Al Stewart

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Traitor
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Do 22. Mai 2014, 23:41 - Beitrag #1

Al Stewart

Vor einiger Zeit erwähnte ich ihn im "Letzten gehörten Musik-Track", was folgende Reaktion auslöste:
Zitat von Lykurg:Ein Singer-Songwriter mit historischem Interesse! Was es nicht alles gibt...


Bekanntgeworden ist der britische Sänger vor allem durch einige poppige Stücke aus den 70ern, als er zeitweise von Alan Parsons (dessen "Project"-Prog ich auch sehr mag) produziert wurde, insbesondere wohl "Year of the Cat", "On the Border" und "Time Passages". Früher und später neigte er eher zu einem ruhigeren, oft eher erzählendem als wirklich singendem Stil. An die ganz großen - Cohen, Dylan, Simon - reicht er für mich nicht heran, dafür ist er etwas zu eintönig. Aber insbesondere der von Lykurg angeführte thematische Fokus vieler Stücke und (Konzept-)Alben sorgt immer wieder für sehr interessante Texte, und die musikalische Untermalung ist zumindest stets gefällig.

Besonders erwähnen möchte ich

  • das bereits zitierte "A League of Notions" mit
    I think I'm gonna take a piece of Russia
    And a Piece of Germany
    And give them to Poland again
    I'll put together Yugoslavia and Czechoslovakia
    And hope that is how they'll remain

    und
    He's got some Arab sheikhs and kings
    And we're in debt to them somehow
    [...]
    And don't forget the oil!
  • "Joe the Georgian", bei dem es nicht um einen Südstaaten-Country-Fiddler geht
  • "Helen and Cassandra", das nicht nur Standard-Troja-Kram zitiert, sondern auch eine schöne Meta-Perspektive einbringt:
    According to the myths and legends
    At the fringes of our memory
    [...]
    It's funny how the story lingers
    It's probably a myth of course
    [...]
    And the truth is lost in the ancient dust
    Yet the memory forever persists

    und für mich am stärksten in diesen Zeilen ist, da mich diese Epoche eh fasziniert:
    The Bronze Age kingdoms tumble
    The cities fade one by one
    The walls of Mycenae crumble
    The Dark Age has begun

    - obwohl ich die englische Aussprache von Mykene wirklich seltsam finde...

Lykurg
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Fr 23. Mai 2014, 02:30 - Beitrag #2

Danke für die Texte! Da muß ich wohl mal reinhören.
Die Sache mit der englischen Aussprache ist ja deswegen kurios, weil sie die griechischen Namen grundsätzlich erstmal latinisieren und dann in den verschiedensten Weisen aussprechen, entweder englisch oder italienisierend. Warum auch immer.

Maglor
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So 25. Mai 2014, 12:11 - Beitrag #3

Bei Youtube gibt es die meisten Songs mit Textuntermalung.

Ich muss sagen, dass mir so etwas sehr gefällt. Die Texte erinnern mich an einge Irish-Folk-Stücke, politische Lieder aus dem Repertoire von Zupfgeigenhansel oder Wolf Biermann.

In der Melodie glaube ich aber osteuropäische Klänge herauszuhören, insbesondere "Joe the Georgian" klingt jiddisch.

Traitor
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So 25. Mai 2014, 12:50 - Beitrag #4

Lykurg, die Griechisch-Latein-Englisch-Deutsch-Thematik hatten wir ja vor 2 Jahren schonmal - da bist du übrigens immer noch eine Antwort schuldig. ;)

@Maglor: Er ist Schotte, der großbritannische Folk hat aber starke meerengenübergreifende Gemeinsamkeiten, also ist die Irish-Assoziation kein Wunder. Die Parallele zu deutschem Politliedgut kommt vermutlich vor allem von Gitarre plus Sprechgesang, Stewart würde ich aber als deutlich verpoppter ansehen. Beim Georgier dachte ich, wie gesagt, erst per Fehlassoziation an US-Country, das Spiel mit den Parallelen zwischen diesem und östlichen Traditionen ist sicher volle Absicht. Die Wortspiel-Vorlage kommt natürlich von den Beatles.
Bei den Youtube-Videos fielen mir vor allem die zu "Helen and Cassandra" ein, die mal wieder deutlich die Helena-Fehlbesetzung bei Petersen zeigten...

Maglor
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Sa 14. Feb 2015, 10:49 - Beitrag #5

Erst vor kurzem las ich, dass Joe, genauer Big Joe in Amerika der Spitzname für den Genossen Stalin in der amerikanischen Presse war. Es ist daher ganz eindeutig, war mit Joe the Georgian gemeint ist oder auch nicht. Die Zweideutigkeit ist sicher beabsichtigt.

Traitor
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Sa 14. Feb 2015, 17:46 - Beitrag #6

Damit befindet er sich ja in illustrer Namensvettern-Gesellschaft. Wenn es nicht ein paar Jahre zu spät gekommen wäre, könnte man glatt glauben, bei Project Mercury ging es eigentlich darum, ihn loszuwerden... "Uncle Joe" kommt mir allerdings bekannter vor.

Eine interessante Frage ist noch, wer der Erzähler des Liedes ist. Da "Kamenev, Zinoviev, Bukharin" in dritter Person genannt werden, ist Trotzki wohl die offensichtliche Variante.

Maglor
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Sa 14. Feb 2015, 18:58 - Beitrag #7

Bucharin und Sinojew wurden 1938 hingerichtet
Kamenew 1936 starb 1936 eines natürlichen Todes und wurde erst posthum des Verrats bezichtigt.

Trotzki starb nicht während der Großen Terrors, sonder wurde erst 1940 mit dem Eispickel überfallen und bereits in den 1920er politisch entmachtet.

Zitat von Stewart:We all set off together
On this sorry ship of state
When the captain took the fever
We were hijacked by the mate
And he steered us through the shadows
Upon an angry tide
And cast us one by one over the side


Mit dem fieberkranken "captain" ist sicher Lenin gemeint. Mit dem "mate" ist ich Uncle Joe gemeint. Der Sänger must also doch ein Freund Stalins gewesen sein.
Trotzki war aber von Anfang an ein Gegner Stalins, anders als Bucharin und Sinojew, die sich ja mit Stalin gegen Trotzki verbündet hatten und anschließend über Bord geworfen wurden.
In letzter Konsequenz kommt also jeder in Frage, der in den Jahren 1936 bis 1938 auf von Stalins Terror in die Hölle gekommen ist.

Wichtig ist auch die Anfangszeile. "Now I've got my payment, for the service that I gave." Trotzki hat ja Stalin nie einen Dienst erwiesen. Bei dem Sänger muss es sich um einen von Stalins abgelegten Paladinen handeln.

Lykurg
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Sa 14. Feb 2015, 22:26 - Beitrag #8

Nein, mate meint keinen Kumpel, sondern den Steuermann des Schiffs - wort- aber nicht funktionsverwandt mit unserem "Maat".
Passend auch insofern, als Lenins eher intellektuelle Vorherrschaft in den letzten Jahren schon von Stalins Strippenziehen unterlegt war.

Uncle Joe ist also eher kein Bruder von Uncle Sam und Uncle Tom.
Und Kamenews Tod wurde von Stalin sicherlich rückblickend bedauert.

Maglor
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So 15. Feb 2015, 20:15 - Beitrag #9

Es ist schon erstaunlich, wie weit er es mit der Bootsmetapher getrieben hat.
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Lykurg
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Di 17. Feb 2015, 12:23 - Beitrag #10

Der nautische Bereich ist ja auch irgendwo naheliegend. Schon in der Antike (Alkaios, Horaz...) war das Staatsschiff eine geläufige Metapher. Und wenn ich an "dropping the pilot", eine der bekanntesten BIsmarck-Karikaturen, erinnern darf...
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Traitor
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So 22. Feb 2015, 14:19 - Beitrag #11

Trotzkis Exil kann man durchaus schon als schrittweise Variante von "cast over the side" interpretieren, der "service that I gave" könnte auch dem Staat gegenüber gemeint sein. Überzeugt von Trotzki als Erzähler bin ich aber auch selbst nicht unbedingt, daher die Formulierung mit der "offensichtlichen Variante" - er ist halt der prominenteste Name aus diesem Umfeld, der im Liedtext auffällig fehlt. Ein anonymes, niederrangiges Säuberungsopfer halte ich für ungefähr gleich wahrscheinlich.

Da ich ja im ersten Beitrag schon weitere Singer-Songwriter nannte: "ship of state" wird auch von Leonard Cohen verwendet, "Democracy":
Sail on, sail on
O mighty Ship of State!
To the Shores of Need
Past the Reefs of Greed
Through the Squalls of Hate
Sail on, sail on, sail on, sail on.

Sowie, wenn auch nicht wörtlich, von Paul Simon, "American Tune":
And I dreamed I was flying
And high up above my eyes could clearly see
The Statue of Liberty
Sailing away to sea
And I dreamed I was flying

We come on the ship they call The Mayflower
We come on the ship that sailed the moon
We come in the age's most uncertain hours
And sing an American tune

Natürlich beide mit Amerika-, nicht Russland-Bezug. Trotz Simons "World Music"-Phase dürfte Stewart der global denkendste aus der Truppe sein.

Maglor
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So 22. Feb 2015, 19:24 - Beitrag #12

Ich hatte eher Jagoda als Erzähler in Verdacht, aber Trotzki hat sicherlich auch genug auf dem Kerbholz, um einen Platz in jener Hölle verdient zu haben.
Als NKWD-Chef war Jagoda für die Schauprozesse, insbesondere gegen Kamenew und Sinowjew, verantwortlich, bis er selbst (praktisch Wochen später) in die Opferrolle wechselte und hingerichtet wurde. Das ist die eigentliche Perversion des Stalin'schen: Die Täter von heute, sind die Opfer von Morgen.

Die Sache mit dem Schiff als Symbol der Staates geht letzten Endes auf antike Vorbilder zurück.

Traitor
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So 22. Feb 2015, 23:34 - Beitrag #13

Jagoda ist ein schöner Kandidat, für den man vor allem die Serialität des "one by one" höher gewichten könnte.

Die antiken Vorbilder erwähnte Lykurg ja bereits, enWP nennt neben Alkaios ("Alcaeus") noch Platon und Aischylos ("Aeschylus", -sch- im Englischen, kurios!) als prominente Early Adopters.
Oh, und die Holländer transkribieren die Griechen wohl weitgehend wie wir, aber die Schreibweise "filosoof" ist großartig!


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