Ruhemasse und masselose Gravitationsquellen

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Ipsissimus
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Do 29. Dez 2011, 15:27 - Beitrag #1

Ruhemasse und masselose Gravitationsquellen

bei der Lektüre von Penrose bin ich auf einen Gedanken gestoßen, der mir bis dahin völlig entgangen war, es geht um masselose Gravitationsquellen. Bis dahin erlag ich der offenbar naiven Vorstellung, Gravitation sei eine Eigenschaft von Masse (mag sein, das disqualifiziert mich in den Augen ernstzunehmender Theoretiker^^).

Gut, komplett in die Tonne klopfen muss ich den letzten Gedanken noch nicht, Penrose meint damit im Prinzip zunächst nur solche Materiepartikel, welche die Ruhemasse null haben und erst bei Bewegung eine von null verschiedene Masse. Er braucht das Konzept, um die massive Reduktion der gravitativen Freiheitsgrade beim Urknall zu erklären, die es erst ermöglichte, dass da überhaupt etwas gegen die Gravitation expandieren konnte.

Trotzdem finde ich das Konzept einigermaßen "vergiftet". Ich frage mich mittlerweile, was die "Ruhemasse" eines Partikels sein soll. Wie wir von der Relativitätstheorie wissen, gibt es im Universum keinen bevorzugten Punkt, der ein objektives Bezugssystem etablieren könnte. Es gibt also auch keinen absolut ruhenden Punkt, im Bezug zu dem ein Partikel absolut frei von Geschwindigkeit sein könnte. Im Moment kommt es mir ein bisschen so vor, als sei die "Ruhemasse" ein sehr, sehr theoretisches Konzept, auch unabhängig von Penroses Thesen, und alle Theorie, die auf den Unterschied zwischen Ruhemasse und bewegter Masse aufbauen, wirken ein bisschen wie auf Treibsand gebaut.

Andererseits könnte das Higgs in so ein Szenario nahezu perfekt hineinpassen. Wenn das Universum an seinem Anfang, während der Planckzeit, ein Kosmos ohne Higgs war, dann war es ein Kosmos ohne Masse und damit ohne Gravitation. Sehr schnell nach Ablauf der Planckzeit bemerkte das Universum dann aber, dass da mitnichten ein Kosmos ohne Higgs war, das Higgsfeld begann, gar schröcklich zu wechselwirken und die Masse und mit ihr die Gravitation hielten Einzug in ihr Königreich. Weil das aber nicht mit allen Partikeln gleichzeitig geschah, konnte die Expansion den Zug der einsetzenden Gravitation überwinden.

Kann das jemand nachvollziehen und/oder mir noch deutlicher und genauer erklären?

Traitor
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Do 29. Dez 2011, 16:08 - Beitrag #2

Kurzversion, später / die Tage / auf Nachfrage vielleicht mehr:
"Ruhemasse" ist die Masse im Ruhesystem des Teilchens selbst. Es gibt (standardtheoretisch) kein global ausgezeichnetes Bezugssystem, aber für "jedes" (s.u.) Teilchen lässt sich ein für es selbst ausgezeichnetes Bezugssystem definieren, das mitbewegte oder Ruhesystem, in dem es Geschwindigkeit und kinetische Energie 0 hat und somit nur Ruhemasse.
Im Umkehrschluss folgt, dass ein Teilchen ohne Ruhemasse kein Ruhesystem haben kann, bzw. umgekehrt - die Lichtgeschwindigkeit ist absolut, man kann die Bewegung eines Photons nicht wegtransformieren.

Ipsissimus
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Do 29. Dez 2011, 16:46 - Beitrag #3

das heißt, der Begriff der "Ruhemasse" hat nichts mit dem Bewegungsstatus eines Teilchens zu tun? Er besagt im Prinzip nur, "so wie das Teilchen jetzt ist, so setzen wir seine uns interessierenden Werte auf null" und dann tun wir so, als sei das System des Teilchens das einzige System von Belang? Gibt das dann nicht ziemlich scheußliche Koordinatentransformationen, sobald wir anfangen, verschiedene Systeme zu vergleichen?

janw
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Do 29. Dez 2011, 20:46 - Beitrag #4

Ich habe mir den Ruhezustand bisher immer so vorgestellt, daß das Teilchen dann nur die Bewegung im Rahmen der universellen Ausdehnung vollführt, hinsichtlich von Bewegungen infolge gravitativer Anziehung oder ähnlichem war ich unsicher.

Ipsissimus
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Do 29. Dez 2011, 20:52 - Beitrag #5

ich hatte mir einfach keine echte Vorstellung davon gemacht, was die "Ruhe" in "Ruhemasse" eigentlich meint. Wenn ich Traitor richtig verstanden habe, ist das auch tatsächlich nur noch so ein mathematischer Taschenspielertrick der Physiker^^

Traitor
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Do 29. Dez 2011, 21:19 - Beitrag #6

Der Witz der Relativitätstheorie ist doch gerade, dass es nicht "den Bewegungszustand eines Teilchens" gibt. Es gibt immer nur einen Bewegungszustand aus einem bestimmten Bezugssystem betrachtet. Der Bewegungszustand relativ zur Erde ist nicht fundamentaler oder weniger fundamental als der relativ zur Sonne, Milchstraßenmitte oder Hintergrundstrahlung. Oder eben als der relativ zum Teilchen selbst. Und Bewegung von etwas relativ zu sich selbst ist logischerweise Nullbewegung, also Ruhe.
Es gibt für jedes (nichtmasselose, nichtlichtschnelle (oder, siehe anderer Thread, eigentlich: nichtkausalschnelle)) Teilchen ein wohldefiniertes Ruhesystem (oder mehrere, wenn man Drehungen mitzählt, aber die sind eigentlich irrelevant). Das ist durchaus eine fundamentale Eigenschaft dieser Teilchen, nicht nur ein Rechentrick, denn es sagt uns gerade, dass diese Teilchen sich so verhalten, wie wir es von Materie erwarten. Insbesondere vergeht für sie Zeit, während die Eigenschaft masseloser/kausalschneller Teilchen, kein Ruhesystem zu haben, bedeutet, dass sie auch keine Eigenzeit haben.

Die Transformationen, um in so ein Ruhesystem zu kommen, sind in der Speziellen Relativitätstheorie, also im flachen Raum, die recht einfachen Lorentztransformationen; in einer beliebig komplizierten Raumzeit mit Expansion, Schwarzen Löchern und all diesen Nettigkeiten können sie aber natürlich beliebig abartig werden.

Ob das Ruhesystem des Teilchens nun "das einzige System von Belang ist", hängt sehr davon ab, was man gerade machen will. Für lokale Wechselwirkungen, wie sie in der Teilchenphysik betrachtet werden (Elektromagnetismus, Starke WW, Higgs...) ist das Ruhesystem des Teilchens (oder das Schwerpunktruhesystem mehrerer Teilchen) fast immer erste Wahl. Für kosmologische Betrachtungen ist üblicherweise das mitbewegte System der kosmischen Expansion zu bevorzugen (siehe Jan), alle Bewegungen relativ dazu werden dann als Eigenbewegungen betrachtet, es ist also kein Ruhesystem oder "Ruhezustand" der nichtmitbewegten Teilchen.

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Do 29. Dez 2011, 22:24 - Beitrag #7

es wirkt halt ein bisschen tautologisch; ein Teilchen ist in Bezug zu sich selbst in Ruhe, das ist so wie, hm, der Kreis ist rund. Und vor allem gilt das ja nicht nur für einen wie auch immer gearteten Ruhezustand, auch ein aktuell beschleunigendes Teilchen ist in Bezug zu sich selbst immer ruhend, also müsste im Bezug zu sich selbst seine Masse jederzeit die Ruhemasse sein, oder es hat nahezu unendlich viele verschiedene Ruhemassen, für jede mögliche Geschwindigkeit in Billiardenstel Nanometer pro 10^100 Jahre eine^^ irgendwie habe ich den Punkt anscheinend noch nicht so richtig erfasst

Traitor
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Do 5. Jan 2012, 23:51 - Beitrag #8

Ups, 1 Woche später...

Jede gute Definition ist tautologisch. ;) Was mehr stellst du dir unter Ruhe vor? Eben doch eine herkömmlich absolute?

Die Ruhemasse ist eine inhärente Eigenschaft jedes Teilchens, die sich aus jedem Bezugssystem heraus gleich berechnet. Die "unendlich vielen Massen", also eine für jedes Bezugssystem, sind die althergebracht als "relativistische Masse" bezeichneten. Das ist aber ein verwirrendes Konzept, das deshalb heutzutage meist gemieden wird. Damit ist das "Ruhe-" in Ruhemasse eigentlich überflüssig, meist meint man mit Masse direkt diese, und die bezugssystemabhängige Größer wird besser als Gesamtenergie (Ruhemasse + kinetische Energie + relativistische Korrekturen, oder allgemeiner per Energie-Impuls-Beziehung) oder einfach nur Energie bezeichnet.


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