Brian Greene vs. Lee Smolin
Verfasst: Di 2. Okt 2012, 19:14
Wurde hier schonmal kurz andiskutiert, dann im Wblig :
Der wesentliche Knackpunkt, den ich hier ansprechen möchte, ist, wie zuletzt eigentlich immer, die Frage nach dem Wesen von Wissenschaft und Realität. Du stolperst bei Greene darüber, dass die Calabi-Yaus für dich "reine Mathematik" sind und das reine Erklären von Problemen kein hinreichender Hinweis auf ihre Realitätsnähe. Nun, der flache R³ der Alltagsphysik, der Minkowski-Raum der SRT und die gekrümmten (3+1)-Mannigfaltigkeiten der ART sind auch "reine Mathematik" und werden von uns nur als gültige Modelle der Realität anerkannt, weil sie so gut im natürlichen Erklären von Probleme sind. Die beiden letzteren explizit per wissenschaftlicher Methode, der erstere auf epistomologisch niedrigerer Ebene, aber im Prinzip durch denselben Mechanismus. Der Unterschied zu den komplizierten Stringtheorie-Räumen ist nur, dass die bisher nicht genug erklären, um den Komplexitätspreis aufzuwiegen. Daher sind sie nur faszinierende Spielerei, aber noch kein anerkanntes Weltmodell.
Die "Behauptungen auf Behauptungen" im späteren Teil kann ich ohne eigene Lektüre nicht beurteilen, vermute aber mal, dass er für vieles davon durchaus Herleitungen in der Hinterhand hat, die aber für das populärwissenschaftliche Buch nicht umsetzen konnte. Und in der reinen Theorie sind "Herleitungen" halt nur mathematische Konsistenzaufzeigungen, keine zwangsläufigen Ergebnisse unter Einbeziehung von Beobachtungsdaten.
Zitat von Ipsissimus:Brian Green
Das elegante Universum
Superstrings, verborgene Dimensionen und die Suche nach der Weltformel
Vintage Books, new edition (25. Oktober 2005)
gelesene Fassung: Goldmann Verlag (12. Dezember 2005)
Eines der seltenen Bücher, bei denen ich nicht entscheiden kann, ob ich geistig zu minderbemittelt dafür bin, oder ob der Autor irgendwann den Boden unter den Füßen verloren hat.
Brian beginnt mit einer konzisen, gut verständlichen Einführung in Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie, gefolgt von einer für meinen Geschmack zu knapp geratenen, aber immer noch konzisen Vorstellung der Quantenmechanik. Recht viel Zeit verwendet er darauf, die Unvereinbarkeit dieser beiden Säulen der modernen Physik auf subatomaren Skalen herzuleiten und die Bedeutung dieser Unvermeidbarkeit für die Physik auf Quantenskalen zu verdeutlichen.
Auf dieser Grundlage leitet er zur Stringtheorie über, spricht von erster und zweiter Superstringrevolution und vom Einfluss und Stellenwert, den die Stringtheorie im Rahmen aktueller Physik (der letzten knapp 40 Jahre) beansprucht. Ich kann ihm auch noch in die Anfangsgründe der Stringtheorie folgen, kann verstehen, dass Physiker auf die Idee kommen, zur Fomulierung ihrer Theorien statt modellhaft nulldimensionaler (aka Elementarteilchen) modellhaft eindimensionale Elementareinheiten (aka Strings) zu verwenden und zu untersuchen, ob mit dieser im Konzept simplen Änderung die Natur in gleicher Weise wie mit dem Standardmodell beschrieben werden kann, möglicherweise sogar besser. Auch bei den ersten - bereits weitreichenden - Konsequenzen des neuen Konzepts verlasse ich ihn noch nicht.
Meine Probleme beginnen da, wo Greene über die Werkzeuge spricht, die Physiker dazu verwenden, dieses Konzept in harte Physik und noch härtere Mathematik umzusetzen. Dass die entsprechende Mathematik überkomplex ist, will ich ihm unbesehen glauben. Dass es für die allermeisten Fragestellungen, die sich aus der Stringtheorie ergeben, nur störungstheoretisch formulierte Annäherungen gibt, weil die Formulierung geschweige denn Lösung der exakten Gleichungen außerhalb der Reichweite derzeitiger mathematischer Möglichkeiten liegt: geschenkt.
Eines dieser Werkzeuge sind sogenannte Calabi-Yau-Räume (benannt nach dem italienischen Mathematiker Eugenio Calabi und dem chinesisch-amerikanischen Mathematiker und Fieldsmedaille-Preisträger Shin-Tung Yau). Es handelt sich dabei, meiner beschränkten Einsicht zufolge, um einen mathematischen Formalismus zur Formulierung und Handhabung der Topologie höherdimensionaler Mannigfaltigkeiten.
Ein Schnitt durch eine Calabi-Yau, die Quintik, Bildquelle deutsche Wikipedia, Kapitel Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten
Eine der unmittelbaren Konsequenzen aus dem Stringkonzept ist die Realexistenz von mehr Dimensionen als nur den drei Raum- und der einen Zeitdimension der herkömmlichen Raumzeit. Calabi-Yau-Räume nun verfügen über die bemerkenswerte Eigenschaft beliebig mehrdimensional "biegsamer" und ineinander überführbarer "Innenflächen" bzw. "Innenräume" höherer Dimension (die "Branen" der M-Theorie) und sind daher prinzipiell geeignet, selbst fürchterlich komplizierte höherdimensionale topologische Situationen mathematisch abbilden zu können. Mit speziellen Calabi-Yau-Räumen lässt sich zum Beispiel begründen, dass unser Universum je nach Theorie 9, 10 oder 11dimensional sein muss, wobei die über 3 hinausgehenden Raumdimensionen in Art eines Gartenschlauchs "eingewickelt" sind.
Dass dies auf unabsehbare Zeit nicht exakt geht sondern nur störungstheoretisch angenähert, ist, wie schon gesagt, nicht mein Problem. Mein Problem beginnt mit dem Zusammenhang zwischen den CY-Räumen und der realen Wirklichkeit. Green entwickelt nämlich einen fundamentalen Schlußfolgerungs-Algorithmus: wenn durch die mathematische Charakterisierung eines spezifischen CY-Raumes die Erklärung eines ungelösten physikalischen Problems gelingt, ist das ein Hinweis darauf, dass dieses ungelöste physikalische Problem im Rahmen der Stringtheorie seinen natürlichen Erklärungshintergrund gefunden hat.
Wohlgemerkt - CY-Räume sind reine Mathematik, daran ist nichts Physikalisches. OB es einen Bezug zwischen ihnen und realer Physik gibt, das zu erweisen wäre aus meiner Sicht Aufgabe der Stringtheoretiker. Statt dessen springt Greene auf der Grundlage dieses Algorithmus - ich stelle mir dabei einen Nerd mit glühenden Augen, einen aficionado, einen Besessenen vor^^ - von Aussage zu Aussage. Und die Aussagen entfernen sich immer weiter von tatsächlicher Physik, bis sie nur noch innere Ableitungen einer mathematischen Konstruktion sind, deren Bezug zur Physik völlig spekulativ bleibt und deren einziges Formulierungskriterium die - für mich nicht nachvollziebare - "Eleganz" ist, die mit ihnen offenbar einhergeht.
Gut zwei Drittel des Buches bleiben für mich aufgrund dieses Umstands reine Spekulation, im Grunde Glaubenssache. Völlig abgedreht wird es zum Beispiel, wenn Greene die Physik des Urknalls oder die Physik der Singularität Schwarzer Löcher aus Sicht der Stringtheorie erläutert. Für mich türmt sich da einfach Behauptung auf Behauptung, trotz des Umstandes, dass Green offensichtlich davon überzeugt ist, Herleitungen zu geben.
Oder ich bin zu doof dafür. Glücklicherweise erwähnt er gegen Ende Lee Smolin, der anscheinend aus ähnlichen Erwägungen als renommierter Kritiker der Stringtheorie gilt.
ps: das "Super" der Superstringtheorie meint nicht, dass Strings oder Stringtheorie besonders toll wären sondern verweist lediglich darauf, dass Stringtheorie (und die M-Theorie) die Supersymmetrie mit einbeziehen. Die M-Theorie ist die Muttertheorie der Stringtheorien - es hat den Anschein, als gäbe es nicht die Stringtheorie sondern fünf davon, die alle in der M-Theorie zusammenfließen.
Ein Buch, das mich ratlos zurück lässt.
Der wesentliche Knackpunkt, den ich hier ansprechen möchte, ist, wie zuletzt eigentlich immer, die Frage nach dem Wesen von Wissenschaft und Realität. Du stolperst bei Greene darüber, dass die Calabi-Yaus für dich "reine Mathematik" sind und das reine Erklären von Problemen kein hinreichender Hinweis auf ihre Realitätsnähe. Nun, der flache R³ der Alltagsphysik, der Minkowski-Raum der SRT und die gekrümmten (3+1)-Mannigfaltigkeiten der ART sind auch "reine Mathematik" und werden von uns nur als gültige Modelle der Realität anerkannt, weil sie so gut im natürlichen Erklären von Probleme sind. Die beiden letzteren explizit per wissenschaftlicher Methode, der erstere auf epistomologisch niedrigerer Ebene, aber im Prinzip durch denselben Mechanismus. Der Unterschied zu den komplizierten Stringtheorie-Räumen ist nur, dass die bisher nicht genug erklären, um den Komplexitätspreis aufzuwiegen. Daher sind sie nur faszinierende Spielerei, aber noch kein anerkanntes Weltmodell.
Die "Behauptungen auf Behauptungen" im späteren Teil kann ich ohne eigene Lektüre nicht beurteilen, vermute aber mal, dass er für vieles davon durchaus Herleitungen in der Hinterhand hat, die aber für das populärwissenschaftliche Buch nicht umsetzen konnte. Und in der reinen Theorie sind "Herleitungen" halt nur mathematische Konsistenzaufzeigungen, keine zwangsläufigen Ergebnisse unter Einbeziehung von Beobachtungsdaten.