Italienischer Erdbeben-Prognose-Prozess

Von der Genetik bis zur Quantenphysik, von der Atomkraft bis zur Künstlichen Intelligenz. Das weite Feld der modernen Naturwissenschaften und ihrer faszinierenden Entdeckungen und Anwendungen.
Traitor
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Mo 22. Okt 2012, 21:35 - Beitrag #1

Italienischer Erdbeben-Prognose-Prozess

Die italienische Justiz sorgt für internationales Kopfschütteln und verurteilt 7 Erdbebenforscher, die 2009 kurz vor dem L'Aquila-Beben fälschlich Entwarnung gegeben hatten (SpOn-Bericht). Obwohl sie anscheinend nach den ganz normalen Kriterien und dem Stand der Forschung gehandelt haben. Und nicht etwa nur formell für Verfahrensfehler, sondern drastisch wegen fahrlässiger Tötung zu mehreren Jahren Gefängnis.

Ich werde morgen mal meine italienischen Kollegen dazu befragen. Ich weiß, dass die mit ihrem Land großenteils eh abgeschlossen haben. Ansonsten hoffe ich, dass internationale Verbände und auch Politiker entschieden protestieren. Insbesondere im Verhältnis zur üblichen Immunität von Politikern ist das Strafmaß unfassbar, und schon vom Prinzip her sehr, sehr fragwürdig - wollen sie etwa auch Astronomen einsperren, wenn ein Meteorit einschlägt, und Mediziner bei jedem fälschlich nicht angeschlagenen Krebstest?

Maglor
Karteizombie
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Mo 22. Okt 2012, 22:08 - Beitrag #2

Wann machen sie endlich Poseidon den Prozess - von mir aus auch Neptun oder wie auch immer sie ihn nennen?

Ipsissimus
Dämmerung
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Di 23. Okt 2012, 00:07 - Beitrag #3

na ja, eine Entwarnung ist auch eine Voraussage. Vielleicht ist es dieser Konflikt? Alle scheinen zu wissen, dass viele Dinge sich nicht voraussagen lassen, aber trotzdem scheinen doch viele ganz gut als Propheten zu verdienen. Keine Ahnung.

Lykurg
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Di 23. Okt 2012, 09:15 - Beitrag #4

Napolitani, Maglor? Ich glaube, eher nicht.

Aber ja, die Entscheidung ist gruslig. Es hätte nie zu einem solchen Verfahren kommen dürfen - aber daß es obendrein in L'Aquila stattfand... Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Gericht auch nur näherungsweise 'unbefangen' gewesen wäre.
Zitat von Guardian:The trial began in September 2011 in L'Aquila, whose devastated historic centre is still largely a ghost town.
The defendants were accused of giving "inexact, incomplete and contradictory information" about whether small tremors felt by L'Aquila residents in the weeks and months before the 6 April 2009 quake should have constituted grounds for a quake warning.
(Quelle)
Man kann nur den Kopf schütteln und auf die nächste Instanz hoffen.

Traitor
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Di 23. Okt 2012, 14:51 - Beitrag #5

Einen umfangreichen Überblick der Ausgangslage gibt dieser Nature-Artikel aus dem letzten Jahr, kurz vor Prozessbeginn. Auch die Kommentare sind teilweise recht qualifiziert und erhellend.

Es gab also wohl zumindest ein TV-Interview eines der Angeklagten, De Bernadis, der in flapsigem Ton eine Art volle Entwarnung gab. Ansonsten scheint das Komitee nur in einer gerade mal einstündigen Sitzung saubere, wenn auch vielleicht nicht perfekt informierte, Risikoabwägung betrieben zu haben, und war sich nach eigener Aussage nicht bewusst, dass dieses Treffen einseitig zur Bevölkerungsberuhigung einberufen worden sein könnte. Die Risikoabwägung schien zumindest so ausgefallen zu sein, dass kein Bedarf für eine öffentliche Warnung gesehen wurde, eine offizielle Entwarnung wurde aber auch nicht gegeben.

Auf De Bernadis's unglückliche Aussage bezogen ist wohl festzustellen, dass er von geringem absoluten Risiko redete, was die Öffentlichkeit als aktiv gesenktes relatives Risiko missverstand.

Es gibt also durchaus Indizien für unsaubere Kommunikation. "Fahrlässige Tötung" ist dennoch ein grotesk unangemessener Anklagetatbestand. Absurd ist auch, dass der Kommission nachträglich vorgeworfen wird, den Zustand der Gebäude nicht in Betracht gezogen zu haben, sie sich aber anscheinend nie bewusst war, dass dies von ihr erwartet wurde, und auch keine Experten dafür dabei waren. Und wieso stehen dann nicht die Architekten, Vermieter und Baubehörden vor Gericht?

Lykurg
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Di 23. Okt 2012, 17:09 - Beitrag #6

Und wieso stehen dann nicht die Architekten, Vermieter und Baubehörden vor Gericht?
Möglicherweise, weil das im Umkehrschluß im Fall eines Schuldspruchs bedeuten würde, daß die Eigenheimbesitzer im entsprechenden Maße selbst schuld sind, was wiederum die wenigsten wahrhaben wollen? Da ist es viel einfacher, die Experten zu schelten, die die schlechte Nachricht nicht überbracht haben, und die entsprechend den vorliegenden Daten urteilten, statt es möglichst wirksam in den Medien zu vermarkten, wie zumindest unter Berlusconi üblich.


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