Nahtoderfahrungen und Religiosität

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Do 17. Feb 2011, 14:36 - Beitrag #1

Nahtoderfahrungen und Religiosität

Der MDR berichtete über Nahtoderfahrungen in Ost und West. Auf der Seite mit dem Beitrag aus der Sendung "exakt - Das ANchrichtenmagazin" finden sich die Videos vom Beitrag sowie einem längeren Interview mit der auch im Beitrag vorkommenden soziologin und der Link zum runterladen eines PDFs mit dem Sendungsmanuskript.

Ich fasse das ganze mal (vielleicht wieder einmal gewagt und verkürzend) so zusammen: es gibt Nahtoderfahrungen, die Berichte ähneln sich in dem, was erlebt wurde, aber unterscheiden sich in dem, wie es gedeutet wurde. Im christlicheren Westen wird auch von Nichtchristen das ganze als angenehm und die Schwelle zu dem, was nach dem irdischen Leben folgt, gesehen, während im offenbar die alles christlich-religiöse negierende Prägung durch das Umfeld (besonders zu DDR-Zeiten, heute wohl schwächer) dazu führt, Nachtoderlebnisse zwar als Phase im Sterben, aber eher nicht als Übergang zu etwas anderem zu verstehen und es insofern folgerichtig weniger positiv zu bewerten.

Das ganze führt dann wohl zu der Gretchenfrage, wer nun Recht hat bzw. wie das zu erklären ist: ist die christliche Deutung von Nahtoderfahrungen die richtige, belegt letzlich durch zutreffende Tradierung, die ggf. bis zum jeweiigen Religionsbegründer zurückgeführt werden kann? Oder gibt es diese Art erweiterten Bewusstseins am Lebensende zwar schon, aber ist danach dann alles Erleben durch die eigene vom irdischen Körper doch nicht "dauerhaft" gelöste Persönlichkeit beendet und das Leben nach dem Tode die wohl am weitesten und besten verbreitete Urbane Legende?

Ipsissimus
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Do 17. Feb 2011, 15:01 - Beitrag #2

ist vielleicht eher eine philosophische Fragestellung; wissenschaftlich dürfte klar sein, dass Nahtod-Erfahrungen halluzinative Zustände des Gehirns sind und damit nichts mit Erfahrungen von Todsein, sozusagen mit erlebtem Todsein^^ zu tun haben.

Ich denke allerdings nicht, dass es etwas damit zu tun hat, ob christlich-religiöse Prägungen negativ konnotiert sind, wenn derartige Halluzinationen als unangenehm empfunden werden. Vielmehr halte ich dafür, dass dafür die Frage entscheidend ist, ob jemand angesichts seines Lebens Schuldgefühle empfindet und für die Zeit nach dem biologischen Tod Strafaktionen erwartet.

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Do 17. Feb 2011, 15:09 - Beitrag #3

Ob das wissenschaftlich so klar ist, weiss ich nicht. Leidergerade nicht mehr greifbar hatte ich vor längerem mal - zumindest auf mich - überzeugend wirkende Dokumente gefunden, wonach es mehrere Fälle gab, in denen nach Nahtoderfahrungen zB die medizinischen Maßnahmen im OP so detailliert zutreffend geschildert wurden, das (bei medizinischen Laien) offebar sicher von einer extrakorporalen Wahrnehmung, die nach Reanimation auch erinnert werden kann, auszugehen ist.
Evtl. mache ich mich demnächst nochmal auf die Suche, es gab da meine nur unsicheren Erinnerung nach auch experimente, bei denen im Krankenhaus-7OP-Bereich dem gesamten Personal vor Ort unbekannte und nicht einzusehende Bilder so unter/Richtung Decke angebracht wrden, dass diese nur bei diesem für Nahtoderfahrungen typischen schweben im Raum erkannt werden konnten. Und genau das geschah wohl auch.

Ipsissimus
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Do 17. Feb 2011, 15:21 - Beitrag #4

wissenschaftlich gibt es da eigentlich überhaupt keine Frage, dass bei Nahtod-Erfahrungen kein Einblick in eine transzendente Wirklichkeit zugänglich wird. Die Dinge spielen sich im Gehirn ab.

Eine andere Frage ist das der Wahrnehmung. Das Gehirn wird in jeder Sekunde mit einer irrsinnigen Datenmenge überflutet; im Laufe der Evolution sind dagegen immer effektivere Filtermechanismen entstanden, deren Algorithmen nur noch in ihrem Sinne relevante Daten durchlassen. Wenn das Gehirn in einen außergewöhnlichen Zustand gerät, etwa bei Drogenkonsum, in Situationen höchster Gefahr und desgleichen, kann es passieren, dass diese Filter teilweise oder ganz ausfallen. Vieles, was im Normalfall unbewusst bleibt, kann dann bewusst werden, z.B. auch Wahrnehmungen von versteckten Gegenständen, die sich z.B. durch minimale thermische Differenzen zur Umgebung verraten.

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Do 17. Feb 2011, 15:45 - Beitrag #5

Zitat von Ipsissimus:wissenschaftlich gibt es da eigentlich überhaupt keine Frage, dass bei Nahtod-Erfahrungen kein Einblick in eine transzendente Wirklichkeit zugänglich wird. Die Dinge spielen sich im Gehirn ab.
[...]
Vieles, was im Normalfall unbewusst bleibt, kann dann bewusst werden, z.B. auch Wahrnehmungen von versteckten Gegenständen, die sich z.B. durch minimale thermische Differenzen zur Umgebung verraten.


Bei ersterem habe ich, zugegeben nur durch letztlich bauchgefühlinduzierte Überzeugung durch viele Berichte und erlebnisschilderungen, schon die Meinung, dass es etwas transzendentes/jenseitiges/vom normalen Leben klar unterscheidbares gibt, zu denen manche Menschen eben bei Nahtoderfahrungen oder aber auch so (Medium, Wahrsager) Kontakte herstellen bzw. etwas aus anderen zeitpunkten erkennen können. Aber auch die Fälle, wo zB eine Wahrsagerin mit m.E. nicht anders als durch übersinnliche Fähigkeiten erklärbar etwas exakt zutreffend voraussagte, sind nicht perfekt, weil diejenigen zwar teils "treffen", aber auch in anderen Dingen danabenliegen und dies woh weder selber erkennen könenn noch von außen sicher beurteilbar ist.

Beim zweiterem schließe ich daraus, dass der Mensch eigentlich einen hochempfindlichen "Wärmebildsensor" hat, der auch lebenslang funktioniert, dessen Messungen aber nur im seltenen Extremfall tatsächlich bewusst wahrnehmbar werden. Eine wie ich finde gewöhnungsbedürftige Vorstellung, womit ausdrücklich keine Einschätzung verbunbden sei, ob das zutreffend/denkbar/realistisch oder eben nicht ist.

Ipsissimus
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Do 17. Feb 2011, 16:13 - Beitrag #6

ich kenne ein paar Leute, die Nahtod-Erfahrungen durchlebt haben; für diese Menschen steht es außer Frage, dass sie etwas Transzendentes erlebt haben, und alle Erklärungen wissenschaftlicher Provenienz, die diesen Umstand nicht bestätigen, sind für sie schlichtweg irrelevant. Leider erfolgt daraus nicht, dass ihre Erfahrungen tatsächlich transzendenter Natur waren.

eine solche Sensorik gibt es tatsächlich, wie zum Beispiel anhand der sensorischen Leistungen von Geburtsblinden deutlich wird, die auch bei verstopften Ohren und zugehaltener Nase anhand der Wärmeausstrahlung spüren können, ob sie an einem Haus vorbeigehen, wenn dieses eine Temperaturdifferenz zur Umgebung aufweist

Lykurg
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Do 17. Feb 2011, 16:16 - Beitrag #7

Die ist ja auch im Tierreich sehr verbreitet, es wäre insofern überraschend, wenn sie beim Menschen ganz fehlte. Verkümmerung ist biologisch naheliegender.

Das von 009 genannte Experiment mit den Bildern finde ich sehr eigenartig. Zumindest wenn die Erlebenden auch Inhalte wahrnehmen konnten, wäre Wärmesicht als Erklärung ja noch nicht im Ansatz ausreichend...

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Do 17. Feb 2011, 16:32 - Beitrag #8

Zitat von Ipsissimus:eine solche Sensorik gibt es tatsächlich, wie zum Beispiel anhand der sensorischen Leistungen von Geburtsblinden deutlich wird, die auch bei verstopften Ohren und zugehaltener Nase anhand der Wärmeausstrahlung spüren können, ob sie an einem Haus vorbeigehen, wenn dieses eine Temperaturdifferenz zur Umgebung aufweist


Spontane, vielleicht krude Idee: mag es vielleicht eine Korrelation von besonders anziehend empfundenen Personen, wo das angezogen werden nicht wirklich erklärt werden kann, mit einer bei diesen höhrern Körpertemperatur geben?

Lykurg
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Do 17. Feb 2011, 16:35 - Beitrag #9

Geruch finde ich da wesentlich naheliegender, dafür gibt es ja jedenfalls auch die entsprechenden Untersuchungen.

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Do 17. Feb 2011, 22:01 - Beitrag #10

Zitat von Ipsissimus:wissenschaftlich gibt es da eigentlich überhaupt keine Frage, dass bei Nahtod-Erfahrungen kein Einblick in eine transzendente Wirklichkeit zugänglich wird. Die Dinge spielen sich im Gehirn ab.


Gerade dieses Interview mit einem Neuropsychologen gesehen. Einige interessante, mir so (noch) nicht ganz klar gewesene Aspekte:

- mit der (auch von mir nicht hinterfragten) Definition, dass der Tod die irreversible Bendigung aller organischen Aktivitäten bzw. vor allem der Gehirnaktivitäten ist, kann niemand der noch unter den lebenden weilt, berichten, wie es hinter der Schwelle des Todes aussieht.
Ich nehme mir aber die Freiheit, diese Nahtodeserfahrungen als eben doch irgendwie auch mit dem hinter der Todesschwelle liegenden in starkem Zusammenhang liegend zu sehen.

- bei den auérkörperlichen erfahrungen, wo objektiv üpberzegend geschildert wird, wie man seinen Körper ganz verlassen habe, ist zu berücksichtigen, dass das Körperemfinden das Gehirn nicht mit einschliesst. Wir spüren zwar, wenn eine Extremeitt taub oder nicht mehr da ist, aber ob das Gehirn (noch) da und aktiv ist, kann der Mensch selber nicht feststellen.

Maglor
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Do 17. Feb 2011, 22:20 - Beitrag #11

Bewusstseintrübungen kann man ganz unterschiedlich deuten.
Entweder man betrachtet sie als einen kurzzeitigen Ausfall und betrachtet das "gesehene" als Halluzination etc. oder aber man darin eine andere Art Realität.
Es liegt in der Natur der Sache, dass beide Positionen "falsch" sind. Alle Realität entsteht im Gehirn, das gewohnte Bild der Wirklichkeit und des Seins ist nur die gewohnte Illusion. Gerade die Sache mit dem Ausfall der Filter deutet ja darauf hin, dass diese ungefiltere Wirklichkeit eine wirklichere Wirklichkeit ist, auch wenn der Mensch mit dieser nicht zurecht kommt.

Zur Ausgangsfrage:
Die eigentliche Frage ist hier nicht, was die Menschen gesehen oder erlebt haben. Sie sind einer Meinung: Es war der Tod.
Der Unterschied zwischen ihnen ist, was sie unter dem Tod verstehen: Das Ende oder einen neuen Anfang

Unkar bleibt inwieweit die Nahtoderfahrungen die konkreten religiösen Vorstellungen geprägt und verändert haben (Stichwort: Damaskus-Erlebnis) und ob die Masse der sogenannten Gläubigen in Deutschland überhaupt noch konkrete Vorstellungen hat. Bestätigt das "gesehene" nur das bisherige Bild von Gott, der Welt, den Menschen, dem Leben, dem Tod und dem Ich oder stellt diese neue Erfahrung alles infrage?

Vielleicht mal ein kleiner Blick in die Tiefen der Matrix
Ein uraltes, aber teilweise verwandtes Thema von mir: Vom Ursprung der Religionen

Ipsissimus
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Fr 18. Feb 2011, 13:02 - Beitrag #12

dass diese ungefiltere Wirklichkeit eine wirklichere Wirklichkeit ist
ich würde es eher so sehen, dass unsere Wahrnehmunggrenzen dazu führen, dass die von uns wahrgenommene Realität nur eine Untermenge der gesamten Realität darstellt. Teilweise ist es ja auch längst gelungen, mit technischen Hilfsmitteln diese Wahrnehmungsgrenzen zu überwinden - wir sehen zwar nach wie vor nicht im ultravioletten oder infraroten Bereich, wir hören nicht im Ultra- oder Infraschallbereich, aber unsere Technik nimmt Signale aus diesen Bereichen auf und erlaubt uns, diese Signale in sicht- und hörbare Bereiche zu projizieren. Wir wissen also insofern, dass die unmittelbar wahrgenommene Realität nur ein Ausschnitt ist, und entsprechend wurde unser Weltbild ausgeweitet.

Im Bezug zum Thema Nahtod-Erfahrungen und Transzendenz bleibt jedoch eine große Diskrepanz bestehen. Transzendenz ist per definitionem etwas, das nicht mit unserer Realität wechselwirkt. Es liegt, ungeachtet der Frage, ob es Transzendenz wirklich gibt - die wir nicht beantworten können, denn dazu wäre Wechselwirkung notwendig, wechselwirkt es aber, ist es keine Transzendenz - nicht an der Begrenztheit unseres Sensoriums inklusive seiner technischen Ausweitung, dass wir Transzendenz nicht wahrnehmen können - solange wir immanent sind, können wir Transzendenz prinzipiell nicht wahrnehmen. Wenn das, was nach dem Tod beginnt, die Transzendenz sein soll, wird keine jemals mögliche Ausweitung unseres Sensorium erfassen können, was danach beginnt.

Ergo: die Nahtod-Visionen, soweit sie sich auf ein Leben nach dem Tod beziehen, können nicht sensorisch vermittelter Natur sein, oder wir geben das Konzept von der Transzendenz auf. Daran wäre nun nichts Schlimmes, nur - selbst wenn wir das Konzept aufgeben, fehlt immer noch jede Wechselwirkung außerhalb extremer pathologischer Zustände des Gehirns. Und wenn wir bei derartigen Zuständen tatsächlich von Wechselwirkung ausgehen, müssen wir im Prinzip auch die Halluzinationen und Visionen von Schizophrenen, Leuten im LSD-Rausch uvm. als Beleg für die dadurch zu Tage tretende Realität auffassen, und spätestens ab hier wird es richtig haarig.

Mutmaßlich wird man also unterscheiden müssen zwischen solchen Nahtod-Erfahrungen, die sich auf die Zeit nach dem Tod beziehen, und solchen, die sich auf Phänomene der immanenten Realität beziehen, und für beide Arten unterschiedliche Erklärungen finden müssen.

janw
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Fr 18. Feb 2011, 13:33 - Beitrag #13

Ipsi, hinsichtlich der Nichtwechselwirkung des Transzendenten bin ich unsicher - wenn "wir" bei "ihm" eine Wirkung hervorrufen, muss uns dies nicht unbedingt bewusst sein, wenn "seine Wirkungen auf "uns" hinreichend selten und randomisiert verteilt auftreten, können "wir" sie leicht als Wahrnehmungsfehler, Halluzinationen usw. darstellen, wenn "wir" uns nicht der Möglichkeit externer Einflussnahme stellen möchten.

Ipsissimus
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Fr 18. Feb 2011, 14:01 - Beitrag #14

es mag solche Wirkungen geben, Jan. Dann stimmt aber unser Konzept von Transzendenz nicht, und die reale Transzendenz, die derartige Wirkungen erzeugt, wäre nur ein besonders gut versteckter Bereich der Immanenz. Ich würde niemals ausschließen, dass so etwas der Realität entsprechen kann.

Wenn wir allerdings unter Transzendenz das derzeitige Konzept der "zwei Naturen" der Gesetzes-Religionen verstehen, dann ist das ausgeschlossen.

Traitor
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Sa 19. Feb 2011, 21:15 - Beitrag #15

@Ipsi: Deine Transzendenzdefinition ist vielleicht etwas zu eng. Ich verwende diese zwar auch gerne, um die Absurdität bzw. Irrelevanz des Konzeptes an sich aufzuzeigen. Aber die meisten Religiösen verwenden den Begriff doch deutlich anders, nicht als definitiven Ausschluss jedweder Interaktion, denn (der christliche) Gott soll ja sowohl transzendent als auch wirkend sein. "Transzendent" heißt dann eher außerhalb der üblichen Wirkungskanäle als ohne Wirkung. Und in dem Sinne wäre es natürlich durchaus möglich, wenn auch nicht sehr naheliegend, dass Menschen in besonderen Situationen Zugang zu mehr davon haben.

Dass es wesentliche qualitativ verschiedene Sinneswahrnehmungen gibt, die wir normalerweise ausfiltern, halte ich für fragwürdig. Dass Blinde Häuser wahrnehmen, fände ich mit einer Mischung aus antrainierter Intuition und Raumgefühl (also Raten aus bisherigem Weg und typischer Struktur bebauter Gebiete) und vielleicht Luftströmungen für deutlich sparsamer erklärbar als mit Wärmewahrnehmung. Gibt es irgendwelche kontrollierten Experimente mit Wärmequellen?
Und selbst, wenn es Wärme ist, ist das ja eigentlich noch nichts qualitativ neues, sondern auch wiederum nur eine hochtrainierte und wegen mangelnder Sinneskonkurrenz weiter nach oben priorisierte Form einer Wahrnehmungsart, die wir auch im Normalzustand durchaus haben.

Aktuell ist übrigens ein interessanter Film von Clint Eastwood, "Hereafter", zu genau diesem Thema im Kino. Der befasst sich angenehm sachlich mit der Frage, wie Nahtoderfahrungen das Leben betroffener Menschen auch ohne Religiosität beeinflussen, ohne dem Zuschauer konkrete Deutungen aufzwingen zu wollen.

Ipsissimus
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Mo 21. Feb 2011, 17:23 - Beitrag #16

das mag sein, Traitor, aber wer sagt denn, dass über diese Erfahrungen entlang religiöser Konzepte nachgedacht werden muss? Mir kommt es bei meiner Darlegung darauf an, dass aus der Tatsache der Erfahrung kein Rückschluss auf die objektive Existenz ihres Inhaltes möglich ist (nach Kant: Ontologien sind nicht voneinander ableitbar).

Was die Sinnesleistungen von Geburtsblinden angeht, da täusche dich mal nicht^^ selbstverständlich spreche ich nicht von neuartigen Sinnesorganen oder einem sechsten Sinn. Aber es scheint auch offensichtlich, dass ausfallende Sinne teilweise durch die anderen Sinne ausgeglichen werden können. Was speziell den Wärmesinn angeht, du spürst doch anhand der Wärme auf der Haut, dass Sonnenstrahlen darauf fallen. "Wärme" in diesem Kontext ist elektromagnetische Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches, sie wird genauso von festen Körpern absorbiert und reflektiert wie auch sichtbares Licht. Warum sollte das nicht deutlich detaillierter auflösbar sein als bei Sehenden normal, sobald das dafür zuständige Sensorium nicht mehr permanent durch den Sehsinn überflüssig gemacht wird?

Davon abgesehen glaube ich allerdings auch, dass es in der Praxis auf einen Mix von Daten hinaus läuft.

Die Frage, ob derartige Erfahrungen Auswirkungen auf das Leben der Betreffenden haben, kann man wohl mit "selbstverständlich" beantworten, selbstverständlich, wie jede andere existentielle Erschütterung auch. Aber auch das ist kein Beweis für die Realexistenz ihrer Inhalte. Eine entsprechende Halluzination würde Gleiches leisten.

Traitor
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Mo 21. Feb 2011, 21:56 - Beitrag #17

Ich wäre der letzte, der Dinge religiös betrachten möchte. ;) Aber man muss schon damit leben, dass der Begriff allgemein unscharf gebraucht wird, und entweder auf dieser Basis diskutieren, oder zwar den scharfen Begriff reklamieren, dann aber für den unscharfen "Sachverhalt" einen gut übersetzbaren Alternativbegriff nutzen.

Natürlich gibt es einen rudimentären Wärmesinn, und dass man den bei Wegfall anderer Sinne etwas ausbauen kann, ist naheliegend. Sehr viel erwarte ich davon aber im Gegensatz zu Gehör oder Tastsinn nicht, da er zum einen bei Normalmenschen wirklich sehr schwach ist, und es zum anderen stark an Direktionalität mangelt. Insbesondere dürften schwache, großflächige Quellen wie Häuser nicht sehr viel hergeben.

Ipsissimus
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Di 22. Feb 2011, 11:49 - Beitrag #18

na ja, die Sinnesleistungen von "Normalmenschen" sind nicht wirklich relevant zur Abschätzung dessen, was menschenmöglich ist, wenn die Umstände mitspielen oder erzwingen. Es ist z.B. schon lange bekannt, dass die Riechleistung von Menschen in urzeitlichen Verhältnissen dramatisch besser ausgebaut ist als bei uns dekadenten Westlichen. Es hat eben seinen Preis, Sinnesleistungen durch Messinstrumente zu ersetzen, und/oder die Umgebung so um zu gestalten, dass Sinnesleistungen ihre überragende Bedeutung einbüßen, und zumindest für mich ist es nicht überraschend, dass Sinnesleistungen in ursprünglichen Umgebungen deutlich leistungsfähiger ausfallen, als unsereins im Normalfall gewohnt ist.

Speziell bei Geburtsblinden rechne ich auch mit einer völlig anderen Verkabelung des Gehirns; allein schon aufgrund dieses Umstandes sollten auch Wahrnehmungen zugänglich werden, die üblicherweise für Menschen unserer Kulturkreise unzugänglich sind - unterschiedliche Bildrekonstruktions-Algorithmen machen unterschiedliche Sachverhalte ein und desselben Datensatzes "sichtbar".

Traitor
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Fr 25. Feb 2011, 23:43 - Beitrag #19

Datenweiterverarbeitung und Datenerfassung sind aber eben etwas anderes. Beim Spezialfall Infrarotsinn bezweifle ich, dass die "Sinnesorgane", sprich die Haut, überhaupt physikalisch qualifiziert genug sind, um auch durch Spezialverdrahtung der Datenverarbeitung im Hirn wirklich viel mehr als den Standard herauszuholen. Bei Riechen und Hören sieht das ganz anders aus. Aber beschwören möchte ich es nicht, vielleicht können sich da durchaus recht raffinierte Verknüpfungen bilden, die auch aus den mäßigen Daten recht viel herausholen.

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Mo 28. Feb 2011, 14:09 - Beitrag #20

wie gesagt, auch ich rechne mit einer Kombinationsleistung der verbleibenden Sinne, die aber infolge erhöhter Beanspruchung und also höheren Trainingsgrades auch deutlich leistungsfähiger sein sollten.

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