Nachdem ja jetzt fast schon Gras über die Sache gewachsen ist
muss zumindest angemerkt werden, dass die Kombination von Massenverhaftungen bei gleichzeitigen Massenentlassungen bei Militär, Justiz und Verwaltung ziemlich gefährlich ist. Wer führt jetzt eigentlich diese Massenverhaftungen durch, wenn der Staat keine Beamten mehr hat?(Anzumerken ist natürlich, dass mein Vertrauen in die türkische Justiz, Militär und Verwaltung so gering war, dass es mich schon arg verwundert, dass die türkische Exekutive und Judikative auf einmal so viele Freunde im Westen hat.) Die gegenwertige Ereignisse des Kontraputsches sind deshalb auch kein Staatsterror, sondern das Wüten des entfesselten Mobs, angeleitet vom Volkstribun Erdogan. Es gibt keinen neuen Sultan am Bosporus, sondern eine Ochlokratie.
Das schlimmste an der Politik Erdogans ist natürlich, dass das Militär demnächst wahrscheinlich (mit Ausnahme Kurdistans) nicht mehr im Inneren eingesetzt werden wird und somit ihre verfassungsgemäße Kontrollfunktion nicht mehr wahrnehmen kann.
Ein sichtbares Merkmal für eine Herrschaft der Massen ist, dass neuerliche Bündnis zwischen Erdogans AKP und der ultranationalistisch-kemalistischen MHP. Zusammen hatte man die Parlamentsmehrheit für den Ausnahmezustand, demnächst vielleicht auch für Verfassungsänderungen wie Wiedereinführung der Todesstrafe. (Dass MHP und AKP politisch und programmatische vor ein paar Jahren noch Antipoden waren, spielt eigentlich keine Rolle mehr, seit die AKP permanent kemalistischen Unfug predigt und gegen Europa hetzt.) Zur Todesstrafe ist natürlich Erdogan ochlokratsische Erklärung zu beachten: Man muss die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Das wird man ja wohl noch sagen durfen. (Die Ähnlichkeiten zur rechtspopulistischen Strömungen in West- und Mitteuropa sind gravierend!)
Zum eigentlichen Problem in der Türkei:
Der Richtungsstreit innerhalb der Gesellschaft ist extrem, wobei die genaue Anzahl der Lager noch unklar ist.
Gibt es die Gülen-Bewegung wirklich? Auf welcher Seite stehen die Putschisten wirklich? Welche Partei ist eigentlich nicht kemalistisch?
Diese Fragen kann man nicht ohne weiteres beantworten, weil es neben der öffentlichen Türkei, scheinbar noch eine geheime Türkei gibt.
Das Problem ist, dass der Richtungsstreit eben nicht in der Öffentlichkeit, im Parlament oder den Medien ausgetragen wird. Ein Großteil der Parteien haben den kemalistsichen Habitus zumindest als Fassade angekommen. Politische Gegner werden als Terroristen denunziert und ausgeschaltet. Die Unterscheidung von Gülen-Bewegung, "
tiefer Staat", Daesh oder PKK ist dabei nur ein unwesentliches Detail. Im Grundeläuft es immer auf Verrat an Türkentum, Kemalismus, Demokratie, Säkularismus oder Islam hinaus. In der Auswahl des zu schützenden Fetischs ist man flexibel.
Die Konsequenz einer kaum entwickelten Zivilgesellschaft ist, dass diese Macht- und Richtungskämpfe mit anderen Mitteln ausgetragen werden. Was anderswo als schmerzhafter gesellschaftlicher Diskurs geführt wird, wird in der Türkei seit Jahrzehnt durch Urteile der Justiz, militärische Interventionen, Straßenkmäpfe oder Terrorismus
gelöst. Die Lösung ist natürlich auch das eigentliche Problem. Die Türken müssen aufhören die nationale Einheit zum Kern der Politik zu machen. In einer Nation müssen verschiedene Meinungen zulässig sein. Meine Kritik richtet sich nicht nur gegen Erdogan, denn man muss sich gar nicht erst bemühen den Präsidenten einer Ochlokratie zu kritisieren.