Relativitätstheorie experimentell in Frage gestellt

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Ipsissimus
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Fr 23. Sep 2011, 14:44 - Beitrag #1

Relativitätstheorie experimentell in Frage gestellt

http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,787972,00.html

Es wäre eine Sensation, die ein Kernstück der Relativitätstheorie in Frage stellen würde. Schweizer Forscher haben Elementarteilchen aufgespürt, die schneller sind als das Licht - was nach Einsteins These unmöglich sein soll. Allerdings trauen die Wissenschaftler ihren eigenen Ergebnissen nicht.

... Wissenschaftler des internationalen "Opera"-Projekts berichten von entsprechenden Messungen. Sollten sich diese bestätigen, wäre das eine Sensation, die die moderne Physik erschüttern könnten. Allerdings wollen die Forscher ihren Daten selbst nicht wirklich trauen. Sie veröffentlichen die Untersuchung, damit andere Wissenschaftler die Versuche ebenfalls durchführen - und vielleicht mögliche Fehler finden. Die "Opera"-Wissenschaftler haben die Ergebnisse von Experimenten am Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf analysiert. Im dortigen gigantischen Teilchenbeschleuniger wurde ein Strahl von Neutrinos erzeugt. Die sehr leichten und elektrisch neutralen Elementarteilchen reisten 732 Kilometer durch die Erde bis zu einem Labor bei Gran Sasso in Italien. Für die Reise benötigten die Teilchen etwa 2,4 Millisekunden.

Eigentlich wollen die Forscher so die Umwandlung sogenannter Muon-Neutrinos in einen anderen Typ - Tau-Neutrinos - beobachten. Doch die Messungen brachten noch etwas ganz anderes zutage: Die Teilchen brauchten 60 Nanosekunden weniger als das Licht für die Strecke. Da die Messung auf zehn Nanosekunden genau erfolgt und die Forscher 15.000 Neutrinos mit einem entsprechenden Effekt beobachteten, scheint das Ergebnis klar: Neutrinos knacken die Lichtgeschwindigkeit....


noch nicht endgültig bestätigt, aber wenn das wahr wäre ...

Lykurg
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Fr 23. Sep 2011, 15:13 - Beitrag #2

Hübsch, der Artikel braucht allein schon zwei Seiten für die Namen und Anschriften der beteiligten Wissenschaftler... Und die auch auf xkcd erwähnte Erdbebengrafik auf S. 10 ist spannend. Über die Belastbarkeit der Ergebnisse kann ich wenig sagen - es klingt aber sehr nach dem Geschmack von SciFi-Autoren, was die Überbrückung größerer Distanzen im Raum angeht.

blobbfish
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Fr 23. Sep 2011, 16:12 - Beitrag #3

Immerhin, man übt sich fleißig in der Ceteris-Paribus-Klausel. Die einzigen, die auf eine Sensation hoffen sind wahrscheinlich Journalisten, die der Popkultur fröhnen. Theorien sind ja gerne etwas schwieriger zu widerlegen als das Widerlegungssensationsfetischisten es glauben.

Ipsissimus
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Fr 23. Sep 2011, 20:43 - Beitrag #4

Theorien sind eigentlich ganz einfach zu widerlegen, eine einzige verifizierte und reproduzierbare Beobachtung, die ihnen widerspricht, reicht dafür^^

blobbfish
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Sa 24. Sep 2011, 10:08 - Beitrag #5

Naja, eigentlich nicht, die Krux fängt ja schon bei verifiziert an. Abgesehen davon muss eine Widerlegung nicht zu einer Revision führen, sie kann, und das tut sie meistens, zu einer Verbesserung führen.

Ipsissimus
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Sa 24. Sep 2011, 10:24 - Beitrag #6

im Prinzip schon klar, blobbfish, der Artikel spricht ja auch die Vorläufigkeit der Ergebnisse an. Interessant ist die Frage aber schon, welche Modifikation die Theorie erfahren muss, wenn diese Ergebnisse "einfach so" korrekt wären. Müsste der Wert für die LG korrigiert werden, oder müsste das Konzept einer konstanten LG aufgegeben werden, müssen wir von einer bei spezifischen Bedingungen nach oben ausweitbaren LG ausgehen? Wenn ja, wie weit ausweitbar? Oder, mit wohl den größten Folgen, gibt es Bedingungen, unter denen manche Teilchen tatsächlich "einfach so" schneller als Licht werden und trotzdem mit dem Rest des Universums in Wechselwirkung bleiben? In dem Fall könnte man die ART weitgehend in die Tonne klopfen.

janw
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Sa 24. Sep 2011, 11:40 - Beitrag #7

Könnte es vielleicht daran liegen, daß es sich hier um Neutrinos handelt und damit um Teilchen, die weniger mit anderen wechselwirken als andere?

Lykurg
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Sa 24. Sep 2011, 12:00 - Beitrag #8

Trotzdem wäre nach dem bisherigen Modell keine Ausnahme für sie zulässig; wenn diese Messungen stimmen, ist das ein Dammbruch - für welche Teilchen würden dann noch solche 'erleichterten Bedingungen' gelten? ;)

Traitor
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Di 27. Sep 2011, 17:58 - Beitrag #9

Generell lehren mich bisherige Erfahrungen, dass überraschenden Befunden italienischer Experimente nicht zu trauen ist. ;)

Für das Ergebnis spricht primär, das vor vier Jahren auch schon MINOS eine qualiativ ähnliche Messung vermeldete, die jedoch nicht statistisch signifikant war. Wir haben also zumindest nicht den klassischen Fall eines Sensationsbefunds, der anderen Befunden im gleichen Feld widerspricht. Außerdem macht der Artikel durchaus den Eindruck, dass die Kollaboration sich sehr ausführlich mit allen möglichen Unsicherheiten ihres Experimentes auseinandergesetzt hat, etwas, was bei ähnlichen Fällen der Vergangenheit nicht unbedingt gegeben war. Und es ist ihnen hoch anzurechnen, eben keine Widerlegung der SRT zu proklamieren, sondern ersteinmal die Kollegen aufzufordern, Fehler zu finden.

Das einzige, was ich methodisch auf den ersten Blick bemängeln kann, ist, dass sie für eine sehr komplizierte Wahrscheinlichkeitsverteilung mit vielen Maxima und Minima eine Maximum-Likelihood-Analyse benutzen, also nur die Region höchster Wahrscheinlichkeit analysieren. Dem Auge nach kommt das Ergebnis aber gut genug hin (siehe Fig. 11), dass das eher ein marginaler Einwand sein dürfte.

Auch fehlt mir etwas mehr Diskussionstiefe in der Verbindung von GPS-Zeitdifferenz und tatsächlicher Laufzeit durch die Erdmantelsekante. Aber es ist schon davon auszugehen, dass sie da korrekt gerechnet haben.

Die entscheidende Unsicherheit liegt aber in der techniknahen Katalogisierung aller möglichen Zeitverschiebungen zwischen den verschiedenen Teilcheinteraktionen und Messgeräten. Das könnte man nur mit Einblick in ihren Aufbau genauer beurteilen, oder vielleicht als bestens erfahrener Experimentalphysiker eines ähnlichen Experimentes, der per Intuition irgendwo eine Lücke bemerkt. Es macht aber schon den Eindruck, dass da noch eine Menge Raum für übersehene Zwischenschritte und Fehlkalibrationen übrig ist.

Erst einmal sollte man das Peer Review abwarten, da werden vermutlich solche "Konkurrenz"-Experten auf die Sache angesetzt werden und nicht nur das übliche Gegenlesen und ein wenig Nachfragen stattfinden, sondern eine Detailanalyse des gesamten Experimentes.

Falls doch etwas dran sein sollte und eine unabhängige Bestätigung (MINOS mit höherer Statistik) erfolgt, wäre die häufig in Stellung gebrachte Extradimensions-Nutzung von Neutrinos wohl die beste Theorieerweiterung, die die RT nicht im Wesentlichen beschädigt. Eigentlich wäre aber zu erwarten, dass diese komplexere Effekte als einfache kinetische Laufzeitunterschiede hätten. Aber vielleicht ist der Rest ja nur noch schwerer zu beobachten.

Zitat von Lykurg:Hübsch, der Artikel braucht allein schon zwei Seiten für die Namen und Anschriften der beteiligten Wissenschaftler...
Das ist noch gar nichts, LIGO-Artikel mit 600 "Autoren" oder LHC-Atlas-Publikationen mit mehreren tausend "Autoren" kommen nur unter Anschrifts-Unterschlagung auf einstellige Spamseitenzahlen. ]Theorien sind eigentlich ganz einfach zu widerlegen, eine einzige verifizierte und reproduzierbare Beobachtung, die ihnen widerspricht, reicht dafür^^[/QUOTE] Wie blobbfish schrieb - direkt widerlegbar sind höchstens Einzelthesen, Theorien sind höchstens ausbaubedürftigkeitsaufzeigbar. Insbesondere gibt es genügend Erweiterungen der RT, die deren Kern erhalten, aber derartige Effekte erlauben würden. Wie die meisten Standardmodelle sind die SRT und ART nur die sparsamsten Vertreter von Modellfamilien. Und unter Berücksichtigung der Besonderheit von Neutrinos dürften sich noch genug Verwandte finden, die leider nicht viel mehr spannendes als diesen Einzeleffekt erlauben.

Zitat von Ipsissimus:Müsste der Wert für die LG korrigiert werden, oder müsste das Konzept einer konstanten LG aufgegeben werden, müssen wir von einer bei spezifischen Bedingungen nach oben ausweitbaren LG ausgehen? Wenn ja, wie weit ausweitbar? Oder, mit wohl den größten Folgen, gibt es Bedingungen, unter denen manche Teilchen tatsächlich "einfach so" schneller als Licht werden und trotzdem mit dem Rest des Universums in Wechselwirkung bleiben? In dem Fall könnte man die ART weitgehend in die Tonne klopfen.
Wie oben gesagt, die einfachste Erweiterung währen nur Neutrinos (und Gravitonen?) zugängliche Extradimensionen, wobei die absolute Kausalitätsgeschwindigkeit dann im Gesamtraum gälte und die Lichtgeschwindigkeit nur noch ihre Runterprojektion auf 4D wäre. Also durchaus ein "einfach so" für bestimmte Teilchen, aber für den Rest des Zoos kein Tonnenkloppen.

Zitat von janw:Könnte es vielleicht daran liegen, daß es sich hier um Neutrinos handelt und damit um Teilchen, die weniger mit anderen wechselwirken als andere?
Falls der Effekt real ist, wäre klar, dass er nur auf schwach (oder weniger) wechselwirkende Teilchen wirken kann, ja, sonst hätte man ihn längst bei kooperativere Teilchen entdeckt. Viele Extradimensions-Modelle weisen die Schwäche von Schwacher Kraft und/oder Gravitation auch gerade der Tatsache zu, dass ihre Vertreter in 4D nur "zu Besuch" sind.

Zitat von Lykurg:für welche Teilchen würden dann noch solche 'erleichterten Bedingungen' gelten?
Gravitonen wären der natürlichste Kandidat, da man über sie eh noch nichts weiß. Die ebenfalls nur schwach wechselwirkenden Z0-Bosonen scheiden vermutlich aus, da sie nur kurzreichweitig sind und sozusagen nicht dazu kämen, Sonderrechte einzufordern. Dunkle-Materie-WIMPs wären bei 4D-Gravitation durch diese zu sehr gebunden, bei höherdimensionaler Gravitation aber auch Kandidaten. Axionen und andere leichte DM entsprechend eher.

Herrliche Anekdote am Rande: die italienische Forschungsministerin hat sich wohl damit blamiert, sich überrascht zu zeigen, dass ohne ihr Wissen ein Tunnel vom CERN bis zum Gran Sasso gebaut worden sei.

Scuba
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Di 27. Sep 2011, 23:02 - Beitrag #10

Möglicherweise sehen wir hier aber auch eine Bestätigung der Quanten-Schleifengravitation:

http://de.wikipedia.org/wiki/Schleifenquantengravitation

Lee Smolin (u.a.) versuchen schon länger anhand Gamma Ray Bursts die Laufzeit von energiereichen Photonen zu untersuchen. Diese sollten sich entlang der Spin-Netzwerke der diskreten Quanten-RaumZeit schneller als c bewegen.
(und möglicherweise pflanzen sich (energiereiche) Neturinos noch schneller in dieser 'Matrix' fort?)

Ipsissimus
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Mi 28. Sep 2011, 13:23 - Beitrag #11

Traitor, ich widerspreche dir und blobbfish hinsichtlich eurer Darlegungen der methodologischen Schwierigkeiten von Nachweisen in keiner Weise, gebe nur zu bedenken, dass sowas - Nachweise - des Wissenschaftlers täglich Brot sind. Ihr habt euch diese ganzen Geräte und komplizierten Theorien im Lauf der Jahrzehnte erarbeitet, ihr bedient sie, ihr leitet daraus Schlussfolgerungen ab. Es ist mir daher logisch nicht ganz ersichtbar, was der Unterschied zwischen einer Bestätigung einer bestehenden Theorie ist, die ihr bereitwillig akzeptiert (weil ihr sie erwartet?), und einer Infragestellung (die euch stört?), die wiederum mit methodologischen Infragestellungen in Frage gestellt wird, obwohl beides mit ein und denselben Geräten und Verfahren erziehlt wird^^ die Kritik am einen ist im Grunde auch die Kritik am anderen

Padreic
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Sa 1. Okt 2011, 15:32 - Beitrag #12

@Traitor:
Wie blobbfish schrieb - direkt widerlegbar sind höchstens Einzelthesen, Theorien sind höchstens ausbaubedürftigkeitsaufzeigbar.
Das könnte man auch genau andersherum formulieren: direkt widerlegbar sind nur Gesamttheorien und keine Einzelthesen/Teiltheorien. Einzelthesen sind immer haltbar mit dem Ändern von anderen Teilen der Theorie - nur aus einer Gesamttheorie kann man überhaupt Vorhersagen ableiten, die dann widerlegt werden können. Ein gutes Beispiel dafür ist eben die Postulierungsgeschichte des Neutrino selbst: mit dem Betazerfall hatte man einen Prozess, der anscheinend der Energie- und Impulserhaltung widersprach. Die Energieerhaltung wurde damit aber nicht widerlegt, sondern höchstens die implizit damals vorhandene Gesamttheorie der Physik (und insbesondere Teilchenphysik), die so etwas wie Neutrinos nicht vorsah. Gerade die Energieerhaltung ist eine Einzelthese, die quasi nicht zu widerlegen ist....immer lässt sich eine zusätzliche nicht-detektierte Form von Energie oder Teilchen postulieren (wie natürlich tatsächlich schon mit Erfolg geschehen). Ich gehe aber davon aus, dass wir in der Sache einig sind, nur unterschiedliche Wörter benutzen.

@Ipsissimus: Bestätigungen sind auch immer (/oft) etwas vorläufiges und bezweifelbares. Es braucht auch bei solchen immer eine gewisse Anzahl oder Qualität (d.h. neben experimenteller Einwandfreiheit große Schwierigkeit einer Umdeutung). Sowohl Bestätigungen als auch Widerlegungen sind nie eine ganz eindeutige Sache.

Spaßig auch der Umgang von der ZEIT mit der Sache: ein reißerischer(/dümmlicher) Artikel auf der Titelseite, eine sehr gut informiert zu sein scheinender im Wissensteil...

Traitor
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Mi 5. Okt 2011, 22:30 - Beitrag #13

Hier gibt es einen Überblick bisher erschienener Widerlegungs- und Erklärungsversuche. Eine bunte Mischung, wie zu erwarten war.

@Ipsi: Der Unterschied ist, dass die etablierte Theorie bisher in zahllosen Experimenten und Beobachtungen, vielen davon völlig unabhängig, bestätigt wurde, während ein einzelner neuer Befund ersteinmal nicht viel Gewicht hat. Anders sah das z.B. bei den gerade mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Supernovae-Beobachtungen aus, als zwei unabhängige Kollaborationen gleichzeitig ein kompatibles, das bisherige Standardmodell widerlegende Beobachtungen lieferten. Aber auch da dauerte es noch Jahre und bis zum Vorliegen nicht nur organisatorisch, sondern auch methodisch unabhängiger Verifikationen (Mikrowellenhintergrund, Strukturbildung, Lensing, ...), bis die beschleunigte Expansion zum neuen Standardmodell werden konnte. Und dabei ging es ja noch nichtmal um das Umwerfen eines Axioms, sondern nur um den Wechsel von einer Realisierung der gleichbleibenden Grundgleichungen zu einer anderen.

@Padreic: Vermutlich liegt es daran, wie man "Gesamttheorie" definiert. Entspricht "die Theorie" einer exakten und vollständigen Auflistung von Axiomen, Gesetzen, Faktenannahmen und Schlüssen, dann ist sie mit Widerlegung einer einzelnen Voraussage widerlegt. Lässt man aber eine in Einzelpunkten modifizierte Variante noch als dieselbe Theorie gelten, dann hat eine so umfangreiche Theorie, wie wir sie derzeit haben, eben genug Spielräume, um sich zu retten. Beim Neutrino z.B. ist die Gesamttheorie "es gibt einen Zoo von Teilchen, die so und so interagieren" unbehelligt geblieben, es musste nur die Teilchenliste um eins erweitert werden.

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Mi 23. Nov 2011, 18:03 - Beitrag #14

mittlerweile liegt die Qualität der Messergebnisse bei 6 sigma und die Teilchen sind immer noch schneller als das Licht im Vakuum

http://de.wikipedia.org/wiki/OPERA-Neutrino-Anomalie

Ipsissimus
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Mo 28. Nov 2011, 11:30 - Beitrag #15

lasst doch mal spekulieren: also, Neutrinos können schneller fliegen als Licht im Vakuum - was folgt daraus konkret?

Einfach eine Modifikation der SRT, nach dem Motto "nichts ist schneller als das Licht, mit Ausnahme von X" wobei X Elemente einer (möglicherweise wachsenden) Ausnahmen-Liste sind. Könnte ich mir als "Lieblingslösung" vieler Physiker vorstellen, und aufgrund der doch geringen Übertretung wäre ich sogar einverstanden. Damit wäre aber die Frage zu stellen, wie machen X das, und wieso lässt das Universum das zu.

Andererseits, bei der Absolutheit der bisherigen Aussage könnte man sich auch eine Modifikation der SRT vorstellen: "Nichts ist schneller | so schnell wie Neutrinos". Das hätte ziemlich weitreichende Konsequenzen, wobei ich das Weitreichende im Moment eher empfinde als überschauen kann. Die Photonen stecken einfach überall drin und eine derartige Änderung würde ihnen für mein Empfinden irgendwie die besondere Elementarität entziehen. Wie würde eine um Neutrinos herum formulierte SRT oder ART aussehen?

Und last not least, können wir das nutzbar machen für überlichtschnellen Informationstransport? Und geht es noch schneller?

Traitor
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Mo 28. Nov 2011, 14:01 - Beitrag #16

mittlerweile liegt die Qualität der Messergebnisse bei 6 sigma und die Teilchen sind immer noch schneller als das Licht im Vakuum
Im Gegensatz zu den typischen Teilchenerzeugungs- und Fünfte-Kraft-Meldungen war hier ja von Anfang an nicht die Statistik das Fragezeichen, sondern die Suche nach systematischen Fehlern.

lasst doch mal spekulieren: also, Neutrinos können schneller fliegen als Licht im Vakuum - was folgt daraus konkret?
Wie in #9 schonmal kurz angedeutet: Im Wesentlichen müsste die Lichtgeschwindigkeit als absoluter Maßstab durch eine "Kausalitätsgeschwindigkeit" ersetzt werden. Will man in 4D-Raumzeit bleiben, wird es dann etwas kompliziert. Am einfachsten wäre es wohl mit höheren Dimensionen, zu denen aber nur Neutrinos + X Zugang haben. Photonen wären auf 4D beschränkt und die Lichtgeschwindigkeit die schnellstmögliche Geschwindigkeit, die von der Kausalitätsgeschwindigkeit beim Herunterprojizieren übrig bleibt. Neutrinos wären in 5+D unterwegs, aber nicht mit der maximalen Kausalitätsgeschwindigkeit, denn aus den Neutrinooszillationsexperimenten (zu denen OPERA ja eigentlich auch nur beitragen sollte) kennen wir ja bereits eine andere Verletzung des Standardmodells: Neutrinos haben Masse. Somit müsste es ein X geben, das in 5+D schneller als Neutrinos ist, der natürliche Kandidat wären Gravitonen. Oder, falls diese auch Masse haben (wie wiederum einige Theorien annehmen), etwas anderes masseloses, Superphotonen, Xonen. ;)

Überlichtschneller Informationstransport wäre dann drin, ja. Und mit den erwähnten Gravitonen oder Xonen prinzipiell auch noch schneller, aber nur minimal, da die Neutrinomasse bereits so winzig ist. Und im Fall von Gravitonen natürlich nur mit absurdem Energieaufwand.

Ipsissimus
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Mo 28. Nov 2011, 19:38 - Beitrag #17

sehe ich richtig, dass Kausalität damit von einer philosophischen Überzeugung zu einer faktischen Naturgröße übergehen würde?

jedenfalls mit das Spannendste seit langem^^ was macht eigentlich das Higgs? ^^

Traitor
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Mo 28. Nov 2011, 22:01 - Beitrag #18

Das ist an sich ein alter Hut, die Relativitätstheorie als solche baut auf einem klassischen Kausalitätsbegriff auf - weshalb es ja auch so schwierig/spannend ist, Quantennichtlokalität mit ihr in Einklang zu bringen.
Geht man die Sache axiomatisch an, kennt schon die unmodifizierte SRT (mit braven Neutrinos) ersteinmal nur eine abstrakte "Kausalitätsgeschwindigkeit", die die absolute Grenze aller Informationsübertragungs- und Wechselwirkunsgeschwindigkeiten darstellt. Es ist dann gewissermaßen reiner Zufall der Teilchenphysik, dass mit den Photonen masselose und ungeladene Teilchen zur Hand sind, die als perfekte Probeteilchen diese Geschwindigkeit auch real annehmen. "Lichtgeschwindigkeit" ist also eher ein anschaulicher Platzhalter für "Kausalitätsgeschwindigkeit".

Das Higgs macht immer noch Urlaub am Genfer See. ;) Der Suchparameterraum zieht sich zusammen, mehr aber noch nicht.

Ipsissimus
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Mo 28. Nov 2011, 22:16 - Beitrag #19

dann wird es Zeit, dass du die ART endlich nonkausal machst^^ habilitiere dich gefälligst^^

janw
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Mo 28. Nov 2011, 23:00 - Beitrag #20

Im Deutschlandfunk gab es heute einen Beitrag dazu mit einem Interview.
Demnach handelt es sich wahrscheinlich um einen Interferenz-Effekt - bei Interferenz können sich auch Teilbereiche von Lichtwellen mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten, in der Gesamtbetrachtung der Welle gleicht sich das aber wieder regelgerecht aus.

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