Generell lehren mich bisherige Erfahrungen, dass überraschenden Befunden italienischer Experimente nicht zu trauen ist.
Für das Ergebnis spricht primär, das vor vier Jahren auch schon
MINOS eine qualiativ ähnliche Messung vermeldete, die jedoch nicht statistisch signifikant war. Wir haben also zumindest nicht den klassischen Fall eines Sensationsbefunds, der anderen Befunden im gleichen Feld widerspricht. Außerdem macht der Artikel durchaus den Eindruck, dass die Kollaboration sich sehr ausführlich mit allen möglichen Unsicherheiten ihres Experimentes auseinandergesetzt hat, etwas, was bei ähnlichen Fällen der Vergangenheit nicht unbedingt gegeben war. Und es ist ihnen hoch anzurechnen, eben keine Widerlegung der SRT zu proklamieren, sondern ersteinmal die Kollegen aufzufordern, Fehler zu finden.
Das einzige, was ich methodisch auf den ersten Blick bemängeln kann, ist, dass sie für eine sehr komplizierte Wahrscheinlichkeitsverteilung mit vielen Maxima und Minima eine Maximum-Likelihood-Analyse benutzen, also nur die Region höchster Wahrscheinlichkeit analysieren. Dem Auge nach kommt das Ergebnis aber gut genug hin (siehe Fig. 11), dass das eher ein marginaler Einwand sein dürfte.
Auch fehlt mir etwas mehr Diskussionstiefe in der Verbindung von GPS-Zeitdifferenz und tatsächlicher Laufzeit durch die Erdmantelsekante. Aber es ist schon davon auszugehen, dass sie da korrekt gerechnet haben.
Die entscheidende Unsicherheit liegt aber in der techniknahen Katalogisierung aller möglichen Zeitverschiebungen zwischen den verschiedenen Teilcheinteraktionen und Messgeräten. Das könnte man nur mit Einblick in ihren Aufbau genauer beurteilen, oder vielleicht als bestens erfahrener Experimentalphysiker eines ähnlichen Experimentes, der per Intuition irgendwo eine Lücke bemerkt. Es macht aber schon den Eindruck, dass da noch eine Menge Raum für übersehene Zwischenschritte und Fehlkalibrationen übrig ist.
Erst einmal sollte man das Peer Review abwarten, da werden vermutlich solche "Konkurrenz"-Experten auf die Sache angesetzt werden und nicht nur das übliche Gegenlesen und ein wenig Nachfragen stattfinden, sondern eine Detailanalyse des gesamten Experimentes.
Falls doch etwas dran sein sollte und eine unabhängige Bestätigung (MINOS mit höherer Statistik) erfolgt, wäre die häufig in Stellung gebrachte Extradimensions-Nutzung von Neutrinos wohl die beste Theorieerweiterung, die die RT nicht im Wesentlichen beschädigt. Eigentlich wäre aber zu erwarten, dass diese komplexere Effekte als einfache kinetische Laufzeitunterschiede hätten. Aber vielleicht ist der Rest ja nur noch schwerer zu beobachten.
Zitat von Lykurg:Hübsch, der Artikel braucht allein schon zwei Seiten für die Namen und Anschriften der beteiligten Wissenschaftler...
Das ist noch gar nichts, LIGO-Artikel mit 600 "Autoren" oder LHC-Atlas-Publikationen mit mehreren tausend "Autoren" kommen nur unter Anschrifts-Unterschlagung auf einstellige Spamseitenzahlen. ]Theorien sind eigentlich ganz einfach zu widerlegen, eine einzige verifizierte und reproduzierbare Beobachtung, die ihnen widerspricht, reicht dafür^^[/QUOTE] Wie blobbfish schrieb - direkt widerlegbar sind höchstens Einzelthesen, Theorien sind höchstens ausbaubedürftigkeitsaufzeigbar. Insbesondere gibt es genügend Erweiterungen der RT, die deren Kern erhalten, aber derartige Effekte erlauben würden. Wie die meisten Standardmodelle sind die SRT und ART nur die sparsamsten Vertreter von Modellfamilien. Und unter Berücksichtigung der Besonderheit von Neutrinos dürften sich noch genug Verwandte finden, die leider nicht viel mehr spannendes als diesen Einzeleffekt erlauben.
Zitat von Ipsissimus:Müsste der Wert für die LG korrigiert werden, oder müsste das Konzept einer konstanten LG aufgegeben werden, müssen wir von einer bei spezifischen Bedingungen nach oben ausweitbaren LG ausgehen? Wenn ja, wie weit ausweitbar? Oder, mit wohl den größten Folgen, gibt es Bedingungen, unter denen manche Teilchen tatsächlich "einfach so" schneller als Licht werden und trotzdem mit dem Rest des Universums in Wechselwirkung bleiben? In dem Fall könnte man die ART weitgehend in die Tonne klopfen.
Wie oben gesagt, die einfachste Erweiterung währen nur Neutrinos (und Gravitonen?) zugängliche Extradimensionen, wobei die absolute Kausalitätsgeschwindigkeit dann im Gesamtraum gälte und die Lichtgeschwindigkeit nur noch ihre Runterprojektion auf 4D wäre. Also durchaus ein "einfach so" für bestimmte Teilchen, aber für den Rest des Zoos kein Tonnenkloppen.
Zitat von janw:Könnte es vielleicht daran liegen, daß es sich hier um Neutrinos handelt und damit um Teilchen, die weniger mit anderen wechselwirken als andere?
Falls der Effekt real ist, wäre klar, dass er nur auf schwach (oder weniger) wechselwirkende Teilchen wirken kann, ja, sonst hätte man ihn längst bei kooperativere Teilchen entdeckt. Viele Extradimensions-Modelle weisen die Schwäche von Schwacher Kraft und/oder Gravitation auch gerade der Tatsache zu, dass ihre Vertreter in 4D nur "zu Besuch" sind.
Zitat von Lykurg:für welche Teilchen würden dann noch solche 'erleichterten Bedingungen' gelten?
Gravitonen wären der natürlichste Kandidat, da man über sie eh noch nichts weiß. Die ebenfalls nur schwach wechselwirkenden Z0-Bosonen scheiden vermutlich aus, da sie nur kurzreichweitig sind und sozusagen nicht dazu kämen, Sonderrechte einzufordern. Dunkle-Materie-WIMPs wären bei 4D-Gravitation durch diese zu sehr gebunden, bei höherdimensionaler Gravitation aber auch Kandidaten. Axionen und andere leichte DM entsprechend eher.
Herrliche Anekdote am Rande: die italienische Forschungsministerin hat sich wohl damit blamiert, sich überrascht zu zeigen, dass ohne ihr Wissen ein Tunnel vom CERN bis zum Gran Sasso gebaut worden sei.