Zu sagen, Kant sei "gefährlich nah an einer Art absoluter Moral, einer Moral apriorihafter absoluter Gültigkeit" erinnert mich an den Vorwurf, Thomas von Aquin sei gefährlich nah an der Annahme eines Schöpfergottes
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Gegen ein "Na und?" könnte Kant einwenden, dass seine ethischen Schriften eben nur für Leute gedacht sind, die vorhaben, ethisch zu handeln. Wenn ich zu einem Autor eines exzellenten Schachbuchs gehe und sage "Na und? Ich spiele gar keine Schach.", hat dieser allen Grund zu sagen: "Was kümmert mich dein Geschwätz?"
Etwas ernsthafter: Zu sagen, Moral sei eine willkürliche, zumindest durch Absichten bedingte Setzung, ist selbst durch Absichten und Zwecke bedingt. Für soziologische oder psychologische Studien halte ich das für eine sehr passende Einstellung. Für mich als handelndes Subjekt sehe ich aber nur einen beschränkten Nutzen. Der Nutzen, den ich sehe, ist, dass diese Einstellung mir hilft, anderer Leute Moraleinstellung nicht unreflektiert zu übernehmen. Es bleibt aber, dass ich Entscheidungen treffen muss, viele Entscheidungen. Viele dieser Entscheidungen scheinen keine ethischen Bezüge zu haben, wie z. B. ob ich mir noch ein Glas Wasser hole oder nicht. Ich denke, selbst in diesem Fall gibt es ethische Bezüge, da man verschiedene Bedürfnisse wie Faulheit und Durst gegeneinander abwägt, was im Hintergrund wieder auf Güter und Ziele verweist. In anderen Fällen sind ethische Bezüge sehr viel deutlicher (Schwarzarbeit, im Bus für einen älteren Menschen aufstehen, etc. pp.). Man bemerke, dass ich auch Abwägung verschiedener Aspekte des Eigennutzes als ethisch durchwoben ansehe (z. B. kurzfristige Schmerzvermeidung gegen längerfristiges Glück etc.). Da hätte ich Kant und eine ganze Schar anderer Leute sicherlich auch hinter mir [das ist nicht als Sach-, sondern als semantische Unterstützung gedacht.]
Mein Punkt ist also, dass man gar nicht nicht-ethisch handeln kann; Handlungen haben immer eine deutlich oder, meistens, eine weniger deutliche ethische Komponente. Nur in seltenen Fällen behandeln wir diese ethische Komponente bewusst, in den seltensten Fällen reflektiert. Nicht man die Aussage, dass Moral reine Willkür ist, ernst, wüsste ich nicht, was die Folgerung davon sein sollte. Eine könnte sein, vollständig auf unbewusste und unreflektierte ethische Prinzipien zurückzugreifen (sofern das möglich ist). Der Grundsatz "Do what thou wilt shall be the whole of the Law" ist erstens schon ein ethischer Grundsatz; zweitens macht er nur Sinn, wenn man 'Willen' spezifiziert. Das Verhältnis von Willen zu Bewusstsein ist so subtil, dass "Tu, was du willst." erstmal ein Grundsatz ist, aus dem nichts folgt. Auch der Angriff, dass Moral ja ohnehin immer nur das rechfertigt, was man ohnehin will, verkennt die Subtilität dieses Verhältnisses (auch wenn er eine gewisse Berechtigung hat).
Häufiger wird man die Situation vorfinden, dass trotz der Beteuerung, dass moralische Systeme reine Willkür sind, mit moralischen Begriffen wie 'Boshaftigkeit', 'schlechter Charakter' etc. hantiert wird. Die Einsicht, dass Moral reine Willkür ist, muss keinerlei Auswirkungen auf das eigene moralische Gerüst haben. Inwieweit dann diese Einsicht ernsthaft angewendet wird, mag dahingestellt sein. Man bemerke aber, dass die Einsicht zweiter Stufe, dass die Ansicht, Moral sei willkür, selbst wieder Absichten und Zwecken verpflichtet ist, erlaubt, Menschen, insofern sie diese Ansicht vertreten, selbst wieder soziologisch und psychologisch zu untersuchen.
Jedem kann Kant gleichgültig sein. Das Vorhaben, einem anderen seine Moral aufzuzwingen, ist aber (wie auch dir jenseits von Polemik sicherlich bewusst), keinesfalls der einzige Grund, sich mit einer ethischen Schrift zu beschäftigen. Anregungen für Leitlinien zum eigenen Handeln zu finden, ist ein anderer. Mir ist durchaus bewusst, dass im Korsett aus Gewohnheiten und sozialem Druck wir nur selten in Freiheit ein ethisches System anwenden werden; einen gewissen Einfluss mag es aber dennoch haben, je nachdem, auf welchen Boden es fällt.