Rechtmäßigkeit von Koalitionen

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Ipsissimus
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Mo 9. Dez 2013, 11:15 - Beitrag #1

Rechtmäßigkeit von Koalitionen

ich frage mich immer noch, ob Koalitionen eigentlich verfassungskonform sind, oder ob einfach nur des Sängers Höflichkeit schweigt

Abgetrennt vom Hauptausschuss - Traitor

Maglor
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Mo 9. Dez 2013, 22:35 - Beitrag #2

Die Verfassungsmäßigkeit eines Koalitionsvertrages an sich ist eher zur verneinen.

Art. 38 Abs. Grundgesetz:
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

Padreic
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Di 10. Dez 2013, 02:34 - Beitrag #3

Ich halte die Aufregung um die Rechtmäßigkeit für etwas künstlich. Ein Koalitionsvertrag ist eine gemeinsame Absichtserklärung zweier oder mehr Parteien. Selbst für die Parteien ist dieser nicht rechtlich bindend. Weiterhin sind Anweisungen von Parteioberen für einzelne Abgeordnete nicht bindend; sie können beispielsweise aus der Partei oder Fraktion austreten, egal welcher "Fraktionszwang" ausgeübt wird. Jeder einzelne Abgeordnete kann also immer noch seinem Gewissen folgen (falls er denn ein solches hat), wie beispielsweise Fälle von "Abweichlern" zeigen.

Der Unterschied zwischen einer Koalition und einer Partei oder Fraktion ist der zwischen einer informellen Absprache und einer rechtlich verankerten Bedeutung. In Ländern ohne Verhältniswahlrecht, wo also Kandidaten nur direkt gewählt werden, kann auch eine Partei letztlich als informeller Klub gesehen werden. Die Grundlage aller solchen parlamentarischen Klubs ist: Wenn du für X stimmst, stimme ich für Y. Natürlich können sich solche Klubs auch in Teilen einer Partei/Fraktion oder auch überparteilich bilden (die Serie House of Cards gibt da einige Demonstrationen...). Prinzipielle inhaltliche Argumentationen gegen Koalitionen können so in zwei Schattierungen geführt werden (wo die rechtlichen schon nicht zielführend sind):
1) Informelle Klubs nach dem obigen Prinzip sind generell unethisch: Ein Abgeordneter sollte jedes Gesetz für sich nach seiner Qualität beurteilen und dann dementsprechend abstimmen.
2) Da Wähler im wesentlichen Parteien wählen, sind als einziger Klub Parteien erlaubt.

Zu 1): Das erscheint zu radikal und etwas naiv. Auch ein einzelnes Gesetz besteht aus vielen Einzelpunkt -- will man also konsequenterweise Kompromisse vermeiden, die einem bei einer Einzelbestimmung gegen das Gewissen gehen, müsste man jedes Gesetz in Einzelbestandteile zerlegen und dann darüber abstimmen. Das wäre durchaus ein interessantes Experiment, was dabei rauskommt, aber die Teilexperimente in diese Richtung lassen mich erwarten, dass es ein mehr zerstrittenes als effizientes Parlament wäre.
Zu 2): Dann wäre schon die CDU/CSU-Koalition fraglich. So oder so: Das Konzept eines Bundeskanzler macht nur Sinn mit halbwegs stabilen Mehrheiten; sonst müsste man zu einer Präsidialrepublik wechseln, wo der Präsident von möglicherweise wechselnden Mehrheiten weniger abhängig ist. Deswegen sehe ich Koalitionen als implizit in der Verfassung unserer Republik angelegt, zumahl zur Zeit der Erstellung unseres Grundgesetzes Koalitionen (wenn auch nicht Koalitionsverträge) durchaus ein bekanntes und gängiges Konzept waren.

@Traitor:
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Ipsissimus
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Di 10. Dez 2013, 10:21 - Beitrag #4

Deine Darlegungen sind interessant, Padreic; andererseits beantworten sie nicht die Frage, ob Koalitionen verfassungskonform sind. Das wird nämlich ausschließlich an einer Stelle entschieden. Ich könnte mir auch vorstellen, dass das Standardmodell unserer Verfassung die Minderheitsregierung ist, die also gezwungen wäre, durch die Qualität ihrer Arbeit Mehrheiten hinter sich zu bringen. Das wäre doch mal eine witzige Machtbalance.

Lykurg
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Di 10. Dez 2013, 10:50 - Beitrag #5

Zitat von Ipsissimus:die also gezwungen wäre, durch die Qualität ihrer Arbeit Mehrheiten hinter sich zu bringen.
Leider ist das kaum zu erwarten angesichts der Erfahrungen zumindest der letzten zwei Jahrzehnte, in denen die Opposition jeweils ihr Möglichstes getan hat, mittels Bundesratsmehrheit prinzipiell alle Projekte* der Regierung zu blockieren, entweder aus tatsächlicher programmatischer Nichtübereinstimmung oder aber unter der Behauptung, die jeweilige Gesetzesinitiative gehe "nicht weit genug" und man wolle es selbst beizeiten besser machen (wozu es dann aber überraschenderweise nie kommt, erstens ist nach der Wahl alles anders, und zweitens wird das Spielchen dann halt umgekehrt getrieben). Warum die Vorschläge anderer unterstützen, wenn man selbst Machtambitionen hat? Bis zur nächsten Wahl haben die Bürger es eh vergessen.
Zitat von Padreic: kann auch eine Partei letztlich als informeller Klub gesehen werden.
O Austria felix, wo man statt "Fraktion" tatsächlich "Klub" sagt...

______
*abgesehen von so unstrittigen Fragen wie z.B. Truppenentsendungen

Ipsissimus
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Di 10. Dez 2013, 11:47 - Beitrag #6

die praktischen Schwierigkeiten sehe ich ähnlich, Lykurg, aber es würde mich interessieren, was passiert, wenn das Verfassungsgericht Koalitionen tatsächlich als nicht verfassungskonform einstufen und die Minderheitsregierung als Standardmodell charakterisieren würde. Inklusive Verbot informeller Absprachen.

Maglor
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Di 10. Dez 2013, 21:49 - Beitrag #7

Ich kann die Aufregung um den Hauptausschuss nicht verstehen.
Viel schwerwiegender ist ohnehin der Koalitionsausschuss. Die Koalitionsauschuss wird aus einer nicht näher bestimmten Personengruppe (semiaktuell: Merkel, Seehofer, Rösler + X) auf unbestimmte Dauer gebildet und bestimmt das Abstiegungsverhalten der Koalition im Bundestag und Bundesrat. So werden vertikale und horizontale Gewaltenteilung gleichzeitig unterlaufen.

Padreic
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Do 12. Dez 2013, 06:27 - Beitrag #8

@Ipsissimus:
Deine Darlegungen sind interessant, Padreic; andererseits beantworten sie nicht die Frage, ob Koalitionen verfassungskonform sind. Das wird nämlich ausschließlich an einer Stelle entschieden.

Nun, ich habe dargelegt, warum der von Maglor zitierte Verfassungspassus meines Erachtens nicht der Verfassung widerspricht. Dass das Verfassungsgericht plötzlich Koalitionen prinzipiell für verfassungswidrig erklärt, halte ich für ähnlich wahrscheinlich wie, nunja, dass Sitze im Bundestag automatisch aufgegeben werden, wenn man aufsteht.
Im Detail: Koalitionen und Koalitionsverträge stellen eine seit über 50 Jahren geübte Praxis dar. Das Verfassungsgericht hat gerade erst in ihrer Ablehnung des Eilantrag gegen die Mitgliederabstimmung der SPD über den Koalitionsvertrag festgestellt, dass ein Koalitionsvertrag die Entscheidungsfreiheit der Bundestagsabgeordneten nicht beeinflusst. (Wie bereits erwähnt, finde ich diesen Punkt rechtlich recht offensichtlich). Ich sehe keinen Grund, warum das Verfassungsgericht plötzlich dazu eine 180-Grad-Kehrtwende machen sollte. [Man beachte die genaue Urteilsbegründung: Das Verfassungsgericht sieht einen Koalitionsvertrag nicht als einen Akt öffentlicher Gewalt -- damit sind Verfassungsbeschwerden dagegen auch unzulässig.
Auch was den Geist des Grundgesetzes angeht: Koalitionen waren eine bekannte Sache. Hätten die "Väter des Grundgesetzes" das Grundgesetz so gemeint, dass Koalitionen unrechtmäßig sind, hätten sie es erwähnt. Die Passage darüber, dass Abgeordnete an Weisungen nicht gebunden sind, ist, denke ich, so gemeint, dass sie an Weisungen nicht gebunden sind -- nicht, dass man ihnen keine Weisungen erteilen darf. Um einen Fall aus der Weimarer Republik zu nennen: Die KPD versuchte von ihrer Mandatsträger die Vollmacht zu erhalten, dass, wenn sie gegen die Parteilinie stimmen, sie von ihrem Mandat entbunden werden können. Das wurde für verfassungswidrig erklärt und es scheint mir, dass die zitierte Passage des Grundgesetz sich gegen solche Formen eines echten Fraktionszwangs richten.
Oder von rechtlich qualifizierterer Seite (der bestimmt der Vorwurf der Parteilichkeit gemacht werden kann/wird ...), der wissenschaftliche Dienst des Bundestags, der überraschenderweise nicht nur für Guttenberg arbeitet (man beachte insbesondere zweiter Absatz, Seite 2).

Aus all diesen Gründen sehe ich nicht, dass man ernsthaft die Ansicht vertreten kann, Koalitionen seien prinzipiell verfassungswidrig. Ich vermute daher bei einer Äußerung dergestalt Nebenmotive. Das mag sein, dass man persönlich Koalitionen ablehnt, dass man jemanden ärgern oder provozierend will oder dass man durch eine provokante Äußerung Öffentlichkeit gewinnen will. Das gleiche gilt anlässlich der Mitgliederbefragung über den Koalitionsvertrag in der SPD.
Etwas anderes ist die Ansicht, dass Koalitionen, Koalitionsverträge und -ausschüsse Entwicklungen entgegen den Geist der Verfassung begünstigen, beispielsweise die Rolle des Bundestags schwächen und das bloße Abnicken von Gesetzen durch Abgeordnete begünstigen. Aber genauso wie man im Strafrecht unterscheiden muss zwischen schlechten Handlungen oder auch vom Gesetzgeber unerwünschten Handlungen und verbotenen Handlungen, ist eine Handlung oder ein Zustand, der nicht mit dem Geiste der Verfassung konform ist, nicht automatisch verfassungswidrig im rechtlichen Sinne.

@Lykurg:
O Austria felix, wo man statt "Fraktion" tatsächlich "Klub"

Du darfst raten, ob ich diesen Begriff zufällig oder in Anlehnung daran gewählt habe ;).

Ipsissimus
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Fr 13. Dez 2013, 14:51 - Beitrag #9

Es wäre weder die einzige Lücke im Grundgesetz noch die einzige Praxis, die auf einem laissez faire derer beruht, die davon profitieren, Padreic. Aus meiner Sicht ist es auch hemmungslose Naivität des Verfassungsgerichts, davon auszugehen, dass von einem Koalitionsvertrag kein Gruppenzwang auf die einzelnen Abgeordneten ausgeht; mag sein, dass sich dem einzelne entziehen, die übergroße Mehrheit gewiss nicht. Jedenfalls betraf die Äußerung des Gerichts den Prozess der Entscheidungsfindung in einer Partei, nicht aber die Verwendung von Koalitionen zur Regierungsbildung. Daher sehe ich in deinen Darlegungen die Gründe nicht, die dagegen sprechen, ernsthaft die Ansicht zu vertreten, Koalitionen seien prinzipiell verfassungswidrig. Ich weiß nicht, ob meine gegenüber elaborierteren Ausführungen doch arg schlichten Überlegungen - es will mir nicht in den Kopf, wie jemand auf die Idee kommen kann, dass aus dem Kuscheln zweier oder mehrerer Parteien, die vom Volk keinen Regierungsauftrag bekommen haben, plötzlich ein Regierungsauftrag für die Kuschelung resultiert - ausreichen, um die Verfassungswidrigkeit von Koalitionen festzustellen. Ich würde es aber gerne wissen. Deine Antwort ist sicher eine Position, aber keine Antwort auf diese Kernüberlegung.

janw
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Fr 13. Dez 2013, 17:15 - Beitrag #10

Nun, ich würde zwei Dinge trennen, die Legitimität von Koalitionen an sich und die Legitimität von Koalitionsverträgen.

Koalitionen finde ich zwar aufgrund gewisser Verwischung des Wählerwillens ungünstig, halte sie allerdings im Interesse einer stetigen Regierungsarbeit für nicht vermeidbar.
Natürlich könnte es Minderheitsregierungen geben - unter dem Gesichtspunkt, dem Parlament mehr Einfluss zu geben, sicher positiv (es müssten für jede Frage Sachkoalitionen gefunden werden, die entsprechende Modulationen der zu beschließenden Sachen erfordern würden) - allerdings ließe sich damit eine kohärente Regierungsprogrammatik schwer errreichen, was zu einen dem Wähler deutlich auffallen würde, bei außenpolitischen Verflechtungen teilweise hinderlich sein könnte. Wahrscheinlich würde es häufiger zu Regierungskrisen kommen, als jetzt.

In dem Sinne, daß Politik auch Sachen regeln muss, in denen sie gut organisierten Interessengruppen gegenüber steht, wäre eine solche Konstellation in meinen Augen nachteilig, da die Regierungsarbeit gegenüber der Lobbyarbeit gebremst wäre und dem Bürger als ungeordnet erscheinen würde - was wiederum der so effizienten Lobby entgegen kommen würde.

Eine Abhilfe für das Legitimationsproblem könnte in meinen Augen sein, bei der Wahl eine Wunschkoalition mit abzufragen.

Ein Kolitionsvertrag ist eine Vereinbarung der Koalitionspartner, welche inhaltliche Konzeption ihre Regierungsarbeit verfolgen soll und welche Inhalte aus den jeweiligen Wahlprogrammen mit welcher Priorität umgesetzt werden sollen.
Letztlich liegen einem Koalitionsvertrag die jeweiligen Wahlprogramme der Partner zugrunde.

Ein Koalitionsvertrag ist meines Wissens keine rechtswirksame Bestimmung, jedenfalls nicht sanktionsbewehrt - sieht man vom möglichen Bruch der Koalition ab - von daher wirkt er in meinen Augen nicht stärker bindend auf die Abgeordneten der Fraktionen als ein Regierungsprogramm einer Einparteien-Regierung.
Das wirkliche Problem liegt in meinen Augen im Fraktionszwang, der allerdings auch nicht leicht zu beseitigen wäre.
Letztlich stellen die Parteien den Rekrutierungsraum für Kandidaten dar, wodurch der Kandidat bzw. Abgeordnete strukturell gebunden ist, im Sinne seiner Partei zu agieren. Weicht er hiervon ab, riskiert er seinen Listenplatz bei der nächsten Kandidatenaufstellung.
Das Problem sind also die enormen Hürden, die einem Einzelkandidaten im Wege stehen.

Padreic
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Sa 14. Dez 2013, 02:40 - Beitrag #11

Hauptausschuss

@janw:
Das Problem sind also die enormen Hürden, die einem Einzelkandidaten im Wege stehen.

Diese sind allerdings klar verfassungsmäßig gewollt wie das parteienorientierte Verhältniswahlrecht mitsamt 5%-Hürde zeigen. Stabilität und Verlässlichkeit von Entscheidungsprozessen und Regierung und die Freiheit des Einzelabgeordneten sind leider konkurrierende Ideale...

@Ipsissimus:
Aus meiner Sicht ist es auch hemmungslose Naivität des Verfassungsgerichts, davon auszugehen, dass von einem Koalitionsvertrag kein Gruppenzwang auf die einzelnen Abgeordneten ausgeht

Ohne persönliche Bekanntschaft mit den Damen und Herren gemacht zu haben, gehe ich davon aus, dass die Richter beim Verfassungsgericht keine Idioten sind. Natürlich ist ihnen bewusst, dass auf Abgeordnete von ihren Fraktionen und Parteien Druck ausgeübt wird. Doch erstens ist dies keineswegs eine spezielle Sache von Koalitionen (wie janw auch schon ausführt), sondern geradezu zwangsläufig mit einem Parteien- und Fraktionsprinzip verbunden (Fraktionen oder Parteien die lediglich auf inhaltlichem Konsens bei der konkreten Einzelfrage beruhen, hätten keinerlei Stabilität und würden ständig wechseln), welches eindeutig im Grundgesetz gewollt ist. Zweitens das Ausüben von Druck nicht in einem rechtlichen Widerspruch zum Recht, bei einer Abstimmung nur seinem Gewissen zu folgen. Um eine Analogie zu benutzen: Wenn mir meine Freundin, hypothetisch, sagen würde "Wenn du zu dieser Party gehst, dann ist zwischen uns beiden Schluss.", dann übt sie offenbar Druck auf mich aus; damit ist aber weder mein Grundrecht auf Bewegungsfreiheit in rechtlich belastbarer Manier verletzt noch der Tatbestand der Nötigung erfüllt. Ein Richter mag empfinden, dass das dem Gedanken von freiem Handeln widerspricht, würde er aber juristisch darüber urteilen, würde er seine Kompetenzen klar überschreiten. [Und nein, der Punkt hierbei ist nicht, dass letzteres privat ist: Strafbare Nötigung kann es natürlich auch innerhalb einer Beziehung geben.]
Zusammenfassend: Wenn Koalitionen verfassungswidrig sind, dann sind es schon Fraktionen. Gruppenzwang ist üblicherweise keine verwertbare juristische Kategorie.

es will mir nicht in den Kopf, wie jemand auf die Idee kommen kann, dass aus dem Kuscheln zweier oder mehrerer Parteien, die vom Volk keinen Regierungsauftrag bekommen haben, plötzlich ein Regierungsauftrag für die Kuschelung resultiert

'Volk' ist eine abstrakte Idee, die mir schon Probleme bereitet, aber nehmen wir sie mal an. Durch Wahlen bestimmt das Volks die legislativen Körper. Die Grundierung der Exekutive im Volk ist nur mittelbar. Der Bundestag wählt als Repräsentant des Volkes den Bundeskanzler; dass dieser von der größten Fraktion gestellt werden muss, ist genauso wenig notwendig wie das er vom größten Bundesland gestellt wird. Dass irgendeine Partei vom Volk einen Regierungsauftrag bekommen hat, ist letztlich nur leeres Geschwätz ohne inhaltliche oder juristische Begründung.
Nehmen wir beispielsweise einmal folgendes Szenario an: Zwei inhaltlich ähnliche sozialdemokratisch angehauchte Parteien haben jeweils 30% der Sitze im Bundestag gewonnen -- die übrigen 40% gehen an eine rechtspopulistische Partei. Hat damit "das Volk" gewollt, dass letztere den Regierungsauftrag bekommt? Wohl kaum: 60% der Wähler haben sozialdemokratisch gewählt, 40% rechtspopulistisch; eine Koalition der sozialdemokratischen Parteien sehe ich als wählerwillenabbildender an als eine Minderheitsregierung der rechtspopulistischen Partei (zudem würde in der Praxis eine solche niemals zustandekommen, da sie keine Mehrheit im Bundestag fände). [Das Beispiel ist natürlich etwas gekünstelt, aber ähnliche Konstellationen habe ich beispielsweise im bielefelder Studentenparlament beobachtet, wo der RCDS die stärkste Gruppe bildete, obgleich die Mehrheit der Studenten natürlich links gewählt hat; der RCDS war aber nunmal die einzige Partei rechts der Jusos, während es einen ganzen Haufen verschiedener linker Gruppierungen gab.]
Letztlich ist eine Regierung vom Volke genauso (mittelbar) getragen wie ein übliches Gesetz, das im Bundestag beschlossen wird: Über 50% der Abgeordneten unterstützen sie/es.

Das war jetzt nur die inhaltliche Auseinandersetzung. Für eine juristische müsstest du erstmal erklären, welchem Teil des Grundgesetzes es widersprechen sollte. Dass nicht ein Maximum an Demokratie realisiert wird, ist sicherlich kein Argument für die Verfassungsfeindlichkeit: Das Grundgesetz selbst legt den Charakter unserer Staatsform als repräsentative Demokratie an, wo direkte Machtausübung des Volkes bewusst eingeschränkt ist. Wenn Koalitionen deinen Ansichten über den Staat widersprechen und eines von beidem nicht unserem Grundgesetz entspricht, müssen das nicht die Koalitionen sein. Beachte: Da ich unser Grundgesetz nicht als sakrosankt betrachte, sehe ich es (in akademischer Diskussion) nicht als Kritik an, zu sagen, dass eine Ansicht unserem Grundgesetz widerspricht.

Ipsissimus
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Di 17. Dez 2013, 11:07 - Beitrag #12

Steht das Volk nicht sogar im GG? "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus ..." Artikel 20, GG?

Dass irgendeine Partei vom Volk einen Regierungsauftrag bekommen hat, ist letztlich nur leeres Geschwätz ohne inhaltliche oder juristische Begründung.

von dem Teil bis "Geschwätz" bin ich zwar zutiefst überzeugt, aber dies aus deinem Munde zu hören verwundert mich dann doch ein wenig^^ woraus zwanglos folgt, dass zwei, die dasselbe sagen, noch lange nicht dasselbe meinen^^

also dienen deiner Auffassung nach Wahlen nicht zur Regierungsbildung? Oder interpretierst du das Gesetz so, dass mit "Regierungsbildung" nicht die Ermittlung der Partei gemeint ist, die die Regierung zu stellen hat, sondern die Ermittlung der die Regierung zu stellen habenden Parteienkonstellation? Ist dies die Intention des Gesetzes, oder nur Notbehelf, einerseits der verweigerten Wertung der Nichtwähler geschuldet, andererseits aus Pragmatismus in Zeiten des Wählermangels und der Verweigerung absoluter Mehrheiten geboren, nach dem Motto, dass irgendjemand regieren muss? Des Deutschen höchste Lust, regiert zu werden? Wenn das Intention ist, warum lässt das GG nicht sofort Koalitionen wählen, warum der Umweg über Parteien?

Davon abgesehen hat mir auch noch niemand plausibel erklärt, warum ich einen Abgeordneten wählen sollte, der nur seinem Gewissen verpflichtet ist, aber nicht mir, seinem Wähler. Als Teil des Volkes bin ich laut GG der Souverän des Staates. Warum sollte ich meine Hoheitsbefugnisse abgeben an jemand, der nicht daran gebunden ist, diese Befugnisse in genau dem Sinne auszuüben, in dem ich sie selbst ausüben würde? Historisch entstand diese Gewissensregel als Schutz der Abgeordneten vor totalitären Herrschern. Heute scheint sie mir zunehmend zur Immunisierung der Abgeordneten gegenüber dem Wählerwillen eingesetzt zu werden. Was es selbstverständlich nicht unmöglich macht, im Gespräch mit seinen Lobbyisten zu gewissensfreien Entscheidungen zu gelangen^^

Padreic
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Mi 18. Dez 2013, 00:42 - Beitrag #13

@Ipsissimus: Die Bundestagswahl wählt den Bundestag. Wenn die Bundestagswahl direkt der Regierungsbildung dienen sollte, würde man vermutlich eine Regierung direkt wählen (und es die Bundesregierungswahl nennen). Das Prinzip einer repräsentativen Demokratie ist mehrstufig. Das Volk wählt den Bundestag, dieser den Bundeskanzler, dieser schlägt die Minister vor, diese können wiederum ihre ministeriale Verwaltung besetzen etc. Die erste Stufe ist dabei der größte Schritt, weil das Volk seine Entscheidungen nur alle 4 Jahre widerrufen kann. Bis zur nächsten Wahl gibt das Volk seine Macht in die Hände, die es gewählt hat. Die Verantwortung, den Bundeskanzler zu wählen, liegt somit dann beim Bundestag und nicht mehr beim Volk; die Verantwortung des Volkes ist es, die richtigen Leute mit dieser Verantwortung zu vertrauen.

Davon abgesehen hat mir auch noch niemand plausibel erklärt, warum ich einen Abgeordneten wählen sollte, der nur seinem Gewissen verpflichtet ist, aber nicht mir, seinem Wähler.
Zu ersterem hast du die einfache Möglichkeit; letzteres setzt eine Änderung der Staatsform voraus. Wenn du eine Möglichkeit siehst, einen Abgeordneten zu wählen, der dir verpflichtet ist, wäre es verständlich, diese zu ergreifen, aber wenn du nicht genug Geld zur Bestechung hast, hast du diese Möglichkeit einfach nicht.
Bleibt die Frage, warum unsere verfassungsgebende Vereinigung kein imperatives Mandat wollte. Einerseits sicherlich, um nicht die Macht der Politiker beschnitten zu sehen. Andererseits kann ein sogenanntes freies Mandat auch Kompromisbildung erleichtern. Zudem bin ich mir gar nicht so sicher, dass dem Volk mehr Entscheidungsmacht zu geben, zu besseren Entscheidungen fürs Volk führt. Ich bin sicher, dass der Durchschnittsbürger die meisten Fragen in ihrer inhaltlichen Komplexität nicht durchdringt.
Für freies und imperatives Mandat gibt es somit Pro und Contra. Letztlich bleibt es ohnehin dabei: Ich selbst kann (quasi) nichts entscheiden. Ob die Mehrheit des Volks oder die Mehrheit des Bundestags entscheidet, was kümmert's mich, wenn ich anderer Meinung bin?

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Mi 18. Dez 2013, 17:07 - Beitrag #14

Die Bundestagswahl wählt den Bundestag
Kann man wohl so sehen (abgesehen davon, dass es die Wähler sind, die wählen, nicht die Bundestagswahl^^).
Die Parteien bewerben sich aber um den Regierungsauftrag und die Stimmen der Wähler werden darauf angerechnet, ob eine Partei den Auftrag zur Regierungsbildung erhält oder nicht. Selbst wenn das nicht den wörtlichen Formulierungen des GG entspricht, so entspricht es doch im Allgemeinen dem üblichen Wahlgebaren, der Partei die Stimme zu geben, die man mit der Regierungsbildung beauftragt sehen möchte. Und die Politik beeilt sich auch nicht wirklich, diesem Gebaren zu wehren.

Bundeskanzler und Minister werden relativ zu dieser Wahl bestimmt, nicht unabhängig davon. Und dieser Punkt wird in Koalitionen angetastet. Koalitionen sind ein Mittel, den Willen der Wähler vollkommen zu verzerren und sogar ins Gegenteil zu kehren, wenn z.B. eine 5%-Partei regierungsentscheidende Bedeutung erlangt.

Zu ersterem hast du die einfache Möglichkeit
das ist richtig, und das ist Teil des Problems

letzteres setzt eine Änderung der Staatsform voraus
eher eine Änderung der ethischen Maximen von Abgeordneten. Man könnte z.B: das Wahlgesetz so ändern, dass alle, die sich wählen lassen wollen, verbindliche Aussagen über konkrete Ziele treffen müssen, die sie während ihres Mandats erreichen wollen. Nach der Legislaturperiode prüft dann eine unabhängige Ethikkommission jeden einzelnen Abgeordneten.

Zudem bin ich mir gar nicht so sicher, dass dem Volk mehr Entscheidungsmacht zu geben, zu besseren Entscheidungen fürs Volk führt. Ich bin sicher, dass der Durchschnittsbürger die meisten Fragen in ihrer inhaltlichen Komplexität nicht durchdringt.
die meisten Angehörigen der Elite sind sich sicher, dass es zur Hybris keine Alternative gibt^^ Entscheidungen in einer Demokratie hängen nicht von faktischen Notwendigkeiten ab, sondern von Mehrheiten. Was dir vorschwebt, scheint auf eine Experten-Oligarchie hinaus zu laufen^^

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So 5. Jan 2014, 14:45 - Beitrag #15

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Zitat von Ipsissimus:die Frage, ob Koalitionen verfassungskonform sind. Das wird nämlich ausschließlich an einer Stelle entschieden.
...beim Verfassungsgericht? Wieviel Obrigkeitsgläubigkeit dem entgegengebracht wird, finde ich immer wieder irritierend...

Zitat von Ipsissimus:Ich könnte mir auch vorstellen, dass das Standardmodell unserer Verfassung die Minderheitsregierung ist, die also gezwungen wäre, durch die Qualität ihrer Arbeit Mehrheiten hinter sich zu bringen. Das wäre doch mal eine witzige Machtbalance.

Würde ich ja auch gerne mal auf Bundesebene ausprobiert sehen, nachdem es in NRW ja ganz gut gegangen ist. (Modulo ein paar inhaltlicher Fehlentscheidungen, was aber nicht gerade eine Spezialität dieser Variante ist.)

Zitat von Lykurg:
Zitat von Ipsissimus:die also gezwungen wäre, durch die Qualität ihrer Arbeit Mehrheiten hinter sich zu bringen.

Leider ist das kaum zu erwarten angesichts der Erfahrungen zumindest der letzten zwei Jahrzehnte, in denen die Opposition jeweils ihr Möglichstes getan hat, mittels Bundesratsmehrheit prinzipiell alle Projekte* der Regierung zu blockieren, [...]

Die, vielleicht etwas naive, Hoffnung wäre, dass eine Minderheitsregierung keine Fundamentalregierung mehr wäre und daher auch keine Fundamentalopposition mehr hervorriefe.

Zitat von Padreic:Man beachte die genaue Urteilsbegründung: Das Verfassungsgericht sieht einen Koalitionsvertrag nicht als einen Akt öffentlicher Gewalt -- damit sind Verfassungsbeschwerden dagegen auch unzulässig.
Meines Erachtens eine gefährliche Selbstbeschneidung (und das von mir, der das Gericht andererseits ja immer beschneiden möchte...): das Verfassungsgericht ist, wenn vielleicht auch nicht per Charta (habe ich nicht gelesen), so doch zumindest per Notwendigkeit und per geübter Praxis, auch dazu da, verfassungsfeindliches Fehlverhalten von Politikern in hohen Machtpositionen zu verhindern - ganz einfach, weil keine andere Instanz dazu in der Lage ist.

Zitat von Ipsissimus:es will mir nicht in den Kopf, wie jemand auf die Idee kommen kann, dass aus dem Kuscheln zweier oder mehrerer Parteien, die vom Volk keinen Regierungsauftrag bekommen haben, plötzlich ein Regierungsauftrag für die Kuschelung resultiert
Hatten wir schon zigmal, aber die ganz einfache Erklärung (parallel zu Padreics formellerer) ist immer noch: Der Wähler weiß, dass Koalitionen gebildet werden können, also erteilt er mit seiner Wahl einer koalitionswilligen Partei dieser implizit einen Koalitionsbildungsauftrag für den Fall, dass sie nicht allein regieren kann. So dumm das Wahlvolk im allgemeinen sein mag, es beschränkt sich nicht auf ein beleidigtes "wenn nicht genau so, wie ich will, dann gar nicht", sondern eine Koalition ist die beste Möglichkeit, ihm zumindest einen Teil seines Wunsches zu erfüllen. (Siehe auch nochmal weiter unten zum Thema "Bewerbung um den Regierungsauftrag").

Zitat von janw:In dem Sinne, daß Politik auch Sachen regeln muss, in denen sie gut organisierten Interessengruppen gegenüber steht, wäre eine solche Konstellation in meinen Augen nachteilig, da die Regierungsarbeit gegenüber der Lobbyarbeit gebremst wäre und dem Bürger als ungeordnet erscheinen würde - was wiederum der so effizienten Lobby entgegen kommen würde.

Andererseits müsste die Lobby sich auch mehr Mühe machen, echte Mehrheiten zu organisieren - es würde nicht mehr reichen, eine Splitterpartei zu vereinnahmen, die dann per Koalitionsvertrag kleinen Klientelgeschenken zu unverhofften Mehrheiten verhilft...

Zitat von janw:Eine Abhilfe für das Legitimationsproblem könnte in meinen Augen sein, bei der Wahl eine Wunschkoalition mit abzufragen.
Hatte ich in einer ähnlichen Diskussion auch schonmal vorgeschlagen. Nur die Verrechnung würde ziemlich schwierig.

Zitat von Ipsissimus:Davon abgesehen hat mir auch noch niemand plausibel erklärt, warum ich einen Abgeordneten wählen sollte, der nur seinem Gewissen verpflichtet ist, aber nicht mir, seinem Wähler.
Wichtige Anmerkung - ich frage mich auch immer, wieso die gleichen Leute einerseits "die Politiker" für untauglich erklären und deren Gewissensfreiheit als höchstes Gut verteidigen. Nur ist meine Konsequenz, dass eine Partei mit ihren Kontrollmechanismen mir noch lieber ist als ein nur seinem eigenen "Gewissen" (lies: Vorurteile, Eigeninteressen, Einflüsterer, Bestecher, ..,) verpflichteter Einzelabgeordneter.

Zitat von Ipsissimus:Die Parteien bewerben sich aber um den Regierungsauftrag und die Stimmen der Wähler werden darauf angerechnet, ob eine Partei den Auftrag zur Regierungsbildung erhält oder nicht.
Das ist meines Erachtens einer deiner Denkfehler bei der Koalitionskritik - du denkst die Sache sehr binär. Man will regieren oder nicht. Tatsächlich (wenn auch leicht idealisierend) treten die Parteien aber zur Wahl an mit einem Programm an und dem (...leeren... ;)) Versprechen, so viel wie möglich davon umzusetzen. Wenn eine Koalition die beste Möglichkeit ist, einen großen Anteil davon umzusetzen, dann ist das die bestmögliche Umsetzung des Wählerwillens, der dieses Programm gegenüber den anderen Programmen bevorzugte.

Zitat von Ipsissimus:Koalitionen sind ein Mittel, den Willen der Wähler vollkommen zu verzerren und sogar ins Gegenteil zu kehren, wenn z.B. eine 5%-Partei regierungsentscheidende Bedeutung erlangt.
Auch der Logik kann ich nicht folgen. Kommt (im einfachsten Rechenbeispiel, dass 100% der Stimmen 100% der Sitze entsprechen) eine 5%-Partei in die Regierung, so haben 45+x% der Wähler Parteien gewählt, die bereit sind, mit dieser Partei zu koalieren. Sofern diese 45+x% ihren Mandatsträgern im üblichen Rahmen vertrauen, zu regieren, so kann man auch annehmen, dass sie ihnen vertrauen, der 5%-Partei nur im Rahmen ihrer tatsächlichen numerischen Bedeutung und inhaltlichen Akzeptabilität Regierungsgewalt zu überlassen.
Kann die 5%-Partei 95% der Regierungsinhalte diktieren und/oder Inhalte, die dem Programm der 45+%-Parteien extrem widersprechen durchsetzen, so ist das der Fehler der völlig unfähigen/unehrlichen Vertreter der 45+%-Parteien, nicht der Fehler des Koalitionsprinzips.

Ipsissimus
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Do 9. Jan 2014, 16:15 - Beitrag #16

...beim Verfassungsgericht? Wieviel Obrigkeitsgläubigkeit dem entgegengebracht wird, finde ich immer wieder irritierend...
Eigentlich im Grundgesetz. Das Gericht prüft nur auf Antrag die Konformität.

Der Wähler weiß, dass Koalitionen gebildet werden können, also erteilt er mit seiner Wahl einer koalitionswilligen Partei dieser implizit einen Koalitionsbildungsauftrag für den Fall, dass sie nicht allein regieren kann.
Das ist die staatstragende Interpretation, oder sollte ich eher sagen, die Interpretation, an der den Parteien am meisten gelegen ist. Sie krankt daran, dass es bei unseren Wahlen keine Möglichkeit gibt, diese Partei darf auf keinen Fall an die Macht kommen zu wählen. Dass es, mit anderen Worten, keine positive Negativ-Wahl gibt, es gibt keine positive Wahl in die Opposition. Wenn es die gäbe, du darfst dir sicher sein, wäre auch die Wahlbeteiligung kein Thema mehr. Diese Interpretation legt alles, was in irgendeiner Weise vom Grundgesetz offengelassen wurde, zugunsten der Machtzuweisung an Parteien aus und nicht zugunsten der Hinterfragung der Parteienmacht. Aber es ist eben nur eine Interpretation, noch dazu eine, die im wesentlichen von denen getragen wird, die davon profitieren.

- du denkst die Sache sehr binär. Man will regieren oder nicht.
ich denke sie sogar unär: man will regieren. Das oder nicht entsteht erst, wenn man nicht darf. Dann nimmt man auch gerne die Diäten, die man trotzdem bekommen kann. Oder geht in eine Koalition, wenn man kann.

Wenn eine Koalition die beste Möglichkeit ist, einen großen Anteil davon umzusetzen, dann ist das die bestmögliche Umsetzung des Wählerwillens, der dieses Programm gegenüber den anderen Programmen bevorzugte.
als Koalitionspartei musst du den Scheiß deiner Koalitionspartner mittragen. Das ist ganz sicher nicht im Sinne derer, die dich gewählt haben, damit du verhinderst, dass dieser Scheiß umgesetzt wird.

Sofern diese 45+x% ihren Mandatsträgern im üblichen Rahmen vertrauen, zu regieren, so kann man auch annehmen, dass sie ihnen vertrauen, der 5%-Partei nur im Rahmen ihrer tatsächlichen numerischen Bedeutung und inhaltlichen Akzeptabilität Regierungsgewalt zu überlassen. Kann die 5%-Partei 95% der Regierungsinhalte diktieren und/oder Inhalte, die dem Programm der 45+%-Parteien extrem widersprechen durchsetzen, so ist das der Fehler der völlig unfähigen/unehrlichen Vertreter der 45+%-Parteien, nicht der Fehler des Koalitionsprinzips.
das ist aus meiner Sicht wieder einfache staatstragende Logik. Wir haben schon oft erlebt, dass die kleinen Partner Regierungsprogramme entscheidend beeinflusst haben; und unfähige oder unehrliche Politiker sind Teil des Systems, und somit auch des Koalitionsprinzips.

Außerdem kenne ich außer Parteimitgliedern kaum noch jemanden, der einer Partei oder Politikern vertraut. Wer überhaupt noch wählt, wählt, weil er glaubt, dass gewählt werden muss, und in der Hoffnung - nicht in dem Vertrauen - das kleinere Übel erwischt zu haben. Eigentlich ist das ein Armutszeugnis für das politische System, dass es seine Bürger in die Resignation treibt.

Traitor
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Sa 18. Jan 2014, 18:24 - Beitrag #17

Eigentlich im Grundgesetz. Das Gericht prüft nur auf Antrag die Konformität.
Das Grundgesetz kann als passiv im Regal stehendes Büchlein nur leider keine Entscheidungen treffen. Und selbst, wenn es das könnte, wären seine Meinungen in vielen Fällen, unter anderem dem hier, zu schwammig.

Eigentlich denke ich, dass du mit der vorherrschenden Interpretation noch recht zufrieden sein solltest, angesichts des Mangels an Alternativen. Eine repräsentative Demokratie kann nur mit Koalitionen oder als Zwei-Parteien-System stabil sein. Ich vermute, letzteres gefällt dir noch weniger. Und die repräsentative Demokratie an sich steht nunmal doch im Grundgesetzt, die grundsätzlich zu ändern, wäre dann eben kein bloßer Interpretationswechsel mehr.

Ein komplexeres Wahlsystem böte definitiv Möglichkeiten, eine höhere Legitimation zu erreichen. Leider auch mehr Missbrauchs- und Fehlerpotential.

als Koalitionspartei musst du den Scheiß deiner Koalitionspartner mittragen. Das ist ganz sicher nicht im Sinne derer, die dich gewählt haben, damit du verhinderst, dass dieser Scheiß umgesetzt wird.
Weder muss eine Koalition notwendigerweise für eine ganze Legislaturperiode halten, noch liefert die bisherige Geschichte Belege dafür, dass eine Koalition immer allen "Scheiß" aller Partner umsetzte. Obwohl die große Koalition 2005-2009 auch auf der positiven Seite erschreckend wenig hervorbrachte, ist sie doch ein gutes Beispiel dafür, wie die SPD das meiste, was die CDU 2005 eigentlich angedroht hatte, verhindern konnte. Im Zweifel einigen Koalitionen sich meistens auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, echtes Umkippen in zentralen Vetopunkten ist deutlich seltener als reines Um-4-Jahre-Verschieben von Forderungen.

das ist aus meiner Sicht wieder einfache staatstragende Logik. Wir haben schon oft erlebt, dass die kleinen Partner Regierungsprogramme entscheidend beeinflusst haben; und unfähige oder unehrliche Politiker sind Teil des Systems, und somit auch des Koalitionsprinzips.
S.o. zu den Programmen. Und Politikermängel, die Teil des Grundsystems sind, sind dann eben keine Besonderheit dieser Ausprägung.

Außerdem kenne ich außer Parteimitgliedern kaum noch jemanden, der einer Partei oder Politikern vertraut. Wer überhaupt noch wählt, wählt, weil er glaubt, dass gewählt werden muss, und in der Hoffnung - nicht in dem Vertrauen - das kleinere Übel erwischt zu haben. Eigentlich ist das ein Armutszeugnis für das politische System, dass es seine Bürger in die Resignation treibt.
Alles wahr und traurig. Im Vergleich mit koalitionslosen Ländern wie Amerika sehe ich aber keine Anzeichen, dass der Hauptgrund dafür Koalitionen seien.


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