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BeitragVerfasst: Mo 1. Aug 2016, 23:13
von Lykurg
Daß Gülen und Erdogan früher Weggefährten waren, hat doch so ziemlich jede Zeitung zu Beginn der Anschuldigungen einmal erwähnt? Wenn sie gemeinsam die Unterwanderung angezettelt haben, ist natürlich weniger verwunderlich, daß Erdogan jetzt auch die Namenslisten in der Schublade hatte...

BeitragVerfasst: Mo 1. Aug 2016, 23:52
von Ipsissimus
das erinnert mich an die Geschichte vom geköpften Hashischim^^

BeitragVerfasst: Di 2. Aug 2016, 08:59
von Lykurg
Die Geschichte kenne ich nicht, und Google hilft nicht weiter - worum geht es dabei?

BeitragVerfasst: Di 2. Aug 2016, 10:17
von Ipsissimus
Spielt zu Zeiten der echten Hashishim, also etwa zwischen 1000 und 1200 nach Null, irgendwo im Vorderen Orient. Der Alte vom Berg, legendärer Chef dieser kleinen aber feinen Elitemörder-Truppe, war zu der Ansicht gelangt, dass seine Glaubensbrüder mal wieder einen intensiven Motivationsschub benötigten, um ihren Ergeiz für die gute Sache - in aller Regel Potentatenmorde mit nachfolgendem Beischlaf mit 70 paradiesischen Jungfrauen - auf der Höhe der Notwendigkeit zu halten. Er hatte einen guten Kumpel, der für die Ausbildung der Jungs zuständig war. Den ließ er eines schönen Tages also unter großem Brimborium mal köpfen, der Henker verstand sein Handwerk. Danach ließ er seine Jungs alle im großen Versammlungssaal antreten und erklärte ihnen, dass seine Macht sich nicht nur auf die irdische Gerichtsbarkeit begrenze, sondern dass er Verräter an der guten Sache auch in die Hölle statt zu den Jungfrauen schicken könne. Als Beweis vollzog er, mit viel Brimborium, eine große Beschwörung, und siehe da, der gerade eben erst abgeschlagene Kopf tauchte, mit Donner, Schall und Rauch, aus dem Boden auf und schrie gar schrecklich über seinen Höllenqualen.

Na, den Kumpels reichte das. Gestärkt durch das Wissen, was ihr Chef alles zustande bringt, machten sie sich auf den Weg zu den Potentaten und Jungfrauen. Der Chef wartete noch ein paar Minuten, bis sie alle die Halle verlassen hatten, dann drückte er einen verborgenen Knopf und der Faltmechanismus öffnete sich, sein Kumpel stieg grinsend die Leiter hoch, auf der er die ganze Zeit gestanden hatte udn schnappte sich ein Glas Wein. "Wirklich sehr unheimliche Schreie", meinte der Alte.

Will sagen, der Trick mit den angeblichen Antagonisten ist altbekannt^^

BeitragVerfasst: So 13. Nov 2016, 11:06
von Maglor
In "der Freitag" gibt es eine brilliante Erklärung für die türkischen Verhältnisse: Erdogan: Ein Kind des Systems
Zitat von Cüneyd Dinc:Dabei waren dem Staat immer solche gesellschaftlichen Gruppen ein Dorn im Auge, die den Status Quo in Frage stellten und dabei eigene Forderungen stellten, nämlich Kurde, Linke und Religiöse. Gegen alle diese „unbotmäßigen“ und „aufsässigen Kinder“ ging der türkische Staat rigoros vor, in dem er ihre politischen Parteien verbot und ihre Führer ins Gefängnis steckte. Eine dieser prominenten Figuren, die – wenn auch für kurze Zeit – ins Gefängnis kamen, war Erdoğan.

Als die AKP 2001 an die Macht kam, hatte sich an dem bisherigen System nichts geändert. Erdoğan und seine Partei führten in der ersten Phase ihrer Herrschaft einen zermürbenden Kampf gegen die Vertreter des alten Systems, zusammen in einer Allianz mit Linksliberalen, konservativen Kurden und den Anhängern des Predigers Fetullah Gülen. Insbesondere letztere waren in dieser Zeit eine wichtige Stütze des Machtkampfs der AKP mit der Staat, da sie, ungleich der AKP, gut ausgebildetes Personal hatten, welche leicht Positionen im Staatsapparat und im Militär übernehmen konnte. Der Kampf zwischen AKP Regierung und dem Staatsapparat endete mit dem Sieg der AKP, die 2007 das Präsidentenamt eroberten und nach und nach alle Positionen im Staat mit ihren Leuten besetzten. Die AKP und Erdoğan wurden zum „Staat“ und begannen sich im Streit von den alten Partnern zu trennen.

Auf den Putsch und die nachfolgenden Konteraktion wird zwar gar nicht direkt eingegangen, aber der Wandel Erdogans vom islamistischen Reformer zum neokemalistischen Autokraten wird auf verständliche Weise erklärt.
Natürlich bleiben noch Fragen offen. Insbesondere die außenpolitischen Kurswechsel der Türkei ist erklärungsbedürftigt. Gleiches gilt für das Konstrukt des "tiefen Staates", das als eine zentrale Verschwörungstheorie immer wieder von Gegnern und Befürwortern Erdogans aus der Mottenkiste hervorgeholt wird.

BeitragVerfasst: Mi 1. Feb 2017, 22:55
von Maglor
Dieser Spiegel-Artikel liefert eine aktuelle Zusammenfassung der Entwicklung des Gülen-Phänomens.

Wer hinter dem Putschversuch steckt, wird zwar auch nicht erklärt, bemerkenswert ist jedoch folgendes Zitat.
Zitat von Spiegel:Ein halbes Jahr nach dem Putsch seien noch immer etliche Fragen offen, sagt Gareth Jenkins, Türkei-Experte am Central Asia-Caucasus Institute. "Sicher ist nur: Erdogan und die Gülen-Gemeinde haben die Demokratie in der Türkei lange vor dem 15. Juli gemeinsam beschädigt."

Liberale Akademiker und Journalisten wie der "Cumhuriyet"-Reporter Ahmet Sik haben dokumentiert, wie Anhänger der Gülen-Sekte in den vergangenen Jahren Polizei, Justiz und Militär in der Türkei unterwanderten. Sie waren es auch, die am meisten unter der Erdogan-Gülen-Koalition litten.


Irrationalerweise wurde der oben genannte Journalist Ahmet Sik im Dezember 2016 als angeblicher Gülen-Anhänger verhaftet.
Für seine Inhaftierung im Jahre 2012 macht Sik für Gülen-Verschwörung in Polizei und Justiz verantwortlich. Seine Peiniger von einst, seien jetzt ebenfalls inhaftiert.
Siks neue Verteidigungsrede vor Gericht wurde in der ZEIT veröffentlicht.
Er findet auch eine Erklärung für den Putsch.
Zitat von Ahmet Sik:Als die beiden Komplizien, die Gülen-Bewegung und die AKP, in eine Phase des Kampfes miteinander eintraten um die Macht im Staat, dessen Kontrolle sie übernommen hatten, steigerte sich das bis zum Putschversuch am 15. Juli und dessen blutigen Folgen. Der Putschversuch war nicht erfolgreich. Wäre es erfolgreich gewesen, wäre eben das geschehen, was jetzt geschieht.

BeitragVerfasst: Mi 12. Jul 2017, 19:04
von Maglor
Ein Jahr ist seit dem Putsch entstanden.

Die nationalistische Querfront, die sich nach dem Putsch, bildete, ist in Auflösung begriffen.
Vielleicht begreift die deutsche Öffentlichkeit demnächst auch, dass die nun vermehrt wieder oppositionell auftretende kemalistische Partei, die ganze Anti-PKK- und Anti-Gülen-Hetze im wesentlichen mitgetragen, wenn nicht angeführt hat. Die kemalistische Opposition will keine andere Türkei, sie will nur an einer anti-kurdischen, anti-linken und anti-islamistischen Querfront teilhaben. Bei der PKK und der Gülen-Bewegung handelt sich um ursprünglich kemalistische Feindbilder.
Aber das Feindbild Erdogan würde in Deutschland an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn man zugibt, dass die türkische Opposition aus Faschisten, Islamisten, Stalinisten, Kemalisten und anderen Irren besteht.

Zur besten Sendezeit (d.h. nachts) hat sich nach einem Jahr auch die ARD um eine objektive Darstellung bemüht. Leider habe ich die Sendung noch nicht gesehen.
Der Spiegel berichtete über die Dokumantation.

Zitat von SPIEGEL:In der ARD kommen nun Menschen zu Wort, deren Stimmen in Deutschland eher selten zu hören sind: Opfer der Erdogan-Gülen-Koalition, säkulare Politiker, Journalisten und Offiziere, die in den vergangenen Jahren ihre Jobs verloren haben oder auf Grundlage gefälschter Beweise ins Gefängnis gesperrt wurden. Sie kritisieren die autoritäre Politik Erdogans, doch sie lassen keinen Zweifel daran, wen sie für den Schuldigen am Staatsstreich halten: die Gülen-Sekte.

Die Türkei - traumatisiert und verunsichert

Die Dokumentation sollten deshalb gerade auch jene deutschen Beamten genau verfolgen, die, wie etwa BND-Präsident Bruno Kahl, offenbar noch immer glauben, bei der Gülen-Gemeinde handle es sich ausschließlich um eine zivilgesellschaftliche Bildungsbewegung.

Woran merkt man eigentlich, dass ein Geheimdiestchef lügt? Er bewegt seine Lippen. :crazy:

Ich befürchte aber, dass dieses Aufräumen mit den Legenden im Grundrauschen verschwindet. Die Legende, dass Erdogan einer harmlosen islamischen Gemeinschaft und unschuldigen Offizieren die Schuld für den Putsch in Schuhe geschoben hat, ist auch zu schön, um wahr zu sein. Trotzdem muss sie geglaubt werden, weil wir um so besser werden, je böser Erdogan wird. :(