Existentialismus - ein falscher Begriff?

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Traitor
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Sa 4. Sep 2004, 15:10 - Beitrag #1

Existenzialismus - ein falscher Begriff?

Üblicherweise werden die beiden Autoren/Philosophen Albert Camus und Jean-Paul Sartre als "Existentialisten" bezeichnet. Diese Bezeichnung kam mir schon immer etwas unpassend vor, da die These, nach der sie benannt ist (dass die reale Existenz wichtiger ist als geistige Konstrukte) zumindest bei Camus (Sartre kenne ich bisher noch nicht sonderlich) nur einen Randbereich ausmacht und wohl auch kaum so stehengelassen werden kann.

Die Lektüre seines Sisyphos lieferte mir jetzt ein Zitat, mit dem sich der Begriff eigentlich sogar komplett von Camus abwenden lässt:
Ich nehme mir die Freiheit, die existentielle Haltung hier "philosophischen Selbstmord" zu nennen. Das impliziert jedoch kein Urteil. Es ist nur eine bequeme Art, die Bewegungen zu bezeichnen, mit der ein Denken sich selbst negiert und danach strebt, in seiner Verneinung über sich hinauszugehen. Für die Existentialisten ist die Verneinung ihr Gott.

Mit dem Wort "Existentialismus" bezeichnet Camus in diesem Werk die Positionen von Sören Kierkegaard, Karl Jaspers und ähnlichen Denkern, die von einer Wahrnehmung des Widerspruchs zwischen menschlichem Rationalismus und Irrationalität der Welt auf das Göttliche schließen, während er selbst davon auf die Verantwortung des Menschen schließt.

Wie kommt es also, dass heutzutage Camus als Existentialist bezeichnet wird, obwohl er eigentlich eine andere philosophische Richtung damit bezeichnet, und zwar genau die, gegenüber der er seine eigenen Betrachtungen als konsequentere Variante sieht?

Padreic
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Sa 4. Sep 2004, 19:21 - Beitrag #2

Der Begriff Existentialismus hat Sartre als Beschreibung seiner eigenen Philosophie benutzt und damit wohl auch in das öffentliche Bewusstsein gebracht. Ich hab den Begriff bei ihm eigentlich immer als die Aussage, dass die Existenz der Essenz voraus geht, dass wir Menschen (im Gegensatz zu allem anderen) uns also selbst planen können, verstanden [Im Gegensatz zu herkömmlichen Theorien, beispielsweise christlicher Prägung, die das Existente mehr als konkrete Ausprägung eines Wie-Seins (beispielsweise ein Bild im Geiste Gottes) betrachtet]. Allgemeiner kann man vielleicht Existentialismus als eine Philosophie (obwohl es natürlich auch literarische existentialistische Strömungen gibt) betrachten, die ihren Fokus auf die menschliche Existenz legt und leugnet, dass diese durch rein naturwissenschaftliche Gesetze erklärt werden kann. Wichtig für wohl alle Existentialisten ist auch die Norm, dass man man selbst sein soll, wie es ja auch schon bei Kierkegaard im Extrem ausgesprochen wird.
Camus war nicht der einzige, der den Terminus Existentialismus für seine Philosophie ablehnte; Heidegger tat das gleiche. Kierkegaard und Nietzsche hatten zu dieser Ablehnung mangels Kristallkugel keine Gelegenheit, aber sie werden meist ja auch nur als Vorläufer der Existentialisten genannt.

Ein wenig zweifelhaft finde ich den Begriff zugegebenermaßen aber auch. Es wird innerhalb des Existentialismus eine für einen eine Strömung bezeichnenden Begriff unglaubliche Vielfalt von Aussagen vertreten, was sich am deutlichsten wohl darin manifestiert, dass ihm sowohl Theisten als auch Atheisten zugehören. Andererseits kann man nicht leugnen, dass es schon wesentliche Gemeinsamkeiten gibt, vielleicht weniger in den konkreten Aussagen, sondern vielmehr in den Betrachtungsweisen, dem Gefühl, dass bestimmte Anschauungen ungenügend sind, die menschliche Existenz zu beschreiben. Und man muss auch sagen, dass sich die Existentialisten, auch die mit wesentlich verschiedenen Aussagen, gegenseitig beeinflusst haben. Sartre wurde von Heidegger beeinflusst (den er seltsamerweise als Atheisten bezeichnete, was dieser jedoch stets leugnete), dieser wieder von Kierkegaard.
Hinzu kommt, dass der Existentialismus eigentlich die mir sympathischste Strömung in der modernen Philosophie (d.h. der nach Hegel) ist, sowohl die theistischen als auch atheistischen Richtungen. Da wäre es doch jammerschade, wenn man diesen Begriff auseinanderfallen ließe ;).

Padreic

Traitor
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Sa 4. Sep 2004, 19:47 - Beitrag #3

Aha, Sartre ist also der "Schuldige"... passt ja gut zu seiner Bejubelung des Schuldbegriffs :D

Die gegenseitige Beeinflussung der Philosophen, die man mit diesem Begriff bezeichnet, ist stark erkennbar, das stimmt. Camus bezieht sich auch ausdrücklich auf Kierkegaard und Heidegger.

Wenn man ihm folgt, dann verbindet ihn mit diesen der Ausgangspunkt, die Unterschiede finden sich in den Folgerungen daraus. Er unterstellt, dass auch Kierkegaard eine starke Wahrnehmung dessen hatte, was er selbst das Absurde nennt (ich gehe mal davon aus, dass Kierkegaard den Begriff nicht verwendete? So, wie ich es überblicke, tauchte er erstmals in den 20er- bis 30er-Jahren bei heute eher vergessenen französischen Philosophen auf). Dass diese und viele andere (als Philosophen nennt er Jaspers und Husserl, wobei mir letzterer absolut nichts sagt; als Literaten Dostojewski und Kafka) allerdings in der Wahrnehmung des Absurden nicht die von ihm selbst gezogene Konsequenz sehen, sondern sie fälschlicherweise wieder "lösen", indem sie die Diskrepanz zwischen Mensch und Welt mit dem Gottesbegriff auffüllen.

Somit existierten definitiv auch inhaltliche Parallelen, und es ist wirklich interessant, dass sich atheistische und theistische Theorien als ähnlich in der Herleitung erweisen können, bei so radikal verschiedenen Folgerungen.

Die Unpassendheit des Begriffes könnte man wohl damit umgehen, dass man von diesen Philosophen als "den Existentialismus verwendend" statt als existentialistisch spricht.

MagicMagor
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Sa 4. Sep 2004, 23:32 - Beitrag #4

Kierkegaard ist im Grunde genommen kein Existenzialist, aber er bildete die Grundlage, auf der sich andere Existenzphilosophieen entwickeln konnten.
Existenzphilosophie geht von der Existenz des Menschen aus. Des "Einzelnen" wie Kiergekaard es formuliert. In der mittelalterlichen Philosophie, wie der Scholastik war der Mensch nicht ein einzelnes Objekt, so Teil eines Gesamtgefüges, das von Gott erschaffen wurde. Diesen Ausgangspunkt gibt es bei Existenzphilosophen nicht. Desweiteren ist allen Existenzphilosophen gemein, daß sie dasselbe Grundproblem beobachten, nämlich, daß durch fortschreitende Technick der Mensch seine Orientierung in der Welt verliert. Bei Camus zeigt sich diese Orientierungslosigkeit im Absurden, Jaspers nennt es das Scheitern rationaler Weltanschauungen. Die Philosophen kommen jetzt natürlich zu unterschiedlichen Ansichten, wie der Mensch seine Orientierung, seinen Sinn im Leben, wiederfinden kann. Kierkegaard und Marcel wählen den Sprung in den Glauben, Jaspers beschreibt die Erfahrung von Grenzsituationen und Camus entwickelt das neue Wir-Gefühl.

Camus ist sicherlich kein reiner Existenzphilosoph, aber er gehört in diese Reihe von Philosophen und er geht von existenzialistischen Ansätzen aus. Der Mensch begegnet dem Absurden. Sein Ausweg aus dieser Absurdität verläßt dann aber schon den Pfad, den Menschen als isoliertes Objekt zu betrachten und kann schon fast Metaphysik genannt werden.

Manche Konzepte lassen sich nicht klar einer Richtung zuschreiben, weil sie viele Bereiche berühren, die Grenzen sind da manchmal fliessend. Diese Kategorisierung dient nur der Übersicht um bestimmte Philosophen gewissen Strömungen zuordnen zu können.

Der Begriff "Existenzphilosophie" wird als Begriff für eine philosophische Richtung verwendet in der man von einer Orientierungslosigkeit des Menschen gegenüber der Welt ausgeht und den Menschen isoliert betrachtet. Das bedeutet nicht, daß die Gesellschaft in solchen Konzepten nicht zum tragen kommt, aber es wird alles auf den Menschen bezogen, eben auf den "Einzelnen". Das ist die Gemeinsamkeit aller Existenzphilosophen.. Der Begriff ist mMn ganz korrekt gewählt.

Traitor
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So 5. Sep 2004, 01:05 - Beitrag #5

Desweiteren ist allen Existenzphilosophen gemein, daß sie dasselbe Grundproblem beobachten, nämlich, daß durch fortschreitende Technick der Mensch seine Orientierung in der Welt verliert.
Woher nimmst du den Zusatz, dass diese Orientierunglosigkeit vom technischen Fortschritt herrührt? Zumindest bei Camus (von den anderen weiß ich wie gesagt höchstens aus Sekundärliteratur) hat der mit dem Problem des Absurden nichts zu tun, es ist ein Grundproblem der Beziehung von Mensch und Natur, das offenbar wird, sobald ein Mensch bewusste Fragen stellt - egal ob in der Steinzeit, Antike oder heute.

Deinen restlichen Ausführungen kann ich an sich zustimmen, allerdings mit der Einschränkung, dass ich den Begriff Existentialismus für eine "philosophische Richtung" nachwievor unpassend finde - denn eine Richtung zeichnet sich meinem Begriff des Wortes nach vor allem durch gemeinsame Ansichten, also Folgerungen, aus. Ich würde den Existentialismus eher als eine Methode oder einen Ansatz bezeichnen, den viele Philosophen verschiedenster Richtungen verwendeten und als Ausgangspunkt ihrer Denkmodelle verwendeten.

MagicMagor
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So 5. Sep 2004, 23:31 - Beitrag #6

Woher nimmst du den Zusatz, dass diese Orientierunglosigkeit vom technischen Fortschritt herrührt? Zumindest bei Camus (von den anderen weiß ich wie gesagt höchstens aus Sekundärliteratur) hat der mit dem Problem des Absurden nichts zu tun, es ist ein Grundproblem der Beziehung von Mensch und Natur, das offenbar wird, sobald ein Mensch bewusste Fragen stellt - egal ob in der Steinzeit, Antike oder heute.


Existenzphilosophie war in der Steinzeit oder Antike nicht möglich. Der technische Fortschritt, vor allem im 19. Jh. hat vieles in der Natur entzaubert.
Dieses Grundproblem von dem die Existenzphilosophen ausgehen, ist zwar, nach Camus zB unabhängig von der Epoche oder den Menschen, aber es ist erst in der neueren Zeit offenbar geworden. Früher gab es nicht soviele Menschen, die ihre Orientierung in der Welt verloren haben und denen ein einfaches "Gott hat einen Plan" nicht reicht. Dieses Phänomen ist durch den Fortschritt in den letzten zwei Jahrhunderten verstärkt aufgetreten. Erst dadurch wurden dann ja auch Philosophen quasi darauf aufmerksam und haben sich da mehr Gedanken drüber gemacht.
Sartre hätte sein Werk "Das Sein und das Nichts" nicht geschrieben, hätte er nicht den zweiten Weltkrieg erlebt.

Existenzphilosophie bedeutet nicht von der Existenz des Menschen auszugehen, jedenfalls nicht nur. Es bedeutet von dem Menschen an sich, als isoliertes seperates Objekt auszugehen und die gesamte Welt auf den einzelnen Menschen zu beziehen und nicht den Menschen auf die Welt. Ebenso ein weiteres Merkmal, was ich vorher vergessen hatte, ist die Freiheit der Wahl. In vielen anderen, vor allem älteren Philosophieen gibt es diesen Befehlscharakter "Du sollst.." "Du musst.." und ähnliches. In allen Existenzphilosophen ist es die freie Entscheidung des Menschen, ob er den Weg beschreitet, den der Philosoph ihm vorschlägt.

Ipsissimus
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Di 15. Dez 2015, 14:33 - Beitrag #7

Ein zentraler Aspekt des Existenzialismus Sartrescher Prägung dürfte der Ekel vor der Existenz sein. Ein Mensch ist ausgeliefert ans Menschsein und damit ans Existieren. Die Frage lautet somit, wie es gelingen kann, dieser Ausgeliefertheit eine Eigenständigkeit abzuringen, die den Ekel überwindet und geeignet ist, einem Sinnsetzungsprozess zugrunde zu liegen. In dem Sinne verweise ich auf janws Signatur.

Traitor
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So 20. Jan 2019, 12:55 - Beitrag #8

Mann, bin ich alt. Aber immerhin funktioniert mein Gedächtnis: In einer Instituts-Lesegruppe war Camus' "Der Fremde" dran und ich musste darauf verweisen, dass ich sozusagen mogle, da ich ihn schonmal gelesen hatte, wenn auch vor einem guten Jahrzehnt. Tatsächlich mehr als 15 Jahre... Und in der Diskussionsrunde brachte dann tatsächlich auch ein Kollege genau dieses Thema hier auf: dass Camus den Begriff "Existentialismus" ablehnte. Ich konnte zwar Padreic und Magor (sic) nicht mehr ganz genau wortwörtlich referieren, so ungefähr hatte ich den Thread hier aber tatsächlich noch im Kopf. ;)

Als Fazit kann ich immer noch unterschreiben:
Zitat von Padreic:Andererseits kann man nicht leugnen, dass es schon wesentliche Gemeinsamkeiten gibt, vielleicht weniger in den konkreten Aussagen, sondern vielmehr in den Betrachtungsweisen, dem Gefühl, dass bestimmte Anschauungen ungenügend sind, die menschliche Existenz zu beschreiben.

und
Zitat von Traitor:Wenn man ihm folgt, dann verbindet ihn mit diesen der Ausgangspunkt, die Unterschiede finden sich in den Folgerungen daraus.


Noch zur Technik/Natur-Diskussion mit MagicMagor, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass er es jemals liest:
Beim Wiederlesen vom Fremden, diesmal die erste Hälfte auch auf Französisch zum besseren Anerkennen der grandios lakonischen Sprache einerseits und der emotional-poetischen Wucht, die in ihr trotzdem oder gerade deshalb stellenweise steckt, ist mir die Bedeutung der Naturerfahrung für Camus nochmal klarer geworden. Sonne, Meer und Strand geben der Hauptfigur eine mindestens ähnlich starke Erfahrung des Absurden wie Nachbarn, Straßenbahnen und Gerichtssäle. Im "Glücklichen Tod" war das (wenn auch nur auf 15 Jahre alte Erinnerungen gestützt) glaube ich ähnlich, von anderen Werken bin ich mir nicht mehr so sicher.

Und zurück in dieses Jahrzehnt, @Ipsissimus: Sartre hatte es mehr mit Ekel, Camus mit Ennui. Leicht andere Gewichtung, aber ja, das ist natürlich die gemeinsame zentrale Erkenntnis.
Jan, wo ist er nur... :(


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