Krebs - Der König aller Krankheiten

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Mi 29. Feb 2012, 20:53 - Beitrag #1

Krebs - Der König aller Krankheiten

Aus Ipsissimus' letztem Eintrag im "Welches Buch lest ihr gerade?":
Zitat von Ipsissimus:Siddhartha Mukherjee Der König aller Krankheiten Krebs - eine Biografie

[...]

Drei Einsichten, basierend auf eine Unmenge an Beobachtungen, lassen sich formulieren:

1) Krebs ist als Teil des menschlichen Genoms dem Menschsein inhärent. Wenn Krebs eine Krankheit ist, dann ist es eine Krankheit, die Teil der Definition des Menschseins ist.

2) Eine Krebszelle ist eine verbesserte Form einer Zelle, auf Zellebene eine positive Mutation (die also erst auf Gewebeebene zur Fehlfunktion führt). Das macht es so unglaublich schwierig, Krebszellen zu töten, ohne die gesunden Zellen mit zu töten.

3) Die Zellmechanismen, die für das normale menschliche Wachstum zuständig sind, sind dieselben, die das Wachstum einer Krebszelle steuern. Das macht es extrem schwierig, Therapiestrategien zu entwerfen, die auf das Wachstum von Krebszellen einwirken, das Wachstum gesunder Zellen aber unbehelligt lassen sollen.

Mukherjee lässt offen, ob Krebs irgendwann einmal geheilt werden kann. Bei bestimmten Formen - bei denen es heute schon möglich ist - hält er es für möglich, bei den meisten eher nicht. Trotzdem gibt es eine Art Hoffnung: der Krebstherapie geht es im Wesentlichen nicht mehr um den Versuch der Heilung dieser Krankheit, es geht nur noch um den Versuch der Lebensverlängerung. Wenn diese Lebensverlängerung so weit vorangetrieben werden kann, dass sie die normale Lebenserwartung einholt, wird man es Heilung nennen.
[...]


Zu 1): Warum folgt aus "dem menschlichen Genom inhärent" "Teil der Definition des Menschseins"? Das Genom enthält viele Dinge, die nicht essentiell für uns sind. Ich sehe ein, dass Krebs als elementare Zellfehlfunktion (ok, auch der Begriff ist schon diskutabel, siehe 2)) auf einer anderen Stufe steht als extern von Erregern oder Giften eingebrachte Krankheiten. Dennoch sehe ich keine medizinischen oder philosophischen Hinweise, dass wir in einem relevanten Sinne weniger menschlich wären, würden wir "den Krebs besiegen".

Zu 2): Interessante Frage: Ist die "egoistic cell" auch schon für gesundes Gewebe ein produktives Modell?

Zu 3): Hm, eigentlich nichts, soweit klar.

Zum Fazit: Lebensverlängerung an sich würde ich noch nicht als Quasi-Heilung gelten lassen, nur Lebensverlängerung mit nah an den gesunden Zustand heranreichender Lebensqualität. Das ist ja der Haken bei vielen klassischen Behandlungsmethoden, der oft zu der Abwägung führt, ob die Therapie eingegangen werden will.

Ipsissimus
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Mi 29. Feb 2012, 21:47 - Beitrag #2

na ja, zu Punkt 1 würde ich meinen, es kommt darauf an, auf welcher Ebene wir die Definition von Menschsein anlegen. Wichtig an Mukherjee Aussage ist wohl der Hinweis darauf, dass Krebs als Teil des Genoms im Laufe der Menschwerdung genauso mitentstanden ist wie alle anderen Anlagen der menschlichen Spezies. Wenn wir das Genom als den Ort auffassen, an dem der vollständige Mensch vollständig beschrieben ist, dann ist Krebs ein Teil der Beschreibung, ob ein aktivierter oder ein inaktiver, jedenfalls ein aktivierbarer Teil der Beschreibung, und damit eben kein Restmüll. Wenn wir ihn aus der Beschreibung raus haben wollen, müssten wir das Genom komplett - wegen der Interdependenzen - umschreiben, und dann wären wir eine andere Spezies. In dem Sinne ist Krebs Teil der Definition des Menschen.

dieser Punkt leuchtete mir jedenfalls irgendwie unmittelbar ein^^ mit den beiden folgenden Punkten habe ich wesentlich größere Schwierigkeiten^^

die laufen bei Punkt 2 allerdings darauf hinaus, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann, dass die biochemischen Eigenschaften von Krebszellen und normalen Zellen so dicht nebeneinander liegen sollen, dass sie auf biochemischer Ebene praktisch ununterscheidbar sind. Zumal die Unterscheidbarkeit optisch ja durchaus vorhanden ist.

/edit der Unterschied zwischen Zellebene und Gewebeebene dürfte wohl relevant sein. Eine Krebszelle ist aus Sicht des Genoms keine kranke Zelle. Das wird sie erst auf Gewebeebene. Das dürfte für jede egoistic cell gelten. Wie es passieren konnte, dass sowas ins Genom gelangte, wäre interessant zu wissen

und bei Punkt 3, es muss meiner naiven Auffassung nach irgend ein Unterscheidungskriterium geben, es sei denn, Krebs wäre reine Kontingenz. Das wäre dann aber so, als würde eine Glühbirne, die konstant Weißlich abstrahlt, einfach so zwischendurch immer wieder mal kurzzeitig Rotlicht abgeben, ohne dass irgendwas anders wäre.

/edit Andererseits, wegen Punkt 1 kann man natürlich so argumentieren, dass das nichts mit Kontingenz zu tun hat. Das Programm, das Genom, sieht nach irgendeinem unergründeten Agorithmus einfach vor, gelegentlich Krebszellen zu produzieren.

da Mukherjee für sein Buch allerdings den Purlitzerpreis bekommen hat, den er sicher nicht bekommen hätte, wenn die onkologische und biochemische Community aufgeheult und "falsch" gerufen hätte, harre ich noch der Erleuchtung^^

janw
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Mi 29. Feb 2012, 23:18 - Beitrag #3

Ich muss mir das Buch erst mal besorgen und zu Gemüte führen, bevor ich wirklich etwas dazu sagen kann.

Zunächst habe ich mit der These von der "genetischen Verwurzelung => Menscheigenheit" von Krebs gewisse Probleme:
Krebs kommt auch bei anderen, zumindest Säugetieren, vor, allerdings scheinbar seltener, was 1. daran liegen könnte, daß hier andere Erkrankungen eine größere Rolle spielen, wie ja auch unsere Vorfahren in der Steinzeit viel mehr an Infektionskrankheiten und Verletzungen gestorben sind, bevor sie an einem entsprechend entwickelten Krebs sterben konnten, 2. daran, daß diese sich selbst weniger Kanzerogenen aussetzen, als Menschen das tun, angefangen von Verbrennungsrückständen an gebratenem Fleisch.
Mukherjee scheint mir hier etwas zu sehr zu generalisieren, er sieht hier, wenn ich es richtig verstehe, eher Krebs als eine Degenerationserkrankung, während es allgemein eher so gesehen wird, daß verschiedene Krebserkrankungen vorrangig durch bestimmte Kanzerogene ausgelöst werden.
Zudem sehe ich nicht so ganz, weshalb Krebs "genomimmanent" sein soll, wenn er auf einer Fehlfunktion des genetischen Apparates beruht.
Jede Zelle hat einen Mechanismus, der ihre Teilungsaktivität reguliert, gesteuert durch zell-eigene Mechanismen und Einwirkung benachbarter Zellen. Nach gängiger Vorstellung beruht die Entstehung von Krebs auf dem Ausfall dieser Regulations- und Kontrollsysteme bei einer Zelle, die sich daraufhin ungebremst teilt, auf die Weise, wie sich eben jede Zelle teilt, und der Tatsache, daß dieses Verhalten dieser Zelle von den dafür vorhandenen Kontrollsystemen nicht rechtzeitig erkannt wird.
Eine Krebszelle ist von daher eine defekte Zelle, entweder mit einem Gendefekt durch eine Mutation (z.B. beim Schwarzen Hautkrebs durch UV-Strahlung) oder mit einem Defekt im Bereich strukturellen Abschirmung von Genen (DNA-Methylierung usw.).

Merkwürdig finde ich die Feststellung von der Krebszelle als "verbesserte Form einer Zelle" - die Regulation des Zellwachstums ist eine Voraussetzung für die Funktion von Geweben und als solche im Laufe der Evolution im Zuge der Entwicklung von Mehrzellern entstanden.

Unabhängig davon finde ich eine neuere Entdeckung über Krebszellen wirklich spannend, nämlich die der sogenannten "Master-Zellen". Offenbar werden Karzinome selbst hierarchisch gesteuert, und wenn man die Master-Zellen ausschaltet, bricht das Karzinom zusammen.
Das eröffnet wirklich neue Chancen für die Therapie.

Ipsissimus
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Mi 29. Feb 2012, 23:45 - Beitrag #4

nein, als Degenerationskrankheit sieht er Krebs gerade nicht, und eben auch nicht als genetische Fehlleistung. Krebs ist seiner Auffassung nach - immer vorbehaltlich, dass ich ihn korrekt verstehe - eine genetische Normalfunktion. Die allerdings zu ihrer Aktivierung Anregungen benötigt, die wiederum unspezifisch sind - vieles kann karzinogen wirken.

Ich muss zugeben, dass sich mein bisheriges Verständnis von Krebs durch dieses Buch sehr in Frage gestellt sieht.

ThreeOfFour
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Do 1. Mär 2012, 13:48 - Beitrag #5

Als Biologie Student sag ich mal zu 1) Bullshit.

Krebs ist KEINE Funktion des Menschlichen Genoms. Krebs ist eine FEHLFUNKTION, hervorgerufen durch eine mutation die durch verschiedenste faktoren (veranlagung, radioaktivität, umweltbedingungen) entstehen kann.

Krebs ist KEINE(!) Genetische Normalfunktion. Es ist per definition eine Mutation und damit nicht normal.

Und mal so persönlich gesagt: Wenn man jemandem sagt der grade an krebs stirbt oder jemanden an krebs verloren hat "Ach, das ist eine ganz normale genetische funktion." wird der einem was husten.

Man kann da auch sagen das eine ein explodierendes Auto durch eine gerissene benzinleitung Teil der Definition des Autos ist.

Zur "Verbesserung" der zelle muss ich mal anmerken das es trotz allem eine Mutation ist und damit zufallsbedingt und auch wenn man sagen kann das es eine Verbesserung für die einzelne zelle ist, ist es keineswegs eine generelle Verbesserung.
Unsterbliche zellen haben im endeffekt den nachteil das sie sich gegenseitig den Lebensraum wegnehmen. Was für die einzelne zelle wiederrum mist ist.
Und da die Zelle ein Teil des Körpers (der Lebensraum) ist und diesen mit dieser Mutation gefährdet ist die "Verbesserung" definition nicht wirklich gegeben, außer man legt einen pur philosophischen Blick drauf.

Um den Autovergleich anzugehen: Man hat eine neue tolle Benzinpumpe die so heftig und einfach pumpt das der motor überflutet wird und explodiert: verbesserung?


Es ist ne Krankheit, und es mit "König aller Krankheiten" zu titulieren ist nur etwas glorifzierung und rumphilosophierung über einen mechanischem defekt.
Wir haben Smallpox besiegt. Wir hätten TB besiegt wenn die menscheit nicht so dumm wäre (we're getting there...), Wir sind auf dem weg HIV zu besiegen. Wir finden einen weg Krebs zu besiegen.
Science. It works bitches.


Achja @ Jan: Das mehr leute an krebs sterben liegt nicht nur an mehr Kanzerogenen in der Umwelt sondern auch das wir so effektiv andere Krankheiten und Todesursachen ausradiert haben. Leute leben länger und besser, und genetische mutationen durch umweltbedingungen sind halt etwas schwerer zu verhindern als sterben durch die grippe.

Ipsissimus
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Do 1. Mär 2012, 15:38 - Beitrag #6

na ja, da ich weder Biologe noch Mediziner bin, kann ich diesbezüglich kaum eine definitive Klärung herbeiführen. Ich kann jedoch sagen, dass dieses Buch durchaus den Eindruck erweckt, dass sein Inhalt einem advanced state of science entspricht; der Autor bewegt sich jedenfalls im Rahmen der Spitzenpositionen seiner Zunft. Auch glaube ich, dass manche Aufregung vielleicht der Nichtunterscheidung der Bezugsebene geschuldet wird - natürlich wird niemals ein verantwortungsbewusster Arzt einem Patienten erzählen, dass er einer normalen genetischen Funktion erliegt.

Aber für Ärzte taugt es nichts, die Dinge nicht genau zu sehen. Ärzte, die sich mit dem Ungefähren zufrieden geben, taugen vielleicht für die Behandlung von Grippe und Wurmfortsatz-Entzündung. Hier haben wir es aber nicht mit Gruppe und Wurmfortsatz zu tun, sondern mit einer Erkrankung, die außer in Einzelfällen seit 150 Jahren der medizinischen Forschung trotzt, ohne dass irgendwo ein Licht am Horizont sichtbar würde. Das heißt also, alle die als Wissen vermarkteten Vermutungen über das, was Krebs sei, taugen bisher nicht zu einer vernünftigen Therapie.

Und nun haben Mediziner und Biochemiker etwas genauer hingeschaut und sehen, dass Krebs im Genom verankert ist. Damit ist der Mutationsansatz ja noch längst nicht ad acta gelegt; er muss aber offensichtlich modifiziert werden, denn eine Mutation, die im Genom enthalten ist und nur aktiviert werden muss, ist wohl etwas anderes als eine Mutation, die in ein bestehendes Genom spontan hineingeschrieben wurde und damit die genetische Struktur bricht.

Krebs ist KEINE(!) Genetische Normalfunktion.
ich nehme an, wenn das einfach so stimmen würde, hätte das Buch nicht den Purlitzer-Preis und auch nicht die Zustimmung einer ganzen Zunft eingeheimst. Möglicherweise ist die amerikanische Krebsforschung nur schon auf einem Niveau, das hierzulande kein Allgemeingut des Wissens ist. Möglicherweise verarscht der Autor aber auch nur die ganze Welt, und alle Onkologen machen mit.

Um den Autovergleich anzugehen: Man hat eine neue tolle Benzinpumpe die so heftig und einfach pumpt das der motor überflutet wird und explodiert: verbesserung?
ja, in der Tat, Verbesserung auf der Ebene der Benzinpumpe

Du hast vielleicht gesehen, dass ich die Worte "Zellebene" und "Gewebeebene" kursiv gesetzt hatte; damit wollte ich durchaus etwas zum Ausdruck bringen. Für die Krebszelle selbst ist ihr Zustand eine Verbesserung gegenüber anderen Zellen; das Problem besteht darin, dass diese Verbesserung im Rahmen des übergeordneten Gewebes nicht funktional wirksam wird und sogar zerstörerisch ist, weil eben keine strukturelle Gewebeangleichung erfolgt. Anders gesagt: Bau deine Benzinpumpe in ein leistungsstärkeres Auto ein, und du erkennst die Verbesserung.

Unsterbliche zellen haben im endeffekt den nachteil das sie sich gegenseitig den Lebensraum wegnehmen.
unsterblich sind im Menschen eigentlich nur die Keimzellen; das Problem der Krebszellen hat damit eher nichts zu tun. Das Ding ist ja nicht, dass Krebs unsterbliche Menschen töten würde. Menschen sterben so oder so. Krebs verkürzt nur die zur Verfügung stehende Zeit und verändert den Charakter des Sterbens. Um zellulare Unsterblichkeit geht es da nirgends.

Wir sind auf dem weg HIV zu besiegen. Wir finden einen weg Krebs zu besiegen.
Diese Hoffnungen bestehen, ja. Nur die Erfahrungen sprechen dagegen.

janw
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Do 1. Mär 2012, 16:28 - Beitrag #7

Zitat von ThreeOfFour:Ich habe wie Ipsi den Eindruck, daß Mukherjees Sicht auf einer Perspektivenverschiebung beruht: positiv oder fortschrittlich ist demnach nicht, was dem Gewebe oder dem Organismus nützt oder seinen Nutzen verbessert oder mehrt, sondern, was der einzelnen Zelle nützt, und wenn dieser Nutzung im Gewinn von Freiheitsgraden liegt.
Das läuft für mich ein wenig auf die gesellschaftliche analoge Frage nach der Bewertung von Eigennutz und Gemeinwohlorientiertheit hinaus]Unsterbliche zellen haben im endeffekt den nachteil das sie sich gegenseitig den Lebensraum wegnehmen. Was für die einzelne zelle wiederrum mist ist.

Naja, die Stammzellen, die wir haben, machen da anscheinend keine Probleme.


Bmerkenswert ist für mich derzeit der Zuspruch, oder auch die fehlende Kritik, die Mukherjee und das Buch erfahren.
Ob dies als Beleg für die Richtigkeit seiner Thesen zu gelten hat oder ob einfach die Fachkollegen nur viel zu beschäftigt sind, um sich mit solch einem Buch öffentlich auseinander zu setzen, frage ich mich ernsthaft.

ThreeOfFour
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Do 1. Mär 2012, 16:31 - Beitrag #8

unsterblich sind im Menschen eigentlich nur die Keimzellen; das Problem der Krebszellen hat damit eher nichts zu tun.

Eben nicht. "Unsterblichkeit" bezeichnet dabei eine unbegrenzte Teilungsfähigkeit. Diese haben von Natur aus nur Stammzelle. Wenn eine bereits spezialisierte Zelle diese fähigkeit entwickelt wird sie ebenfalls als Unsterblich bezeichnet, wenn sie in vitro vorliegt. Ist vor allem beliebt für wissenschaftliche Experimente. Entwickelt sich sowas im Körper => Krebs.

http://en.wikipedia.org/wiki/HeLa z.b. die ich schonmal im praktikum anfärben durfte.

Naja, die Stammzellen, die wir haben, machen da anscheinend keine Probleme.

Stammzellen sind undifferenziert. Spezialisierte Zellen haben im gegensatz zu denen eine bestimmte Nische.



Gut das benzinpumpen beispiel war falsch gestellt. Eine Benzinpumpe die nicht aufhört benzin zum pumpen wäre passender.

Ich habe wie Ipsi den Eindruck, daß Mukherjees Sicht auf einer Perspektivenverschiebung beruht: positiv oder fortschrittlich ist demnach nicht, was dem Gewebe oder dem Organismus nützt oder seinen Nutzen verbessert oder mehrt, sondern, was der einzelnen Zelle nützt, und wenn dieser Nutzung im Gewinn von Freiheitsgraden liegt.

Das mag philosophisch nachvollziehbar sein. Ich sehe es halt mehr aus der sicht das die Zelle teil des organismus ist und ein egoistischer vorteil dieser sich als nachteil äußert. Die Interaktion von zellen innerhalb eines organismus ist zu sehr verlinkt durch kreislauf, Stoffwechsel etc als das man sie so einzeln beobachten sollte.

Und nun haben Mediziner und Biochemiker etwas genauer hingeschaut und sehen, dass Krebs im Genom verankert ist.

Nichts neues. Krebs ist wenn der Teilungsmechanismus außer kontrolle gerät. Die Mutation die den Krebs auslöst ist u.U. in den genen die diesen Mechanismus kontrollieren zu finden.
Krebs wird nicht durch Mutationen hineingeschrieben, Krebs tritt auf wenn durch Mutationen schäden an bestehenden Mechanismen der Zellen entsteht.

Ich sage nicht das alles was er sagt falsch ist. Ich sehe nur die Argumentation das etwas was auf einer fehlfunktion der DNA, u.A. basierend auf deletionen und loss-of-function, begründet ist als etwas anderes als eine fehlfunktion gesehen wird als ..naja...komisch.
Dies mag durchaus darin begründet sein das ich es zu sehr aus der sicht des Genetikers anstatt des Onkologen sehe.

Und wenn ich da "Mediziner und Biochemiker" sehe frag ich mich halt auch was die ansicht der HUMANGENETIKER (Je nach Uni entweder teil der Biologie oder der Medizin, bei uns hocken die in der Medizin aber ich hab nächstes Semester mehrere vorlesungen da) dazu ist. Grade die Biochemiker sind in der genetik nicht unbedingt in ihrem primären gebiet sind.



Der Pullitzer Preis war als ich das letzte mal nachgesehen habe kein Wissenschaftlicher Preis. Auch seine anderen Preise sind "leadership" und "literary science". Nicht grade was mir so als "peer review" beigebracht wurde ;) Was auch meine meine Skepsis begründet, da ich das Buch selbst (noch?) nicht gelesen habe.
Wie er selbst sagt ist sein werk eine "Biographie" des Krebs.

Ich behalte mir meine skepsis daher etwas bei, werde mir allerdings sobald ich wieder in der Uni bin mal in der Bibliothek schauen ob ich was von ihm (Paper etc) in Wissenschaftlichen Journals (Science, Nature, etc) finde.

Ob dies als Beleg für die Richtigkeit seiner Thesen zu gelten hat oder ob einfach die Fachkollegen nur viel zu beschäftigt sind, um sich mit solch einem Buch öffentlich auseinander zu setzen, frage ich mich ernsthaft.

Das frage ich mich auch und im zweifel tendiere ich zu letzterem.

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Do 1. Mär 2012, 17:37 - Beitrag #9

(Nur ein Gedanke): Es besteht auch die Möglichkeit, daß die Fachszene länger braucht, um zu reagieren - oder daß Vertreter längst reagiert haben, das uns aber nicht bekannt ist - die meines Erachtens wahrscheinlichste Annahme. Bei der Shakespeare-Debatte hatten wir es ähnlich, nur war da die Publicity groß genug, daß die Massenmedien sich selbständig nach wissenschaftlichen Meinungen umgesehen haben; hier ist das evtl. noch nicht so das Thema, weil das Buch nicht so zieht wie ein Emmerich-Film. - Das jetzt aber nur als Meta-Einwurf, später irgendwann mal mehr dazu.

Ipsissimus
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Sa 3. Mär 2012, 15:37 - Beitrag #10

vielleicht sollte ich noch mal erwähnen, dass das kein medizinisches Fachbuch für professionell an Krebs interessierte Personen ist, sondern ein in für Laien verständlicher Sprache geschriebenes Buch über die Geschichte des Krebses, seiner Diagnose und seiner Therapien. Dazwischen sind dann, vor allem gegen Ende, Bemerkungen über den derzeitigen Stand der Dinge eingestreut.

Die deutsche Ausgabe des Buches hat übrigens ein Vorwort von Fritz Pleitgen, immerhin Vorsitzender der deutschen Krebshilfe. So völlig abstrus kann das also wohl nicht sein, was Mukherjee darin schreibt. Eher erkläre ich es mir damit, dass ich hier vielleicht einige Begriffe, die in den Fachwissenschaften eine scharfe Bedeutung haben, eher umgangssprachlich verwende. So hatte ich unter "Biomedizin" alles mögliche subsummiert, auch Humangenetiker, und nicht daran gedacht, dass die sich dadurch vielleicht ausgeschlossen fühlen könnten^^ auch glaube ich nach wie vor, dass der Topos "Krebs als Teil des Genoms" einen Perspektivenkonflikt offenlegt, der vielleicht einen Paradigmenwechsel ankündigt

wie dem auch sei, ich bitte darum, etwaige Fehler in meiner Darstellung mir anzukreiden, nicht dem Buch. Das Buch geht weit über das hinaus, was ich bisher darüber subsummiert habe.

Dass die Fachwelt wiederum solange braucht, um auf eine falsche Darstellung des state of the art, die eine derarte Aufmerksamkeit erfährt, zu reagieren, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Anderthalb Jahre sind in der Medizin derzeit eine halbe Ewigkeit. Eher ist das 2010 erschienene Original mittlerweile wieder veraltet.

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So 4. Mär 2012, 18:36 - Beitrag #11

@Ipsissimus: Bevor ich das weiter und eventuell falsch aufgefasst kommentiere, könntest du etwas ausführen, was du und/oder Mukherjee unter "im Genom enthalten/verankert" verstehen?
Für mich klingt das nach "Krebs ist eine aktiv bereit gestellte Funktion", und in einem zweiten Interpretationsschritt nach "also muss er einen Zweck haben, also ist er in gewissem Sinne gut", plus der irgendwie obskure Zusatzaspekt "Krebs ist etwas spezifisch menschliches, was uns von Tieren unterscheidet" (evtl. auch in einem positiven Sinne).
Als klassische Gegenposition stünde "Krebs ist ein in jedem Einzelfall spontaner, von außen ausgelöster Defekt".
Glaubwürdiger als beides erschiene mir als Laie die Zwischenposition "menschliches und tierisches Genom hat aufgrund seiner Struktur eine inhärente Disposition, Krebs auszubilden, wenn ein externer Reiz dafür auftaucht; nur, weil das inhärent ist, ist es aber noch lange keine relevante oder gar positive Funktion".

@ToF: Kannst du etwas dazu sagen, ob eine "egoistic cell"-Ebene zwischen Organismus und Genen ein verbreitetes Konzept ist?

Pulitzer-Preis übrigens, weder Purlitzer noch Pullitzer. ;)

Ipsissimus
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Di 13. Mär 2012, 14:35 - Beitrag #12

was du und/oder Mukherjee unter "im Genom enthalten/verankert" verstehen? Für mich klingt das nach "Krebs ist eine aktiv bereit gestellte Funktion", und in einem zweiten Interpretationsschritt nach "also muss er einen Zweck haben, also ist er in gewissem Sinne gut", plus der irgendwie obskure Zusatzaspekt "Krebs ist etwas spezifisch menschliches, was uns von Tieren unterscheidet" (evtl. auch in einem positiven Sinne).


Krebs scheint eine aktiv bereit gestellte Funktion in einem normalerweise deaktivierten Areal des Genoms zu sein. Die Schlussfolgerungen, die du nennst, zieht Mukherjee daraus nicht, ich denke, das verbietet sich anhand des Charakters der Krankheit. Allerdings wird es wohl nirgendwo verboten, zu Definitionen "negative" Sachverhalte heranzuziehen.

Ich versuche es noch mal anders.

Die Entwicklung der Krebstherapie hatte über etwa 100 Jahre ernstzunehmender Versuche mit einem grundlegenden Problem zu kämpfen, dem mangelnden Verständnis der Biologie von Krebszellen. Dabei geht es nicht um eine Beschreibung der Krebszellen auf zellularer Ebene sondern um ein mechanistisches Verständnis der Ausbreitung. An diesem "mechanistisch" hatte ich eine Zeit lang zu kauen; ich deute es so, dass es darum geht, von der Kenntnis der Eigenschaften einer bestimmten Krebszelle einen systematischen Zusammenhang zum Verlauf ihrer Ausbreitung herzustellen. Dieser Zusammenhang ist bis heute nicht geklärt; wir wissen schlicht nicht, welche Zelleigenschaften warum zu welchem Verlauf des Krebses führen. Damit fehlt unserem Wissen eine der vornehmsten Eigenschaften einer wissenschaftlichen Theorie, die Prognosefähigkeit. Im Prinzip stehen die Ärzte bei jeder neuen Krebserkrankung wie ein Ochs vorm Berg möglicher Verläufe, bis zum Auftauchen von Aids eine Einzigartigkeit unter allen bekannten Krankheiten.

Ein Sachverhalt kristallisierte sich allerdings schon recht früh heraus: es gibt lokale Verläufe und systemische Verläufe. Man stellte fest, dass lokale Verläufe gut therapierbar sind, systemische Verläufe enden - außer bei ganz bestimmten Krebsarten - immer tödlich. Das Problem war jetzt folgendes: man konnte lokale Verläufe zwar ganz gut in die Remission zwingen, aber eine Remission ist keine Heilung; nach einer gewissen Zeit führten alle diese Remissionen zu neuen Tumoren mit systemischer Ausweitung, also zu Metastasen, die dann nicht mehr therapierbar waren.

Das führte zu der Überlegung, dass die Therapie der lokalen Verläufe nicht gründlich genug sei, mit der Konsequenz einer Radikalisierung der Behandlung. Aus einer chirurgischen Entfernung der Brust bei Brustkrebs beispielsweise wurde eine Entfernung von Brust, Lymphknoten, Muskeln, Knochen; später bei Bauchkrebsformen aufgrund des Fortschritts der Operationstechnik auch eine Totalausräumung der Bauchhöhle mit Gesamt-Transplantation mehrerer Organsysteme gleichzeitig. Oder auf der chemotherapeutischen Seite zur fortwährenden Erhöhung der Dosis und der Zahl zu kombinierender Zytostatika bis buchstäblich an die Grenze zum Tod.

Das Ergebnis ist zwiespältig. Es konnte zwar die Zeitdauer der Remissionen erhöht werden, der Zustand der Patienten also für ein paar Jahre stabil gehalten werden; irgendwann erfolgt in schöner Regelmäßigkeit die Neubildung therapieresistenter Tumore mit systemischer Ausweitung. Die 5Jahre-Überlebensraten haben sich trotz aller therapeutischen Maßnahmen und Fortschritte nicht signifikant geändert, die Mortalität aller Krebsformen außer den paar heilbaren ist nahezu konstant geblieben, und das ist der Stand bis heute.

Mukherjee führt das darauf zurück, dass es nach wie vor kein prognosesicheres Verständnis für den Verlauf von Krebs gibt (man hat also die ganze Zeit "mit Kanonen blind in unbekanntes Gelände geballert"). Und er schlussfolgert daraus, dass die ideologische Grundüberzeugung, die die Entwicklung von Krebstherapien bisher angetrieben hat, falsch sein müsse. Es reicht offenbar nicht, einfach davon auszugehen, dass Krebs geheilt wird, wenn Tumore operativ entfernt oder chemisch oder durch Bestrahlung geschrumpft werden können. Alle derartigen Ansätze haben über 100 Jahre teilweise schrecklichster Therapieformen hinweg nichts an der Mortalität von Krebs geändert. Und da dieser Umstand quer für alle bis auf die Handvoll heilbarer Krebsarten gilt, vermuten er und andere Mediziner mittlerweile, dass es in unserem Genom eine im Allgemeinen deaktivierte, aber aktivierbare Quelle für Krebs gibt, die sich bisher unserem Zugriff vollständig entzogen hat.


auch hier bitte: etwaige Fehler oder Ungenauigkeiten der Darstellung sind mir anzukreiden

janw
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Mi 14. Mär 2012, 02:10 - Beitrag #13

In erster Näherung scheint mir, daß Mukherjee einem Perspektivenfehler aufsitzt.
Es gibt solche inaktiven Bereiche des Genoms, aber sie waren nicht immer inaktiv. Es ist nämlich so, daß nach der Befruchtung der Eizelle ein mehrzelliges Stadium entsteht, die Morula, in dem alle Zelle totipotent sind, ich also zu jeder Art Gewebe entwickeln können. Das sind die Zellen, die auch als embryonale Stammzellen immer wieder von sich reden machen.
Als nächster Schritt entwickelt sich die Morula (maulbeerförmig) zu einer röhrenformigen Struktur, bekommt also ein Vorne und ein Hinten, und damit werden von jetzt ab die Freiheitsgrade der Zellen, also ihr Teilungsvermögen und ihre Unspezialisiertheit, schrittweise eingeengt. Das passiert, indem bestimmte Genbereiche abgeschaltet werden. In diesen Genbereichen befindet sich auch die Information für eine Zelle, sich spontan und von außen unbeeinflusst zu teilen. Diese Funktion brauchten die Zellen bis hierher, um zu dem Zellhaufen heranzuwachsen, der nun entstanden ist, ohne daß eine nennenswerte Steuerung durch ein übergeordnetes Zentrum erfolgte.
Nun erfolgt die Zellteilung unter Steuerung durch die Nachbarzellen, sozusagen statt im automatischen im gesteuerten Modus.
Je nachdem, wo die Zelle sich befindet, werden jetzt auch andere Gene an- und abgeschaltet, wodurch sich allmählich ergibt, daß eine Zelle zur Hautzelle wird oder zu einer Zelle der Verdauungsorgane oder zu einem Auge. Irgendwann ist dieses für eine Zelle vorgegeben, und wenn man sie jetzt versetzt, bekommt das Lebewesen ein Auge statt am Kopf auf dem Bauch oder am Schwanz, solche Versuche wurden öfters mit Fröschen und Lurchen angestellt.
Davon, sich automatisch zu teilen, trennt die Zelle jetzt nur die Abschaltung des Bereiches auf der DNA, in dem die Anleitung dafür steht.
Und dieser Schalter kann eben durch verschiedene Einflüsse wie bestimmte Stoffe, energiereiche Strahlung, vielleicht auch Kopierfehler der DNA im Zuge zu häufigen Kopierens im Laufe des Lebens umgelegt werden oder kaputt gehen mit der Folge, daß die Zelle sich von selbst ungehemmt zu teilen beginnt.

Für mich bemerkenswert ist dabei immer noch, daß die entstehenden Zellhaufen offenbar recht instabil sind, so daß sich immer mal Zellen ablösen und dann in anderen Bereichen des Körpers neue Tumoren bilden.

Vielleicht könnte das aber einen Schlüssel zur Lösung bieten, indem die Zellen vielleicht durch bestimmte Oberflächenstrukturen erkennbar und von Gewebezellen unterscheidbar sein könnten. Man könnte vielleicht so etwas wie Antikörper für sie entwickeln.

Letztlich denke ich, daß man sich vielleicht dieses Zellstadium, in dem die Zellen noch ganz normal automatisch teilungsfähig sind, einmal genauer ansehen sollte. Vielleicht sind die Zellen in diesem Zustand auch sonstwie anders als Gewebezellen, vielleicht resistenter gegen bestimmte Stoffe als Gewebezellen. Vielleicht ist es ein Problem analog dem Versuch, Erwachsenenbildung mit Schulbüchern für Schulkinder zu betreiben.

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Mi 14. Mär 2012, 11:40 - Beitrag #14

na ja, möglich ist das alles. Wenn ich Mukherjee richtig verstehe, war die Krebstherapie ein ganzes Jahrhundert lang auf diesem Stand - die Heilung von Krebs steht unmittelbar bevor, ist nur noch eine Frage von ein paar wenigen Jahren, es fehlt nur noch gerade diese oder jene Kleinigkeit. Und das, was diese ganzen 100 Jahre tatsächlich fehlte, war ein Verständnis der Ausbreitung von Krebs. Welches bis heute nicht gegeben ist.

Solche Ideen mit den Oberflächenstrukturen von Zellen, wie du sie genannt hast, hat man seit den 70ern bereits exzessiv erforscht. Unsere Kenntnis von Krebszellen ist mittlerweile umfassend. Und offenbar trotzdem nicht ausreichend. Aus der Perspektive dieser 100 Jahre betrachtet, handelt es sich im Grunde um eine weitere Variante dieser Überzeugung, dass die Heilung in Kürze möglich sein werde. Und es ist ja auch kein Problem, Krebszellen zu vernichten. Nur eben, dass der Krebs dadurch nicht geheilt wird.

Natürlich kann die Perspektive einer 5Jahres-Remission als Erfolg aufgefasst werden. Ich denke, das hängt sehr stark vom einzelnen Patienten ab, und vom Preis in Schmerzen und Beeinträchtigung an Lebensqualität, den er dafür bezahlt. Diesen Preis darf man sich größtenteils getrost als dramatisch vorstellen.

Letztlich hat das alles wohl zu dem Umdenken geführt, das derzeit in der Onkologie stattfindet. Man versucht nicht mehr, den Krebs zu heilen, man sucht "nur" noch nach Wegen, die Remissionsdauern so weit zu verlängern, dass sie die normale Restlebenszeit einholen und dabei gleichzeitig die Einbußen an Lebensqualität zu minimieren. In dem Kontext gibt es durchaus vielversprechende Ansätze, aber das klingt mittlerweile auch schon bekannt^^ Mukherjee schätzt, dass es bis mindestens 2050 dauern wird, eine Medikation zu entwickeln, die das genannte Ziel erreicht, also nicht mehr die Krebszellen vernichtet sondern die Ausbreitung unterbindet. 100 Jahre Forschung haben gezeigt, dass nicht die Krebszelle der Feind ist, sondern die Ausbreitung. Das ist vielleicht nur eine kleine perspektivische Verschiebung, aber sie verändert alles.

(Ich spreche hier natürlich von der Wissenschaft, nicht von dem, was im therapeutischen Gespräch zwischen Arzt und Patient ausgetauscht wird)

janw
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Mi 14. Mär 2012, 13:59 - Beitrag #15

Was ich mit Perspektivenfehler meinte, ist, daß nicht die Fähigkeit einer Zelle, sich ungehemmt zu teilen, als quasi exquisite Fähigkeit einer Zelle anzusehen ist, sozusagen der Krebs als vorinstallierte besondere Grundfunktion, sondern es ist eine der vielen in der DNA verankerten Fähigkeiten einer Zelle. Eine Netzhautzelle hat auch noch das gesamte Programm, um als Leberzelle Alkohol abzubauen, nur sind alle diese für die Funktion der spezialisierten Zellen überflüssigen Programme abgeschaltet bzw. befinden sich in durch Schalter vom aktiven Teil des Erbguts getrennten Bereichen.

Wobei dies für mich die spannende Frage aufwirft, warum offenbar diese Schalter stabiler sind als derjenige, der die Funktionen der unspezialisierten Zelle deaktiviert.

Ich könnte mir vorstellen, daß die Remissionen auf Zweierlei beruhen: Die Streuung hat vielleicht schon stattgefunden, wenn der Tumor erkannt wird, sind aber als Einzelzellen noch nicht zu erkennen und entgehen vielleicht - warum? der Therapie. Oder der Tumorzerfall durch die Therapie führt zur Freisetzung der Zellen.
Dann müssten Wege gefunden werden, diese verstreuten Zellen zu finden.
Oder das Versagen der Schalter ist so sehr eine Frage unserer Lebensweise mit Exposition zu begünstigenden Faktoren oder bzw. in Verbindung damit ist Alterung ein solcher Faktor, daß wir schlicht zunehmend mehr geschädigte Zellen in unseren Geweben anreichern, die dann irgendwann anfangen, sich ungehemmt zu teilen.

Eine für mich neue Erkenntnis ist, daß Tumorzellen offenbar nicht gleichberechtigt sind, sondern daß es dort scheinbar ein hierarchisches System mit sog. "Masterzellen" gibt. Schaltet man diese Masterzellen im Experiment selektiv aus, zerfallen die Tumoren.

Ipsissimus
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Mi 14. Mär 2012, 15:13 - Beitrag #16

es kann schon sein, dass ich den Perspektivenfehler auf meine Kappe nehmen muss und Mukherjee das so meint, wie du es geschildert hast, Jan. Allerdings sehe ich das nur als ein Problem der Wortwahl; auch aus deiner Schilderung wird für mich im Prinzip deutlich, dass Krebs ein Teil des Genoms ist. Wie das zu bewerten ist, zu welchen Schlussfolgerungen das führt, ist eine ganz andere Frage. Es ist aber offenbar nicht ganz irrelevant. Der Mechanismus für die Krebsentstehung ist in uns selbst im Laufe der Evolution angelegt worden. Nur zur Aktivierung bedarf es anscheinend externer Faktoren, der bislang einzige bekannte interne Faktor ist hohes Alter. Möglicherweise - meine freie, wilde, unbedarfte Spekulation - hat Krebs also etwas mit der Zelltodprogrammierung zu tun. Seine evolutionäre Funktion wäre dann vielleicht sowas ähnliches wie eine letzte Kindersicherung, damit der Tod trotz allen Widerstands des Körpers irgendwann garantiert eintritt.

Die Streuung hat vielleicht schon stattgefunden, wenn der Tumor erkannt wird, sind aber als Einzelzellen noch nicht zu erkennen und entgehen vielleicht - warum? der Therapie. Oder der Tumorzerfall durch die Therapie führt zur Freisetzung der Zellen. Dann müssten Wege gefunden werden, diese verstreuten Zellen zu finden.
Beides ist richtig.

"Entgangene Tumorzellen" war vor über 100 Jahren eine der ersten Vermutungen zum Auftreten von Rezidiven überhaupt und führte zur Radikaltherapie, sprich weiträumige Entfernung auch nichtkranken Gewebes, Maximaldosierung von Bestrahlung oder Chemotherapie bis zur unmittelbaren Todesnähe. Leider führte die Radikaltherapie zu keiner Veränderung der Mortalität.

Und eine der schlimmsten Entdeckungen im Rahmen der Entwicklung der Chemotherapie war der Befund, dass eine Grenzwert-Chemotherapie (und auch eine entsprechende Bestrahlung) ihrerseits therapieresistente Tumore hervorbringt. Man glaubt mittlerweile, mit diesem Risiko umgehen zu können; signifikante Folgen hinsichtlich Rezidiv-Verhinderung: keine.


im Prinzip sind alle bisherigen Krebstherapien - mit Ausnahme der Therapien von heilbaren Kresarten - als uaf-Therapien einzustufen (ut aliquid fiat - Mediziner-Slang für "wir machen mal was, damit überhaupt irgendwas passiert"), und das ist eigentlich ein bisschen wenig für das Leid, das mit den Therapien einhergeht, welches ja noch zusätzlich zu dem Leid hinzukommt, das schon vom Krebs ausgeht.


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