn Teile der Methodik weiterverwendet werden, steht die Idee dem völlig entgegen.

Einbindung von elektronisch erzeugten bzw. verfremdeten Klängen bildet erhebliche Möglichkeiten zur Aufweitung des Höreindrucks und natürlich der schieren Machbarkeit, füllt aber die Leere der strukturellen Entwicklung nicht, da sind kreative Rückgriffe auf vorhandenes Material und dessen freie Kombination noch vielversprechender, gerade wenn es zu einer Überlagerung der Formen kommt. In gewissem Sinne ist das vielleicht analog zu den von dir angesprochenen Rückgriffen der Expressionisten auf Volksmusik (natürlich nicht nur der eigenen, du erwähnst Messiaen ja selbst^^), nur eben jetzt auf die Gesamtheit gewendet und mit erweiterten Mitteln. Aber - neu ist das auch nicht.

Traitors Skepsis kann ich insofern ganz gut nachvollziehen. Innovation und Umbruch ist im Sinne der bisherigen musikalischen Entwicklung notwendig, baut aber auf einen immer kleineren Kreis von Kennern auf, Nischenphänomenen nach Art der Musica reservata, die zu ihrer Zeit zumindest nicht mehr in einem Wechselverhältnis stehen können, weil ihre Welt sie kaum noch wahrnimmt.

Auch hinsichtlich der Komposition von Gefühlen hilft aber ein Rückgriff in die Musikgeschichte, ich meine die Affektenlehre. Im Barock war das Komponieren von und mit Gefühlen maßgeblicher Bestandteil kompositorischen Wirkens; das Ausdrucksrepertoire war stark formalisiert, aber sowohl dem Kenner auf analytischem Wege als auch dem Laien auf Basis seines Höreindrucks klar zugänglich. Logischerweise spielt Affektsteuerung auch in der Gegenwart eine extrem große Rolle in der Filmmusik, die aber natürlich ihrerseits im ernsthaften Bereich der neuen Musik keinen Stellenwert hat.^^

Für die Beschreibung einer Sonderstellung Europas bezogen auf die Entwicklung der Musikkultur sei allerdings die einseitige Quellenlage angeführt. Immerhin ist denkbar, daß in einer frühen Hochkultur auch das Musikleben ganz andere Wege ging und nur uns im Ergebnis nicht bekannt ist mangels schriftlicher Überlieferung - ganz zu schweigen von den aufführungspraktischen Details von Stücken, die wir durch bruchstückhafte Überlieferung kennen. Andererseits zeigt gerade der Vergleich mit anderen Kunstformen, daß an deiner Darstellung sehr viel dran sein dürfte, insbesondere was - flüchtig gesehen - Werke der bildenden Kunst in Südostasien betrifft. Raum für stilistische Veränderungen entstand dort zumeist aufgrund massiver politischer Umbrüche, nicht so sehr aus sich selbst heraus. Das ist in den europäischen Zentren nun wirklich anders.

janw
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Mo 9. Mai 2011, 20:05 - Beitrag #14

Zitat von Lykurg:Daß sich das Tonalitätsverbot 'nicht in aller Strenge halten ließ', ist eine gelinde Untertreibung, Ipsissimus^^ - das Ausmaß, in dem moderne Komponisten zumindest seit den 80ern wieder auf weitgehend traditionelle Harmoniebildungen zurückgreifen, ist schon augenfällig. Rihm (z.B. 'Deus Passus') fiele mir da spontan ein, diverses von Schnittke, aber natürlich auch die vielen Weiterverarbeiter von Fremdmaterial, wie z.B. Kempf oder Kagel als prominentere Beispiele. Das trägt schon eher Züge einer radikalen Abkehr von seriellen Prinzipien, denn auch wenn Teile der Methodik weiterverwendet werden, steht die Idee dem völlig entgegen.

Ist es wirklich eine Abkehr von seriellen Prinzipien oder vielleicht einfach nur eine Leugnung ihrer Ortho-Doxizität^^, werden ihre Eigenheiten einfach genauso zu Werkzeugen, wie jene der tonalen Musik, im Sinne des postpostmodernen anything goes?

Zitat von Ipsissimus:Sodann komponieren Komponisten keine Gefühle, sie komponieren musikalische Strukturen auf Grundlage des vorhandenen Materials. Viele Komponisten schaffen es, durch ihre handwerkliche Fertigkeit dem verwendeten Material so etwas wie einen Personalstil abzuringen, und selbstverständlich erzeugt Musik auch Gefühle. Da das aber mit erheblichen Freiheitsgraden versehen ist - ein bestimmter musikalischer Ausdrucksgehalt löst nicht zwangsweise ein spezifisches Gefühl aus - können Gefühle auch gar nicht im strikten Sinne komponiert werden, und ich denke, die meisten Komponisten kümmern sich sehr um den grundsätzlichen Ausdrucksgehalt ihrer Musik, halten sich aber erst gar nicht damit auf, was ein Hörer beim Hören eventuell konkret fühlen könnte.

Mh, ein Requiem wird aber doch von seinem Charakter her die wenigsten in Freudentänze ausbrechen lassen^^.
Ich würde vermuten, daß hier vielleicht ein Wandel von den älteren zu den modernen Komponisten vorliegt, den älteren wird es, denke ich, durchaus um die Evozierung von Gefühlen gegangen sein.

Ipsissimus
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Di 10. Mai 2011, 10:57 - Beitrag #15

nun ja, es lässt sich kaum bestreiten, dass der Serialismus außerhalb des relativ engen Kreises der Serialisten nicht wirklich beliebt war^^ kein Wunder also, dass mit dem Wegbrechen seiner politischen Grundlagen auch seine ästhetischen Positionen aufs Altenteil geschoben wurden^^ wobei ich aber glaube, dass die Grundaussage hinsichtlich der Tonalität durchaus zu halten ist.

Heutige Komponisten bedienen sich der Tonalität, wie sie sich auch exotischer Rhythmik, Instrumentation oder eben auch serieller Verfahren bedienen, aber sie unterwerfen ihre Musik diesen Verfahren nicht mehr. Atonale Passagen auch in aller Länge regen heute niemanden mehr auf. ich bezweifele sogar, dass sehr viele Menschen, die nicht Musiker sind, in der Lage sind, durch reines Hören atonale von tonalen Passagen zu unterscheiden, wenn die atonalen Passagen nur bei den "schönen Klängen" bleiben. Ich denke, der Tonalität wird fälschlicherweise die Rückkehr der "schönen Klänge" angerechnet, die tatsächlich eben genauso auf dem Boden der Atonalität gedeihen können - und sogar in einzelnen seriellen Produktionen sind sie punktuell enthalten. Und wer weiß als Nichtmusiker oder Nichtmusikwissenschaftler schon so genau, was es eigentlich mit Tonalität und Atonalität auf sich hat. Ist eine Kirchentonart tonal? Fragen wir mal hier? Was ist Tonalität, Traitor, Jan, e-noon?^^

Mit anderen Worten, Lykurg, ich halte die von dir angesprochenen Komponisten nebst vielen weiteren nicht für Künstler, die explizit zur Tonalität zurückgekehrt wären, sondern für postmoderne Künstler, deren Ästhetik sich bei aller sonstigen Problematik durch die gleichzeitige Verfügbarkeit und Anwesenheit aller möglichen historischen Materialstände und Satzregeln auszeichnet. Diese bleiben in der postmodernen Produktion aber immer Versatzstücke, sind Ausdrucksmittel und liefern nicht die übergeordnete ästhetische Theorie.


Bezüglich der Affektenlehre wäre zu fragen, was glaubten sie zu komponieren und was komponierten sie tatsächlich. Dass sie auf die Gefühle ihrer Zuhörer einwirken wollten, das will ich wohl glauben. Nur dass sie diese Gefühle steuern konnten, sorry, das funktioniert heute nicht und damals funktionierte es auch nicht. ich denke, Descartes kann heute hinsichtlich seiner Annahme eines naturgesetzlichen mechanistischen Zusammenhangs zwischen bestimmten musikalischen Elementen und den davon ausgelösten Emotionen beruhigt als widerlegt gelten^^

Musik vermag natürlich, einen Ausdrucksgehalt zu erzeugen. Mit welchen konkreten Emotionen dieser aber gefüllt wird, darauf hat Musik so gut wie keinen Einfluss. Es gibt z.B. solche hartherzigen Typen wie mich, die selbst bei einem Requiem keine Erhabenheit spüren, und auch keinen metaphysischen Schrecken beim Erklingen des Dies Irae^^ wenn Musik aber zielgerichtet spezifische Gefühle hervorrufen könnte, dann müsste das ähnlich gesetzmäßig verlaufen wie beim Lesen eines Buches, bei dem alle gleichermaßen kompetenten Leser denselben Inhalt erfassen. Musik kann nur eine emotionale Aura schaffen, mehr nicht.

Das wird in gewisser Weise sogar noch durch Komponisten bestätigt, die sich Gefühle explizit auf die Fahne geschrieben haben, die Programm-Musiker der Romantik. Warum sollte es einem Liszt oder einem Berlioz notwendig erschienen sein, für ihre Sachen Programme zu entwerfen, wenn denn die Musik aus sich selbst heraus dafür ausreichen würde, exakt die gewünschten Affekte zu erzeugen? Wozu diese Doppelung? Weil die Vieldeutigkeit des Inhalts eben Domäne der Musik ist^^

Ansonsten wäre jeder Typ wie ich, der bei einer Pastorale keine Rührung empfindet und bei einem Requiem sardonisch grinst, Beweis für das völlige Versagen der Komponisten, denen nicht gelungen ist, was sie zu schaffen glaubten^^


Verlorengegangene Hochkulturen sind immer eine Eventualität; andererseits bleiben sie, mangels Masse, doch Objekt der Spekulation.

janw
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So 15. Mai 2011, 15:36 - Beitrag #16

Zitat von Ipsissimus:Musik vermag natürlich, einen Ausdrucksgehalt zu erzeugen. Mit welchen konkreten Emotionen dieser aber gefüllt wird, darauf hat Musik so gut wie keinen Einfluss. Es gibt z.B. solche hartherzigen Typen wie mich, die selbst bei einem Requiem keine Erhabenheit spüren, und auch keinen metaphysischen Schrecken beim Erklingen des Dies Irae^^ wenn Musik aber zielgerichtet spezifische Gefühle hervorrufen könnte, dann müsste das ähnlich gesetzmäßig verlaufen wie beim Lesen eines Buches, bei dem alle gleichermaßen kompetenten Leser denselben Inhalt erfassen. Musik kann nur eine emotionale Aura schaffen, mehr nicht.[...]

Vielleicht eine Frage der Prägung? Es gibt ja die Feststellung, daß die europäischen Harmonieempfindungen in anderen Kulturen nicht so wahrgenommen werden.
Vielleicht gilt für uns diese Prägung nicht mehr in derselben Weise wie für die Menschen zu Rameaus Zeiten, und vielleicht hat der Wandel - wodurch auch immer ausgelöst - irgendwann nach 1800 allmählich eingesetzt - mit der Folge, daß Komponisten ihre Stücke programmatisch benennen mussten, um noch eine bestimmte emotionale Bewegung auszulösen. Der "rationale Shift"?

Und wer weiß als Nichtmusiker oder Nichtmusikwissenschaftler schon so genau, was es eigentlich mit Tonalität und Atonalität auf sich hat. Ist eine Kirchentonart tonal? Fragen wir mal hier? Was ist Tonalität, Traitor, Jan, e-noon?^^

Lang ist es her, seit eine nervige ältliche Musiklehrerin, und immer in der letzten Stunde, wo Jan schnellstens zum Bus musste...^^
Will sagen, mir sind die Begriffe zum guten Teil noch irgendwie erinnerlich, und der eine oder andere Zusammenhang ist mir auch später nochmal untergekommen, aber ich müsste vor allem mehr Hörübungen dazu machen.
Nun ja, die beiden letzten sich entwickelnden Kirchentonarten wurden zur tonalen Musik. So gesehen eigentlich ein Verlust an Vielfalt, weil die anderen Kirchentonarten fortan entfielen. Vielleicht ein tieferer Grund für mein heimliches Credo, daß wirklich ernst zunehmende Musik bei Rameau endete^^

Nicht ganz ohne ist für mich auch, daß der Begriff der Tonalität erst gegen ihr Ende überhaupt gepärgt wurde, während der Begriff der Atonalität der Musik programmatisch vorangestellt wurde.

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Mo 16. Mai 2011, 23:45 - Beitrag #17

Zitat von Ipsissimus:Sodann komponieren Komponisten keine Gefühle, sie komponieren musikalische Strukturen auf Grundlage des vorhandenen Materials.
Ersteres wollte ich auch gar nicht behauptet haben, als Ziel der klassischen Kompositionskunst schwebt mir eher vor, was du "musikalischen Ausdrucksgehalt" nennst. Keine gezielte Gefühlsklaviatur, aber auch kein rein mathematisch motiviertes Notenzeichenschubsen. (Und das von mir Naturwissenschaftler...)

Dass Europa dem Fortschritt huldigte, während andere Kulturen der Tradition treu blieben, ist doch kein spezifisch musikalisches oder künstlerisches Phänomen, sondern dürfte im Wesentlichen die definierende Eigenschaft der europäischen Kultur sein.

Zitat von Ipsissimus:Und wer weiß als Nichtmusiker oder Nichtmusikwissenschaftler schon so genau, was es eigentlich mit Tonalität und Atonalität auf sich hat. Ist eine Kirchentonart tonal? Fragen wir mal hier? Was ist Tonalität, Traitor, Jan, e-noon?^^
Ich schaue jetzt natürlich der Fairness halber nicht in Wikipedia. ;) Und etwas in ansatzweiser Nähe einer Lehrbuchdefinition gibt mein Schulgedächtnis auch nicht mehr her. Intuitiv würde ich behaupten, dass tonale Musik nur die Tonhöhen zulässt, die von den klassisch intervallgestuften Tonleitern im klassischen Quintenzirkel abgedeckt werden. Eventuell könnte es auch noch weitergehende Regelungen hinsichtlich erlaubten Tonfolgen und Akkorden geben? Und, da die Übereinstimmung von Notenschrift-Tonhöhen und konkreten Frequenzwerten ja ersteinmal sichergestellt werden muss, gehören vermutlich für jedes klassische Instrument bestimmte arkane Stimmvorschriften dazu.
Offiziell atonale Musik könnte diesem Verständnis danach für den Laien genauso "tonal" klingen wie offiziell tonale, wenn sie einfach ein anderes, aber bijektives Tonrepertoire benutzt, beispielsweise verschobene oder gestreckte Tonleitern (logarithmisch oder wie auch immer angepasst, dem Hörempfinden entsprechend).

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Di 17. Mai 2011, 13:12 - Beitrag #18

Rameau wäre dann aber einer der ersten, die keine ernstzunehmende Musik mehr komponiert haben, Jan^^ allerdings haben Kirchentonarten im 20 Jahrhundert auch wieder eine Art Auferstehung gefeiert, natürlich nicht identisch in der Form wie in ihrer Blütezeit; aber z.B. im modalen Jazz finden sich häufig Skalen oder Skalenauszüge, die dem Lokrischen entsprechen; das ist sogar beinahe eine Art Kennzeichen für Modaljazz geworden.

Kirchentonarten sind nicht tonal, wenngleich sie gewisse Merkmale durchaus mit Dur/Moll-tonalen Tonarten teilen; sie geben somit das beste Beispiel dafür, dass schöne Klänge und Klangfolgen nicht an Tonalität gebunden sind, oder umgekehrt gesagt, sie belegen, dass die Hinwendung moderner Komponisten zu "hässlichen" Klängen und Klangfolgen eine ästhetische Entscheidung war.

Tonalität ist im Prinzip durch die Leittönigkeit charakterisiert, die spezifische Intervallstruktur der Tonleitern reicht als alleiniges Merkmal nicht, weil anhand der reinen Skala kein Unterschied z.B. zwischen a-moll / äolisch auf a / hypodorisch auf a oder C-dur / ionisch auf c / hypolydisch auf c feststellbar ist. Nur funktioniert der Ton der siebten Stufe einer Kirchentonart eben nicht als Leitton; daneben gibt es noch ein paar andere Unterschiede, die aber eher die Charakteristiken der Kirchentonarten betreffen. Leittönigkeit bewirkt eine hierarchische Vorrangigkeit bestimmter Töne, des Grundtons und eben des Leittons, die wichtigere Funktionen ausüben als alle anderen Töne der Skala.

Naja, da wäre noch viel dazu zu sagen, z.B. über Modulationen und Metrik, und wie die zusammen die Tonalität langsam ausgeweitet und letztlich ausgehebelt haben, bis sie sich als Materialstand eben erledigt hatte.

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Mi 18. Mai 2011, 22:34 - Beitrag #19

Kann jemand eine gute Erklärung der Kirchentonarten / atonalen Musik für musikalische Analphabeten empfehlen? Die entsprechenden Wikipediaartikel erscheinen mir in abwechselnder Betonung von "es kommt im Gegensatz zum modernen System nicht auf die Intervallstruktur an" einerseits und Nennung expliziter Intervallstrukturen andererseits als irgendetwas zwischen widersprüchlich, unsauber und unverständlich...

Und ist unter deiner "Vorrangigkeit" von Leittönen "nur" die theoretische Herausstellung zu verstehen, oder auch beispielsweise eine statistische Häufung dieser Töne? Anders gefragt, was würde sich ändern, wenn man die Tonleitern einfach um eins verschoben durchzählte?

Ipsissimus
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Do 19. Mai 2011, 11:39 - Beitrag #20

um das alles richtig zu verstehen ist im Grunde das Studium einer guten Harmonielehre empfehlenswert, möglichst parallel zum Erlernen eines Instruments^^ mensch kann natürlich versuchen, es umgangssprachlich auszudrücken, was aber analoge Probleme mit sich bringt wie die Herunterbrechung physikalischer Formeln ins Umgangssprachliche. Die folgende Passage aus dem Wikipedia-Artikel "Kirchentonart" beschreibt eigentlich sehr deutlich, was es mit Kirchentonarten auf sich hat:

... Dieses Tonmaterial ist zwar wie eine Tonleiter angeordnet, hat aber nicht den Charakter unserer diatonischen Tonleiter. Auch die einzelnen Kirchentöne (Modi) sind keine Tonleitern im modernen Sinne, sondern Skalenausschnitte, die das Tonmaterial von verwandten Melodien enthalten.

Ausschlaggebend für die Zuweisung einer Melodie zu einem Modus sind nicht wie im modernen Dur und Moll die Anordnung der Ganz- und Halbtonschritte, sondern der Zielton (Finalis), der Hauptton (Repercussa, Tenor), der Umfang (Ambitus) der Melodie und bestimmte melodische Wendungen. ...


Es steht leider zu befürchten, dass die tiefere Bedeutung dieser Aussagen sich nur einem Musiker oder einem Laien mit fundierten musiktheoretischen Kenntnissen erschließt.

Ob es zu einer statistischen Häufung von Leittönen kommt, kann ich dir gar nicht sagen; ich fürchte, das ist eine Frage, die einer angelsächsischen Erbsenzähl-Analyse vorbehalten ist^^ Leittönigkeit bewirkt deutlich wahrnehmbare Tendenzen in einem Musikstück, Tendenzen der Art: "es geht weiter", "die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen", "da muss noch was kommen" (falls Leittöne fehlen) bzw. "hier ist eine Entwicklung abgeschlossen", "hier kann ich mich ausruhen", "es geht dem Ende zu" u.dgl. D.h. die Leittönigkeit schafft Tableaus von Entwicklung oder Ruhe, Zentren, zwischen denen die Musik sich ausbreitet.

Es versteht sich von selbst, dass Lykurg mir diese Charakterisierung von Leittönigkeit um die Ohren hauen kann^^ ich bin mir ihrer Unzulänglichkeit selbst bewusst. Trotzdem vermittelt sie vielleicht einen ersten Eindruck von dem Gemeinten.

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