-archie=-kratie?

Das aktuelle politische Geschehen in Deutschland und der ganzen Welt sowie wichtige Ereignisse der Weltgeschichte.
janw
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Sa 11. Jan 2014, 19:15 - Beitrag #1

-archie=-kratie?

Ich bin darüber gestolpert, daß es im Griechischen zwei Begriffe für Herrschaft, Macht und dergleichen gibt: arche und kratia. Zwei Begriffe bezeichnen aber selten ein und dasselbe - worin liegt der Unterschied?

Maglor
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Sa 11. Jan 2014, 22:24 - Beitrag #2

Die Frage ist eine harte Nuss.
Zu den besonderen Unstimmigkeiten gehört natürlich noch, dass es an der Spitze der attischen Demokratie Archonten und keine Kratonten stehen.

Auffällig ist, dass die bekannten Formen der -archien mit Zahlworten zusammengesetzt sind: Monarchie, Oligarchie oder auch die Tetrarchie.

Einen wertenden Charakter hat die Unterschiedung von -archie und -kratie. Ochlokratie (Massentyrannei) oder die Plutokratie (Herrschaft des Geldes) hatten über die Jahrtausende durchaus ein mieses Ansehen.
Polybios unterschied sechs Staatsformen, jeweils ein Ideal und eine Pervesion. Als gute Staatsformen halten Monarchie, Aristokratie und Demokratie, als ihre bösen Zwillinge Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie. Die Wortstämme spielen keine Rolle.

Lykurg
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So 12. Jan 2014, 10:33 - Beitrag #3

Mein 1952er^^ (also noch nicht klassisch-antiker) Langenscheidt setzt als Hauptbedeutungen (ich wähle ein bißchen aus)

für ἀρχή (archē)
A. 1. Anfang, Beginn, Ursprung
2. Ursache, Grund, Prinzip
B. Anführung, Oberbefehl, Herrschaft, Amt; Regierung, Behörde, Obrigkeit; Gebiet, Reich, Provinz

für κρατέω (kratéo)
I. stark od. mächtig sein, Macht od. Gewalt haben, Herr sein, herrschen
II. mit Kasus:
1. mit dat.: unter einer Zahl mächtig sein
2. mit gen.: a) stärker oder mächtiger sein, siegen, übertreffen b) Macht od. Gewalt haben, herrschen, beherrschen c) besiegen, sich bemächtigen, erlangen
3. mit acc.: a) bezwingen, überwinden, besiegen b) besitzen, behaupten c) ergreifen, fassen, fest-nehmen, -halten, behalten d) abhalten, hindern

und für κράτος (kratós)
1. Stärke, Kraft (katà krátos: mit aller Kraft, mit Sturm, im Galopp)
2. Macht, Gewalt, Herrschaft, Thron, Oberbefehl
a) Übermacht, Oberhand, Sieg
b) Gewalttat

Demnach läge bei -archie der Akzent der Wortbedeutung also eher auf einem ordnenden Prinzip, bei -kratie auf der Machtergreifung und -ausübung. Wieviel davon allerdings a) Interpretation der Lexikographen und b) zeitgeschichtliche Einschätzung ist, kann ich nicht sagen. Für die klassischen Formen des Polybios paßt es recht gut, wenn man hinnimmt, daß diverse griechische Theoretiker, Aristoteles und Platon kämen mir da spontan in den Sinn, aristokratisch gesinnt in der Demokratie eher eine Machtergreifung durch das Volk gesehen hätten.

Traitor
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So 12. Jan 2014, 11:50 - Beitrag #4

Demnach wären also tendentiell die der korrekten Ordnung der Dinge entsprechenden Regierungsformen Archien, die abweichenden Kratien. Aristokratie fällt dann aber aus dem Muster, müsste als den Autoren bevorzugte Form Aristoarchie heißen...

Dr. Friedrich Christoph Karl Schunck, "Staatsrecht des Königreichs Baiern", 1824, kennt übrigens als so ziemlich einziger google-indizierter Autor auch Aristoarchie und Demoarchie. ;)
Ansonsten, wie machen das die Österreicher...? Ganz ähnlich wie Lykurg-Langenscheidt, scheint's. (Archiv eines seit 2011 toten Forums, also selbst ohne adminokratische Privilegien legaler Link. ;))

Was wir hier in der Matrix früher mal Kratokratie genannt haben - Herrschaft der Herrschenden um der Herrschaft willen, legitimiert lediglich durch ihre Herrschaft - könnte man dann auch mal gegen seine Abarten Kratoarchie, Archokratie und Archoarchie abzugrenzen versuchen. (Letztere zwei nicht zu verwechseln mit Archäokratie und Archäoarchie.)

Ipsissimus
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Mo 13. Jan 2014, 19:46 - Beitrag #5

aus reinem Interesse: was hat das eigentlich mit Natur und Reisen zu tun?

Maglor
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Mo 13. Jan 2014, 22:18 - Beitrag #6

Archäokratie ist durchaus richtig dekliniert, wobei der Begriff mitb der Gerontokratie jedoch schon besetzt ist. ;)
Archäo- in Archäologie kommt auch von ἀρχή (archē) im Sinne von Anfang, Beginn, Ursprung, genau wie bei Archaeopterix, Archetyp oder Archaik.

janw
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Mo 13. Jan 2014, 23:12 - Beitrag #7

Ipsi, ich wollte das Thema nicht unter Diskussionen ablegen, da es doch eher in die Rubrik Wissenschaft und Kultur gehört. Dort fehlt nun leider ein solides geisteswissenschaftliches Pendant zu Naturwissenschaft und Technik, weshalb ich zu Natur und Reisen griff.
Es könnte aber gern verlagert werden.

Dann scheint wohl im politischen Weltbild ein Unterschied zwischen Herrschaft als Führerschaft und als Machthaberei bestanden zu haben.

Lykurg
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Mo 13. Jan 2014, 23:13 - Beitrag #8

Für Archäokratie ließen sich durchaus von der Gerontokratie abweichende Inhalte finden, etwa Steinzeitkommunismus bzw. protohierarchische Sozialgefüge, wahlweise auch (um Emmerich und Auel eine Freude zu machen) eine Herrschaft der Neanderthaler über die Cro-Magnon-Menschen. Denkbar wäre aber auch ein Obrigkeits- oder Behördenstaat (nach österreichischem Muster?^^) oder ein nach streng rationalen Prinzipien aufgebautes Staatswesen, in denen genau diejenigen aktuell die Macht erhalten, ein Vorhaben zu verwirklichen, die die Notwendigkeit ihres Handelns am besten begründen können (klingt allerdings irgendwie nach Politeia).

Vielleicht ist das Erstellen neuer Themen in Natur & Reisen bei janw die Standardeinstellung, wenn nicht gar gnomische Willkür des Matrixkobolds vorliegt? ;)

Maglor
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Mo 13. Jan 2014, 23:28 - Beitrag #9

Eng verwandt mit der Archäoarchie ist auch die Nekrokratie.
Leider musste ich gerade feststellen, dass es dort schon und auch noch als Bezeichnung für die untote Herrschaftsform in Nordkorea. :(

Traitor
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Do 16. Jan 2014, 22:29 - Beitrag #10

Die meisten geisteswissenschaftlichen Themen passen gut genug in andere Foren, so auch dieses - linguistische Themen haben wir zwar meist unter "Literatur" gesteckt, hier überwiegt aber eindeutig der geschichtliche Anteil, und um Politik geht es auch offensichtlich, also "Politik & Geschichte".

Zitat von Maglor:Archäo- in Archäologie kommt auch von ἀρχή (archē) im Sinne von Anfang, Beginn, Ursprung, genau wie bei Archaeopterix, Archetyp oder Archaik.
Wie wäre es mit Archäopteryxokratie? Vielleicht eine Option für Neoaztekia.

Zitat von janw:Dann scheint wohl im politischen Weltbild ein Unterschied zwischen Herrschaft als Führerschaft und als Machthaberei bestanden zu haben.
Die beiden hätte ich jetzt vom Sprachgefühl als äquivalent und Aspekt von Kratie verstanden. Der Langenscheidt nennt zwar "Anführung" als archischen Aspekt, aber da würde ich eine fortgesetzte Konnotationsverschiebung seit 1952 behaupten, die alles führerhafte mehr Richtung Macht und weiter weg von Ordnung ansiedelt.

Lykurg, beschreibst du da nicht reinblütige Archäoarchien ohne kratische Verrohung?

Lykurg
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Fr 17. Jan 2014, 00:26 - Beitrag #11

Traitor, bei den Neanderthalern sicher nicht. ;)

Ipsissimus
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Fr 17. Jan 2014, 14:10 - Beitrag #12

Dann scheint wohl im politischen Weltbild ein Unterschied zwischen Herrschaft als Führerschaft und als Machthaberei bestanden zu haben.


Ich würde eher meinen, hier arbeiten zwei unterschiedliche Selbsttäuschungen zusammen (die im übrigen von den Griechen an uns weitergereicht wurden). Bekanntlich waren die griechischen Stadtstaaten ja sehr stolz darauf, Demokratien zu sein. Und bekanntlich war das vollkommen damit kompatibel, dass zum einen die faktische Herrschaft von einer quasi erb-oligarchischen Oberschicht ausging, und zum anderen, dass das Verhältnis der Sklaven zu den freien, wahlberechtigten Bürgern ungefähr 10:1 betrug.

Es war also ideologische Selbsttäuschung, sich selbst als "Demokraten" zu feiern und in anderen Stadtstaaten dem Wirken von Tyrannen eine andere Wertigkeit zuzuordnen; und es war ideologische Selbsttäuschung, die eigene Gesellschaftsform als "demokratisch" oder "freiheitlich" aufzufassen - oder whatever die korrekten damaligen Begriffe waren - wenn diese Gesellschaftsform damit konform war, 90 Prozent der Gesamtbevölkerung als Sklaven alle Rechte zu verwehren.

janw
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Fr 17. Jan 2014, 20:10 - Beitrag #13

Ipsi, die erste Folge von Machtbesitz ist, die Folgen der Machtausübung zu legitimieren^^

War vielleicht die "archie" die selbstgeschönte Seite der -Kratie?

Maglor
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Sa 18. Jan 2014, 11:37 - Beitrag #14

Zitat von Ipsissimus:Bekanntlich waren die griechischen Stadtstaaten ja sehr stolz darauf, Demokratien zu sein.

Wie kommt du darauf?
Die griechische Demokratie hatte keine besonders starke ideologische Unterfütterung.
In der Beteiligung des Volkes an der Macht sah man vor allem eine Möglichkeit einer Stabilisierung des System und eine Kontrolle der herrschenden Klasse, die Machtmissbrauch etc. vorbeugen sollte. Es geht in der antiken Demokratie auch gar nicht so sehr um Mehrheiten, sondern viel mehr um das Gemeinwohl. Die Rechte des einzelnen spielen in dem Sinne auch keine Rolle. Ein Sklave muss gar nicht beteiligt werden, wenn die Herren sowieso viel besser entstanden können. Sehr deutlich wird das am Ältestenrat. Attischer Araeopag und römischer Senat bestanden einfach aus verdienten Politikern, eine andere Legitimation, etwa durch Wahl hatten sie nicht.

Ebenso fehlt der liberale Freiheitsgedanke. Der Verdacht eines persönlichen Machtstrebens oder aufrüherische Gedanken führen leicht zur Verbannung, was ganz im Sinne des antiken Demokratie ist, in der eine harmonische Gesellschaft, insbesondere der Frieden zwischen sozialen Klassen angestrebt wird.
Der Antipode des Tyrannen ist auch nicht die Demokratie, sondern der gute König, der ganz im Sinne des Gemeinwohl entscheidet. EIne Diktator ist auch nicht schlimm, solang er nur das Beste für die anderen will.
Würde man den alten Griechen die modernen westlichen Demokratien vorhalten, so würden sie diese wohl für eine Art Ochlokratie halten, in der Habgier und Machtwillen des einzelnen vorherschen und sowohl die Stimmabgabe an der Wahlurne als auch das Abstimmungsverhalten in den Parlamenten bestimmen. Wahlkämpfe und Pluralismus sind gefährlich.

blobbfish
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Di 21. Jan 2014, 23:41 - Beitrag #15

[quote="Lykurg"ein nach streng rationalen Prinzipien aufgebautes Staatswesen, in denen genau diejenigen aktuell die Macht erhalten, ein Vorhaben zu verwirklichen, die die Notwendigkeit ihres Handelns am besten begründen können (klingt allerdings irgendwie nach Politeia).[/quote]
Das klingt für mich keineswegs nach Politeia, dort fällt nämlich, das ist entscheidend, der Teil mit dem Begründen weg - und von Machterhalt kann man da auch wenig lesen.


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