Dafür sind Sie zu blöd!

Von der Genetik bis zur Quantenphysik, von der Atomkraft bis zur Künstlichen Intelligenz. Das weite Feld der modernen Naturwissenschaften und ihrer faszinierenden Entdeckungen und Anwendungen.
Ipsissimus
Dämmerung
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Mi 18. Jun 2014, 13:42 - Beitrag #1

Dafür sind Sie zu blöd!

Sie interessieren sich nicht für Wissenschaft? Kein Problem, Naturforschung gehört normalerweise nicht zur Allgemeinbildung. Während man sich mit Wissenslücken über Maler, Dichter oder Komponisten blamieren würde, löst das Bekenntnis, die Planeten des Sonnensystems nicht zu kennen, allenfalls billigendes Gelächter aus.

Sie würden aber doch gerne mehr erfahren über Wissenschaft, wollen sich indes nicht durch leblose Beiträge quälen?

Dann gehören Sie wahrscheinlich zu jener trostlosen Masse, die Gutachtern zufolge "kompetent-kritische Beobachtungen des Wissenschaftssystems" nicht verdauen kann. Auf klare Erklärungen sollten Sie nicht hoffen: "Massenwirksame Wissenschaftspopularisierung", so schreiben es jedenfalls die Experten deutscher Wissenschaftsakademien in einer Stellungnahme, sei "Folge der Rückwärtsorientierung des Journalismus".

Die Gutachter konstatieren einen "Berichterstattungsbias", also eine Verzerrung zugunsten von "Mainstream-Themen". Die eigentlich wichtigen Themen hingegen seien "medial-sperrig". Soll wohl heißen: Wer verstehen will, muss leiden. Müssen Kenntnisse über Naturwissenschaft also auf Profis beschränkt bleiben?


http://www.spiegel.de/wissenschaft/mens ... 75862.html

Feuerkopf
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Mi 18. Jun 2014, 21:09 - Beitrag #2

Meine Meinung ist seit Jahren, dass auch schwierige Zusammenhänge mit gutem Willen verständlich erklärt werden können.
Die Matrixler beweisen das immer wieder. ;)

janw
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Do 19. Jun 2014, 01:08 - Beitrag #3

Zu wenige Publizisten haben die Absicht, komplizierte naturwissenschaftliche Sachverhalte zu verstehen, um sie verständlich zu vermitteln.
Das liegt in meinen Augen wesentlich daran, daß zu wenige Publizisten naturwissenschaftlich interessiert sind, geschweige sozialisiert und ausgebildet.

Feuerkopf
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Do 19. Jun 2014, 11:37 - Beitrag #4

Das liegt auch daran, dass viele (Zeitungs-)Verlage darauf verzichten, gut ausgebildete Journalisten zu beschäftigen. Bei den Freelancern scheint die Qualität von Zero bis Heroe zu reichen.

Ipsissimus
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Do 19. Jun 2014, 13:52 - Beitrag #5

Das Problem ist nicht auf Journalismus begrenzt. Wenn wir qualifiziertes Werbematerial benötigen, ist es immer wieder ein Kampf mit unseren Wissenschaftlern und Ingenieuren, ihnen ihr Wissen abzuringen und in eine Darstellung zu bringen, die sachlich richtig ist, dabei aber soviel Pfiff hat, dass das Prickelnde einer bestimmten Lösung wirklich so deutlich wird, dass auch nichttechnische Entscheider animiert werden, ein Produkt zu kaufen. Viele Wissenschaftler sind noch kleine Kinder und glauben ernsthaft, ihre Erkenntnisse seien um der Erkenntnisse willen da.

Traitor
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So 22. Jun 2014, 12:18 - Beitrag #6

Den SpOn-Artikel finde ich völlig wirr, insbesondere dieses Zweitehandzitat ist mir vollkommen unverständlich:
"Massenwirksame Wissenschaftspopularisierung", so schreiben es jedenfalls die Experten deutscher Wissenschaftsakademien in einer Stellungnahme, sei "Folge der Rückwärtsorientierung des Journalismus".

"Massenwirksame Wissenschaftspopularisierung" ist doch gerade das, was man erreichen will, und deren Scheitern wird ansonsten beklagt? Und was hat das mit "Rückwärtsorierierung" (auf was in der Rückwärtigkeit?) zu tun?
Das Original ist leider nicht viel besser:
Innerhalb der Redaktionen ist unter dem ökonomischen Druck ferner eine tendenzielle Rückwärtsorientierung des Wissenschaftsjournalismus zum Primat der (massenwirksameren) Wissenschaftspopularisierung eine logische Folge.

Immerhin lässt es aber erahnen, was anscheinend gemeint war, vor allem, wenn man den Folgesatz als kontextsetzend annimmt (der davor behandelte noch ein völlig anderes Thema):
Für die privaten Sender erschließen sich mit populären Formaten auch wissenschaftsferne Zielgruppen.

Anscheinend wird hier angenommen, dass es ganz früher mal eine Phase gab, in der nur auf sehr niedrigem, dafür sehr populärem Niveau berichtet wurde; dann zuletzt auf höherem, aber sperrigerem Niveau berichtet wurde; und jetzt die Tendenz wieder "zurück" geht? Deckt sich nicht mit meinem Eindruck, aber weiter vorne im Text behaupten sie zumindest:
Gleichwohl hat der Wissenschaftsjournalismus in Deutschland zwischen der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts einen international wohl beispiellosen Aufschwung erlebt. Die privaten Sender entdeckten, dass Wissenschaft kein Quotenkiller ist. Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten folgten dem gleichen Trend.
Die TV-Fokussierung finde ich aber auch sehr seltsam.

Nunja, weg von den komischen Phänomenanalysen, hin zu den eigentlichen Grundfragen. Ich denke, da muss man deutlich trennen zwischen anwendungsnaher Wissenschaft und reiner Wissenschaft.
Bei ersterer ist das beidseitige Interesse an Popularisierung deutlich größer - die Öffentlichkeit wird von den Entwicklungen direkt betroffen und will/sollte daher darüber informiert sein; die Wissenschaftler haben öfter im wörtlichen oder übertragenen Sinne etwas zu verkaufen. Hier gibt es eher die Probleme mit unkritischer Pressemitteilungsübernahme, ganz vielleicht auch Zensur (s.u.), aber auch mit falschem Fokus des mediengesteuerten Öffentlichkeitsinteresses auf pseudoskandalöse oder wunderversprechende Aspekte.
Bei zweiterer ist das Problem eher, dass die Wissenschaftler gar nicht wissen oder glauben, dass es öffentliches Interesse an ihrem Werk geben könnte, und die Öffentlichkeit gar nicht weiß, dass in diesem obskuren Wust interessante Erkenntnisse stecken. Zumal man dort fast immer den Fall hat, dass die konkreten Forschungsvorhaben ohne großes Hintergrundwissen kaum verständlich sind; oder verständlich, aber nicht interessant. Daher die Neigung der wissenschaftsseitigen Öffentlichkeitsarbeit, lieber Grundlagen darzustellen; und die des selbstaktivwerdenden Journalismus, dem Leser dröge erscheinende Einzelergebnisse an den Kopf zu knallen. Die Kombination können viele Medien aufgrund ihrer umfangsbegrenzten Formate wohl leider kaum leisten.

Noch was anderes - sehr irritierend fand ich auch diesen SpOn-Seitenhieb, der mal so ganz am Rande von der eigentlichen Inhaltsqualitätsdebatte ablenkt und plötzlich behauptet, ein wesentliches Problem sei Zensur seitens der Wissenschaftler:
Häufig würden sie Pressemitteilungen einfach ungeprüft übernehmen, heißt es im Gutachten. Was nicht drin steht: Selbst Reporter großer Medien lassen ihre Artikel vor Veröffentlichung von Wissenschaftlern kontrollieren, über die sie berichten - Zustimmung in der Forscherszene scheint wichtiger als unabhängige Berichterstattung.
Erstens weiß ich von in der Öffentlichkeitsarbeit tätigen Kollegen, dass diese "Kontrolle" oft eben nicht stattfindet. Zweitens erkennt man das auch an den Artikeln; besonders, wenn angebliche wissenschaftliche Erkenntnisse besonders konfus diskutiert werden, stellt sich nachher oft heraus, dass der Reporter seine Kontakte völlig falsch verstanden hatte und ihnen eben keine Kontrollmöglichkeit einräumte. Drittens wird doch z.B. bei Politikerintervies viel mehr kontrolliert, was geschrieben werden darf.
Zusammenfassend ist zu viel Kontrolle der Wissenschaftler über Medienberichte ja wohl keineswegs das Problem, sondern das genaue Gegenteil. Außer vielleicht in manchen Grenzbereichen von angewandter Wissenschaft und Wirtschaft.

Ipsissimus
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So 22. Jun 2014, 13:39 - Beitrag #7

Zusammenfassend ist zu viel Kontrolle der Wissenschaftler über Medienberichte ja wohl keineswegs das Problem, sondern das genaue Gegenteil. Außer vielleicht in manchen Grenzbereichen von angewandter Wissenschaft und Wirtschaft.


Ich bin mir nicht sicher. Bei uns ist es ganz sicher ein Problem, aber darüber hinaus habe ich sehr oft erlebt, dass für "ernsthafte Wissenschaftler" von ihrer Mentalität her eigentlich nur die sachliche Richtigkeit von Belang ist, selbst wenn sich diese - angeblich - nur in einem Deutsch formulieren lässt, das einem die Schuhe auszieht und die Haare zu Berge stehen lässt. Das Problem der Fachsprache ist dabei noch nicht mal mit einbezogen. Wobei meine Ansicht dazu eindeutig ist: Fachsprache dient nicht zur besseren Verständigung, sondern zum Ausschluss der Unwissenden.

janw
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Mo 23. Jun 2014, 02:08 - Beitrag #8

Ipsi, vielleicht ist das auch ein Problem der wissenschaftlichen Ausbildung und Sozialisation vor dem Hintergrund ungleich verteilter schriftlicher Begabungen.
Viele Menschen sind schriftlich mäßig begabt, brechen sich als Schüler in Aufsätzen einen ab und beginnen dann ein Studium. Dort wird irgendwann von ihnen verlangt, ihre Versuche schriftlich zu dokumentieren, später sollen sie dann Praktikumsberichte schreiben.
Hierbei geht es um das wissenschaftliche Schreiben, also die Gliederung einer wissenschaftlichen Arbeit, die nachvollziehbare Darlegung des thematischen Hintergrundes und der Untersuchungen unter Verwendung von Begriffen, die eine Verständigung mit anderen Wissenschaftlern ermöglichen, und um das richtige Verarbeiten und Wiedergeben von Literaturquellen. Manche meiner Kommiliton/innen waren ziemlich gefordert dadurch.
Wer von sich aus über eine gute "Schreibe" verfügt, konzentriert sich häufig auf diese und studiert darauf hin, eine Begleitqualifikation für eine journalistische Laufbahn zu erwerben.

Das heißt, die breite Öffentlichkeit wird als Zielgruppe für wissenschaftliche Informationen während des Studiums ausgeblendet und tritt für einen Wissenschaftler erst in Erscheinung, wenn er gelernt hat, sich für seinesgleichen in sonstewo verständlich auszudrücken.

Man müsste also Kommunikation als weiteres Modul in die Studiengänge aufnehmen.

Unabhängig davon ist es auch ein Problem, daß manche oder mehr wissenschaftliche Sachverhalte nicht unbedingt leicht in Begriffe der "normalen" Erfahrungswelt zu übersetzen sind. Man nehme nur mal Wahrscheinlichkeitsbegriffe, wie oft werden die dramatisierend mißverstanden...


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