Zitat von Maurice:@Gene + Umwelt: Jede Fähigkeit bedarf einer genetischen Basis. Daraus folgt nicht, dass eine Fähigkeit deshalb auch notwendig vom Genträger entwickelt wird.
Man wird es nie schaffen, einem Goldfisch Stepptanz und das Schreiben von Gedichten beizubringen. Es fehlt ihm einfach die genetischen Voraussetzungen dafür. Ebenso wird ein Mensch niemals radfahren lernen, wenn er nie mit Fahrrädern in Berührung kommen wird. Es fehlen die notwendigen äußeren Einflüsse.
Wie sollten auch Merkmale beschaffen sein, die völlig ohne das eine oder das andere entstehen? Wie sollten solche überhaupt in die Welt gekommen sein? (Wenn man keine religiösen oder mystischen Erklärungsversuche bemühen will.)
Das klingt etwas, als meintest Du, es gäbe ein Fahrradfahr-Gen beim Menschen, zumindest eine diesbezügliche Disposition, die bei entsprechender Umwelt zum Ausdruck komme.
Daß Menschen Rad fahren, ist aber praktisch in gleichem Maße auf ihre Gene zurück zu führen, wie, daß Dir gerade diese Zeilen angezeigt werden, auf die Schaltungen Deiner Rechner- und Monitorplatinen und den Code Deines browsers und Deines Betriebssystems zurückzuführen ist.
Wir können Rad fahren, weil im Zuge einer kulturellen Evolution ein Fahrrad entwickelt worden ist und wir über die nötigen Kräfte, Gleichgewichtssinn und Koordinationsvermögen verfügen, es zu benutzen und wir zu jenen Menschen gehören, denen das Rad fahren nahe gebracht worden ist.
Und weil wir Lust dazu hatten, es zu erlernen.
Daß wir Rad fahren können, ist also eine mögliche, aber nicht notwendige Folge aus all diesen Voraussetzungen, kontingent also.
Man könnte IMHO die Fähigkeit zum Rad fahren auch als Emergenz ansehen.
Letztlich liegt hier auch der Hase im Pfeffer, weil Du mit Emergenzen Deine Schwierigkeiten hast - letztlich ist das Menschenmögliche aber zum großen Teil eben ein Set emergenter Eigenschaften, wesentlich bedingt durch etwas, das kulturelle Evolution genannt wird.
Wenn ich wüsste, dass der Student nichts dagegen hätte, würde ich sein Essay hier posten, in dem er einen soziobiologischen Erklärungsansatz darstellt.
Fürs erste hier ein Link zu einem kleinen Artikel von Voland zu dem Thema ->
Das ist jetzt natürlich sehr kurz und oberflächlich verfasst, weil es ein Zeitungsartikel ist, der auch dem Laien einen groben Überblick geben soll.
Du könntest den Studenten motivieren, seinen Essay selbst hier zu posten und mitzudiskutieren.
Der Artikel ist eine gute Quelle.
Allerdings offenbart er auch die Schwäche, welche dem soziobiologischen Erklärungsansatz in dieser Frage innewohnt, nämlich, daß sie versucht, alles auf die biologistische Schiene runterzubrechen, bis hin zu den konkreten Phänomenen der Beschäftigung mit transzendenten Inhalten.
Hier müsste mE die kulturelle Evolution stärker berücksichtigt werden, die eben diese und jene Wege eingeschlagen hat, sicher in Reaktion auf und Reflexion der jeweiligen Lebensverhältnisse, Bedürfnisse und Probleme der Menschen zu bestimmten Zeiten, aber angetrieben durch das, was den Menschen dazu einfiel, kontingente Prozesse also. Die heute offenbar allen Religionen eigenen 4 methodischen Eigenschaften sind dabei entstanden/entwickelt worden, weil sie den Menschen in den Sinn gekommen sind und dann konserviert worden, weil sie offenbar tragfähig waren, vielleicht auch, weil sie an einem Punkt so gesellschaftlich konstitutiv geworden waren, daß nichts von ihnen genommen und nichts hinzugefügt werden konnte, ohne diese gesellschaftliche Konstitutivität anzukratzen. Die Entstehung dieser methodischen Eigenschaften war also möglich, aber nicht notwendig, also kontingent.
In der Evolution der Tiere sind nur zwei Grundbaupläne für Gliedmaßen entwickelt worden, auf denen die gesamte Artenvielfalt der Insekten, Krustentiere und Wirbeltiere beruht.
Diese Grundbaupläne sind schon sehr früh in der Evolution entwickelt worden, etwa in der Zeit des ausgehenden Präkambriums und Kambriums vor etwa 600 Mio Jahren und seit dem im Wesentlichen unverändert.
Die Entwicklung dieser Grundbaupläne war mE ein kontingenter Prozess, daß sie konserviert wurden und keine weiteren hinzu gekommen sind, kann neben ihrer Funktionalität auf die Entwicklung der Genome zurückgeführt werden:
Parallel mit der Entwicklung der Artenvielfalt wurden die Genome größer und komplexer, durch die aufwendige "Verpackung" der DNA wurden manche Abschnitte durch eine mehr "innere" Lage besser vor mutagenen Einflüssen geschützt als andere, weniger abgeschirmte Bereiche, außerdem führte die Aufwicklung der DNA dazu, daß bestimmte Bereiche mit höherer Wahrscheinlichkeit beim crossing-over verlegt oder zerteilt wurden, als andere, die Mutationsrate eines Gens wurde also neben der Mutagenität der Umwelt auch durch die Lage des betreffenden Gens im Genom und seiner Organisationsstruktur bestimmt.
Hier scheint es nun - mir ist leider die Quelle entfallen - so zu sein, daß die die Grundbaupläne betreffenden Gene so liegen, daß sie stärker konserviert werden als andere, oder sie sind so stark an grundlegenden Steuerungsprozessen beteiligt, daß minimale Änderungen an ihnen sehr zuverlässig ein Systemversagen zur Folge haben. Somit war die Entwicklung weiterer Plattformen ab einem bestimmten Punkt praktisch unmöglich, weil die eingetretene Komplexität der Genome dies nicht mehr ermöglichten.
Ich sehe hier eine gewisse Analogie zwischen der biogischen und der kulturellen Evolution, in dem die methodischen Eigenschaften der Religionen aufgrund ihrer nur in unverfälschter Form gegebenen konstitutiven Wirkungen für die menschlichen Gesellschaften, die eben wesentlich auf tradierten Inhalten basierten, konserviert wurden, wie auch die Bauplan-Plattformen der Tiere konserviert wurden, weil Änderungen an ihnen für die betreffenden Organismen fatal gewesen wären bzw. waren.
Jein. Ein für die Fitness eher hinderliches Merkmal stirbt nicht notwendig aus, solange die Gensets andere phänotypische Merkmale hervorbringen, die diese Nachteile ausgleichen. [...] Für den mordernen wohlhabenden Menschen von heute, ist diese Vorliebe für fettes Fleisch aber eher fitnesshinderlich (mangelnde Bewegung, Übergewicht usw.). Trotzdem gibt es diese Vorliebe auch heute noch.
Mit Blick auf die Tatsache, dass adaptive Merkmale ihre fitnessfördernde Wirkung verlieren können, kann man nun auch fragen, ob Religiösität, angenommen sie war einmal fitnessförderlich, auch heute noch funktional ist.
Das können wir hier nicht entscheiden, sondern nur darüber mutmaßen, aber der Gedanke sei an dieser Stelle geäußert.
Man könnte sagen, daß unsere heutige Lebensweise nicht mehr an unsere genetische Konstitution angepasst ist, welche eher auf eine unregelmäßige und stark schwankende Nahrungsversorgung ausgelegt ist.
Daß wir diese Diskrepanz überleben, liegt an unserer Fähigkeit zu technischen Maßnahmen.
Die Frage ist eben, welches das adaptive Merkmal ist - die bei transzendenten Denkprozessen selektiv aktive Hirnregion oder die Religiosität oder ihre Erscheinungsformen.
Nach meinem Dafürhalten eher die Hirnregion, alles weitere ist Folge dessen, was Mensch damit angestellt hat.
Ich denke, daß diese Hirnregion auch nützlich ist, wenn wir eine atheistische oder areligiöse Haltung annehmen, denn sie ermöglicht es uns meiner Meinung nach auch, gedanklich aus uns herauszutreten, ein Bild unserer Selbst in unserer Welt zu gewinnen, uns auch in verschiedene andere Szenarien hinein zu denken - wichtige Voraussetzung für jede Art von Lebensperspektivenentscheidung.