Subjektivischer vs. objektivistischer Freiheitsbegriff

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Maurice
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Mo 25. Jun 2007, 23:07 - Beitrag #1

Subjektivischer vs. objektivistischer Freiheitsbegriff

Nachdem ich vor kurzem ein Essay von mir über Willensfreiheit (siehe alten Thread) und ein Buch von Harry Frankfurt gelesen habe ("Gründe der Liebe" [in dem es auch um Willen und Freiheit geht]), kam mir wieder die Frage nach der Willensfreiheit in den Sinn.
Ich bleibe bei meiner Position, dass wir keine Willensfreiheit in dem Sinne besitzen, wie der Begriff meiner Einschätzung nach sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft für gewöhnlich benutzt wird, nämlich in der Tradition Kants als Akteurskausalität, also als Fähigkeit, nicht vollständig durch natürliche Ursachen bestimmt zu werden, sondern neue Kausalketten erstellen zu können.

Ich möchte diesen Ansatz hier nicht nochmal diskutieren, weil dies in der Vergangenheit wenig gebracht und eher zu persönlichen Streitigkeiten geführt hat. Wie manchen bekannt sein dürfte, definieren andere Autoren den Ausdruck "Willensfreiheit" anders als Kant, z.B. der besagte harry Frankfurt:
Was bedeutet es, dass der Wille einer Person frei ist? Frankfurt beantwortet diese Frage, indem er, wie gesagt, Willensfreiheit in Analogie zu Handlungsfreiheit konstruiert. Handlungsfreiheit ist die Freiheit, das zu tun, was man tun will; ich verfüge über Handlungsfreiheit, wenn keine Hindernisse existieren, die es mir unmöglich machen, meine Wünsche in die Tat umzusetzen. Entsprechend gilt nach Frankfurt: Willensfreiheit ist die Freiheit, das zu wollen, was man wollen will; ich verfüge über Willensfreiheit, wenn nichts mich daran hindert, meine Wünsche (genauer: Volitionen) zweiter Stufe umzusetzen, d.h. wenn mich nichts daran hindert, meine Wünsche erster Stufe meinen Volitionen zweiter Stufe anzupassen. Willensfreiheit wird gleichgesetzt mit der Fähigkeit, selbst (durch Wünsche zweiter Stufe) zu bestimmen, welche Wünsche erster Stufe handlungswirksam werden, oder – wie Frankfurt auch sagt – welchen Willen man hat.
Quelle: http://www.philosophieverstaendlich.de/freiheit/modern/frankfurt.html


Als ich das oben genannte Essay schrieb, war mir Frankfurts Ansatz völlig unplausibel und entsprechend negativ fiel mein Urteil aus. Mittlerweile ist er mir gar nicht mehr so unsymphatisch, beschreibt er doch vielleicht ganz gut, wie wir uns selbst empfinden, wenn wir von uns sagen, wir seien frei: Wir bejahen unsere Handlungen und unsere Wünsche und empfinden sie als einen Teil unseres Selbst.
Der Vorteil dieses Ansatzes ist offensichtlich, dass er unproblematisch mit einem wissenschaftlichen Weltbild zu vereinen ist, da es keinen Widerspruch darstellt, auf der einen Sache durch Gene, Umwelt, Gesellschaft usw. bestimmt zu sein und sich auf der anderen mit seinem Willen positiv identifizieren zu können. Doch reicht diese Definition aus, um unserem üblichen Verständnis von "Willensfreiheit" zu genügen? Nach Frankfurts Definition könnten wir (eine radikale Skepsis mal beseite gelassen) nicht darüber irren, ob wir willensfrei sind oder nicht, da es uns klar ist, ob wir unseren Willen bejahen oder nicht. (In Fällen, wo wir uns nicht sicher sind, ob wir unseren Wünschen zustimmen sollten, herrscht imo keine wirkliche Bejahung.) Doch würden wir nicht dazu neigen, zu sagen, dass sich jemand darüber täuschen könnte, ob er willensfrei ist oder nicht?

Ein subjektivistischer Begriff von Willensfreiheit hat also prima facie im Gegensatz zu einem objektivistischen Begriff kein Problem mit wissenschaftlichen Auffassungen, erfasst aber möglicherweise wesentliche Elemente unseres Verständnisses von "Willensfreiheit" nicht.
Die Frage ist also: Lässt sich ein subj. WF-Begriff entwickeln, der unsere Alltagsintuitionen ausreichend beschreibt oder bedarf es eines objekt. Begriffs, der dann aber mit dem Determinismus der Neurobiologie kompatibel ist?


PS: Keine Ahnung, ob es die Ausdrücke "subjektivistischer" und "objektivistischer Willensfreiheitbegriff" gibt, sie fielen mir nur so ein und ich finde sie recht passend.

Edit: Den Thread über die rein persönliche Seite dieses Themas findet sich hier. Wer also nur schreiben will, in welchen Situationen er sich frei fühlt, tue dies bitte im anderen Thread. Hier soll es schwerpunktmäßig darum gehen, an befriedigenden subj. oder obj. Willensfreiheitsbegriffen zu arbeiten. Danke! :)

Ipsissimus
Dämmerung
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Mi 27. Jun 2007, 14:50 - Beitrag #2

ich denke nach wie vor, daß Handlungs- und WIllensfreiheit zwei Seiten derselben Medaille "Freiheitsempfinden" sind, wobar für das unmittelbare Empfinden die Handlungsfreiheit das entscheidendere Kriterium sein dürfte, da Menschen dazu neigen, sich über Dinge hinwegzutäuschen, solange sie ihnen nicht plakativ vor Augen stehen, und um ein Empfinden, daß ich nicht Wollen kann, was ich "eigentlich" wollen will, greifbar zu machen, gehört schon eine sehr starke Distanz zu sich selbst nebst einem hohen Maß an Abstraktionsvermögen.

Ganz allgemein bleibe ich bei meiner These, daß weder menschliches Handeln noch menschliches Wollen in einem idealistischen Sinne "frei" sind, sondern daß sich unser Freiheitsempfinden entlang von Freiheitsgraden hangelt, d.h. daß weder Handlungs- noch Willensfreiheit mit einem vollständigen Kontinuum (à la reelle Zahlen) an realen Entscheidungsmöglichkeiten einhergehen, sondern daß immer nur einige wenige distinkte Alternativen (à la "alle geraden natürlichen Zahlen kleiner zwölf") der möglichen Entscheidung relevant sind. Solange sich das Angebot solcher Alternativen nicht auf 1 verringert, werden die allermeisten Menschen das Gefühl haben, es gäbe etwas zu entscheiden und damit das Gefühl relativer Freiheit verbinden.

Ich denke, daß ein derartiger Ansatz einerseits dem diffusen Empfinden des Allerweltsgebrauchs als auch der dezidierten wissenschaftlichen Erörterung angemessen ist.

janw
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Di 10. Jul 2007, 20:29 - Beitrag #3

Ipsi, dann meinst Du also, daß dem Entscheidungsdenken eine sehr stark vereinfachte Modellierung der Welt voraus geht, mit einer begrenzten Anzahl von Entwicklungsmöglichkeiten?

Wenn man die Art dieser Modell- und Entwicklungsvektorbildung als soziokulturell "kontingentiert" ansähe, dann könnte man leicht darauf kommen, daß bestehende Denkergruppen immer nur zu einem recht begrenzten Radius neuer Ideen kommen werden.
Ein Ansatzpunkt für das Prinzip der "Zukunftswerkstatt"?


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