Raum 101 - "das schlimmste auf der Welt...

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janw
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Do 10. Jul 2008, 21:58 - Beitrag #1

Raum 101 - "das schlimmste auf der Welt...

...das individuell verschieden ist“

In dem Buch "1984" von George Orwell wird als letzter Ort der Folter ein Raum 101 benannt, von dem bis zuletzt aber nichts bekannt wird, außer, daß in ihm Schreckliches geschieht.

Als die Hauptfigur des Romans, Winston, in diesen Raum geführt wird, sagt man ihr, daß hier "das schlimmste auf der Welt, das individuell verschieden ist" passiert.
Im Falle Winstons besteht dies aus der Ankündigung, von aus einem Käfig freigelassenen hungrigen Ratten aufgefressen zu werden, wozu dann alle Vorkehrungen getroffen werden.
Winston fleht vergeblich, man möge ihm das ersparen, zuletzt bittet er, man möge es der Frau antun, die er liebt, welches "Vergehen" letztlich zu seiner Verhaftung geführt hat. In dem Moment wird der Ansatz abgebrochen.

Ich frage mich nun, was dieses "schlimmste auf der Welt" ist, und ob es so individuell verschieden ist - besteht dies nicht eigentlich darin, hinterher damit leben zu müssen, um der eigenen Befindlichkeit willen jemand anderes, den mensch dazu geliebt hat, verraten zu haben, ihm die einem selbst zugedachten Qualen angewünscht zu haben, in dem damit verbundenen Verrat an sich selbst?

Mir scheint, das Buch nimmt vieles vorweg, was heute in den Folterzentren en vogue ist - Folter höchster Wirksamkeit, die keine sichtbaren Spuren hinterlässt, keine erkennbaren Narben.

Lykurg
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Fr 11. Jul 2008, 01:33 - Beitrag #2

Letztlich ist Willensbrechung und damit auch (selbst-)Erniedrigung das Ziel jeder Folter. Es gilt, jeden Widerstand zu überwinden, den das Opfer bietet; egal ob das Ziel die Erpressung von Informationen oder irgendein anderer Verrat des Opfers an seinen Idealen ist.

Dabei dürften die Mittel vergangener Jahrhunderte (wozu prinzipiell das Zusammensperren mit ausgehungerten Tieren ja auch gehört) in den meisten Fällen ausreichen, das Opfer längerfristig zu jedem beliebigen Zugeständnis zu bringen; den wenigsten mag es durch extreme Willenskraft und Ungeschick der Folternden 'gelingen', umzukommen, ohne sich preiszugeben.

Die besondere Perfidie in 1984 liegt eben nur daran, daß die Folterer durch den vervollkommneten Stasistaat zuverlässig die größte Schwäche ihres Opfers kennen und ausnutzen können, also gewissermaßen der Wirkungsgrad maximiert ist. Nur so kann die Folter mit den verwendeten Mitteln auch wirklich ohne sichtbare Narben verlaufen; hätte Winston zufällig keine Angst vor Ratten, sondern vor Spinnen gehabt, wäre er durch Anwendung der "falschen" Methode möglicherweise verletzt worden.

Das Ziel der Folter ist in seinem Fall die vollständige Aufgabe der Beziehung zu Julia und die Rückwendung zum Großen Bruder. Es wird durch seine Willensbrechung vollständig erreicht. Insofern läßt sich vielleicht der Moment der Willensbrechung bzw. Verrat der Ideale als das Schlimmste beschreiben, nicht der Rückblick auf den Verrat (der für die Folterer eher uninteressant ist).

Ich glaube, du läufst Gefahr, das Grauen darin übersehen: Die Brechung ist so vollständig, daß Winston eben nicht mehr unter ihr leidet, sondern sie völlig ausblendet. Er ist am Schluß des Romans wieder überzeugter Anhänger des Großen Bruders.

Ipsissimus
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Fr 11. Jul 2008, 12:01 - Beitrag #3

das eigentlich perfide im Opfergang von Winston und Julia besteht imo darin, dass die proklamierte Zielsetzung der Folter (ihre Seelen für die Liebe zum Großen Bruder zu öffnen) nur verschleiert, daß sie als Schlachtopfer zubereitet werden. In dem Augenblick, da es ihm gelang, den Großen Bruder zu lieben, wird Winston im Zuge einer Hass-Übung dem Mob übereignet; bei Julia wird das nicht mehr ausgeführt, man kann es sich aber denken. Winston/Julia wurden völlig umsonst gefoltert und gebrochen, es war kein anderer Zweck damit verbunden als die Berauschung an der eigenen Überlegenheit, dass man es kann.

zu deiner eigentlichen Frage, Jan, ich denke, es gibt Ebenen des Grauens. Die Technik in 101 besteht ja einfach nur darin, eine latente Phobie zu triggern. Frag einmal Phobie-Leidende, was es für sie bedeutet, mit dem Objekt ihrer Phobie unabweisbar konfrontiert zu werden, dann kannst du das Grauen ermessen. Das weitere Grauen, danach, ist ein Grauen des Lesers. Wilson und Julia spüren es nicht mehr, es ist für sie alles im Rauschen der Gleichgültigkeit aufgelöst.

Jatrix
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Sa 12. Jul 2008, 00:34 - Beitrag #4

[quote="Ipsissimus"]wird Winston im Zuge einer Hass-Übung dem Mob übereignet]

Huch, hab das Buch jetzt leider grad nicht hier, aber das ist mir neu? Oder hab ich da was falsch verstanden/übersehen/vergessen? Bei mir endet das Buch mit Winston, der endlich den Großen Bruder liebt - und Ende, glaub ich, bin nich sicher.

Zum Thema, auch wenns schon spät ist:
Ich denke (auch), dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. "Das Schlimmste der Welt" ist für Winston in dem einen Augenblick die Ratte, die Scham über den Verrat ist eine Nachwirkung, die mit der eigentlichen Brechung ja nicht viel zu tun hatte.
Allerdings könnte es sein, dass es für Winston jetzt ein neues "Schlimmstes der Welt" gibt, ich denke wenn er nochmal in Raum 101 müsste, bräuchte man keine Ratten mehr, dann würde eine Konfrontation mit der Verratthematik reichen.
Man _könnte_ also vielleicht sagen, dass das Schlimmste der Welt erst individuell ist und durch die Willensbrechung und den damit einhergehenden Verrat "kollektiv" wird, zumindest für alle die in Raum 101 waren.

Bin mir jetzt nicht ganz sicher, ob das eine Antwort auf irgendeine Frage des Threads is :D

mine'S^
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Sa 12. Jul 2008, 15:01 - Beitrag #5

Winston/Julia wurden völlig umsonst gefoltert und gebrochen, es war kein anderer Zweck damit verbunden als die Berauschung an der eigenen Überlegenheit, dass man es kann.


Das mag auf die exekutierenden Personen bezogen richtig sein, allerdings imo nicht auf die Institution, welche sie repräsentieren, denn die Institution big brother handelt nicht aus sadistischer Motivation, sondern stets aus Kalkül und mit emotionsloser Effizienz, daher zwiefle ich an der Richtigkeit des "Weil ich es kann" in diesem Kontext. Ich sehe da eher den Vorsichtsgedanken aka. Furcht als primäre Motivation, vergleich mit "Equillibrium", oder "Vendetta".


Zu Raum 101:

Ich frage mich was diese Folter zur schlimmsten macht, die Konfrontation mit der schlimmsten Angst ist ja das Ziel jeder Folter, es ist ja die Angst, die bricht, nicht der Schmerz oder tatsächliche Verlust. Wer die Angst übersteht, redet nie. Also liegt das besonders schlimme an dieser spezifischen Folter, wie janw es angedeutet hat, imo darin mit dem eigenen Gebrochensein leben zu müssen, was allerdings durch die Re-Indoktrination negiert wird, also für mich eigentlich sinnlos ist...

Lykurg
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Sa 12. Jul 2008, 21:35 - Beitrag #6

Willkommen, mine'S^! - Hinsichtlich der zweckgerichteten Motivation des Staates bzw. Big Brothers bin ich deiner Meinung; die Andeutung, in der deine Stellungnahme endet ("Vergleich mit "Equillibrium", oder "Vendetta".") verstehe ich so nicht, hier wäre ich für eine weitere Ausführung dankbar.

Die Last, mit dem eigenen Gebrochensein leben zu müssen, gilt ja ebenfalls für jede 'erfolgreich' durchgeführte (und überlebte) Folter, egal ob das Opfer mit dem spezifisch schlimmsten psychischen Druckmittel gebrochen wurde oder durch körperliche Qualen. In dieser Hinsicht stellt Raum 101 nichts besonderes dar, die Folgen sind theoretisch gleich. Sein Alleinstellungsmerkmal bleibt die Wahl der individuell 'richtigen' Methode aufgrund genauer Kenntnis des Opfers.

Jatrix, interessante Weiterführung dazu! - An den von Ipsissimus geschilderten Schluß kann ich mich auch nicht erinnern; habe es aber leider ebenfalls nicht zur Hand.

mine'S^
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So 13. Jul 2008, 00:14 - Beitrag #7

Vendetta und Equllibrium sind 2 Filme der Neuzeit, die ein orwell'sches Dystopia zeichnen und darin imo außerordentlich erfolgreich und daher absolut sehenswert sind. (Ich spreche hier allerdings nur von den englischen Vertonungen)

Deine Anmerkung zu meiner Theorie welche spezielle Signifikanz Raum 101 habe ist absolut zutreffend. Allerdings würde ich behaupten, dass jede Folter von entsprechenden Rahmenbedingungen ausgehend die größte Angst des Opfers als Ansatzpunkt haben wird, da hierin die größte Effizienz liegt. Einem Soziopathen mit der Beiwohnung der Exekution seiner Nachbarn zu drohen wird schwerlich den gesuchten Erfolg erzielen.

Möglicherweise ist das schlimme ja das Bewusstsein am Ende zu dem geworden zu sein was man verachtet hat. Möglicherweise ist nicht die Wahl der Mittel während der Folter das Schlimme sondern das Ergebnis, was allerdings vorraussetzt, dass der frischgebackene Schäuble-Bewunderer sich dessen bewusst ist. Wobei eigentlich auch nicht, denn das impliziert ja bereits sadistische Motive, die ich in Abrede stelle. Möglicherweise reicht das Wissen um das unvermeidliche Ergebnis, Raum 101 als Schlimmstes zu deklarieren. Ich bin mir da noch nicht ganz sicher...

janw
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So 13. Jul 2008, 01:34 - Beitrag #8

Sei ganz herzlich willkommen, mine'S^!
Der Grund für die Verwirrung um die öffentliche Zurschaustellung bzw. "Hinrichtung" Winstons liegt in den Quellen:
Im Buch findet sie nur als randlich traumartig erlebtes Geschehen statt, wohl aber wird sie in der mir zugänglichen Verfilmung aus dem Jahre 1984 explizit dargestellt.
Dort wird eine Teleschirm-Szene eingeblendet, in der Winston von Gedankenverbrechen bis zur Brunnenvergiftung alle denkbaren Verbrechen gesteht. Wortlaut und Abfolge sind dabei dieselben wie schon bei den anderen gezeigten öffentlichen "Geständnissen" und Winston sitzt während der Ausstrahlung im Cafè - wodurch sich diese "Geständnisse" als reine Scheinereignisse herausstellen. Am Schluss des Films erklärt Winston seine Liebe zum Großen Bruder.

Die sehr stark gedankenorientierte Handlung nach der Zimmer 101-Szene wird in dem Film sehr gerafft und auf einen Teil der Aktionen reduziert, dabei gehen die Äußerungen Julias verloren, welche die Wirkung der Folter beschreiben:
"At the time when it happens you do mean it.[...] You want it to happen to the other person. [...] And after that you don't feel the same toward the other person any longer."

mine'S^
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So 13. Jul 2008, 03:35 - Beitrag #9

Danke euch Beiden. Mir ist das Buch nicht mehr so genau im Gedächtnis ist schon ein paar Jahre her, außerdem war ich ziemlich jung als ich es las, aber finden die Folterungen nicht im Liebesminsiterium statt? Google bestätigt das auf den ersten Blick. Dadurch fühle ich mich in meiner Annahme bestätigt, dass die schlimmste Folter die unausweichliche Abkehr vom inneren Selbst ist, gewissmeraßen die vollständige Selbstaufgabe, Selbstverlust vielleicht eher, zugunsten des folgsamen Jauchzers.

m Buch findet sie nur als randlich traumartig erlebtes Geschehen statt, wohl aber wird sie in der mir zugänglichen Verfilmung aus dem Jahre 1984 explizit dargestellt.


Ich habe das Buch jetzt nicht zur Hand (und den Film fand ich Mist und habe ihn nicht ganz gesehen) aber ist diese Sequenz nicht als Rückblick auf die Folter zu verstehen? Also der Prozess der Gedankenwäsche durch die Augen von Winston?

Lykurg
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So 13. Jul 2008, 11:15 - Beitrag #10

Wäre das Ergebnis der Brechung (oder die Angst davor) das Schlimme an Raum 101, könnte darüber kein gesellschaftlicher Konsens herrschen. Denn ein bedingungsloser Anhänger des Großen Bruders wird wohl kaum etwas daran auszusetzen haben, wenn ein Abweichler wieder auf den rechten Weg gebracht wird. Die Aufgabe seiner zwischenzeitlichen Haltung ist dann als Gewinn zu betrachten. Und auch ein gegenüber dem Regime indifferent eingestellter Proletarier wird in dieser Brechung vielleicht etwas Schlimmes sehen, aber gleich das Schlimmste? Diese Ansicht könnte nur ein Kritiker haben. O'Brien meint aber, daß jeder weiß: "The thing that is in Room 101 is the worst thing in the world." - Und ich bin noch nicht überzeugt davon, daß "thing" hier wirklich im übertragenen Sinn verstanden werden muß. -

In welchem der drei anderen Ministerien sollte die Folter sonst stattfinden? Ziel ist ja, daß das Opfer wieder zur Liebe zum BB zurückgeführt wird (und nebenbei die gegenüber Julia endet).

Ipsissimus
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So 13. Jul 2008, 12:45 - Beitrag #11

meines Erachtens kann der Buchschluss im Sinn einer Parallelbildung verstanden werden. Unabhängig davon, ob es denn Goldstein, den angeblichen Verfasser des Buches "Die Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus" gegeben hat oder nicht - und ob O`Brien das Buch in Gänze selbst geschrieben hat oder nicht - so wird es in Antizipation der Leiden Winstons und Julias so dargestellt, als durchlitte er das gleiche Schicksal wie die beiden, wurde gebrochen und im Augenblick seiner Hinwendung zum Großen Bruder dem Mob übereignet; dies wird im Buch explizit dargestellt, ohne dass ersichtlich würde, ob ein tatsächliches Geschehen geschildert wird, oder ein Geschehen, das in der Art real ist, wie es im Sinne der Partei allein aufgrund der Behauptung seitens der Partei als real aufgefasst werden muss, ohne dass diese Behauptung widerlegbar wäre, weil alle gegensätzlichen Indizien vernichtet werden.

Im Falle Winston wird dieser Ausgang, wie Jan schon darlegte, durch die Televisorbilder in der Öffentlichkeit vermittelt, und wird somit in der Buchrealität faktische Realität, unabhängig davon, was mit Winston und Julia in diesen Augenblicken tatsächlich der Fall ist; es ist das, was die Öffentlichkeit als Wirklichkeit glaubt, und somit das einzige, was im Sinne der Parteidoktrin wirklich relevant ist. Gegenstand des Buches ist, abstrakt formuliert, ja auch das Verhältnis zwischen "realer" und behaupteter Wirklichkeit und der Vergiftung - und Disponibilität - der realen Wirklichkeit durch das Zwiedenk.

Dies führt mich zu der Auffassung, dass das, was mit den beiden passiert, etwaige Läuterungen oder Gesinnungswandel, völlig gleichgültig ist, weil die Televisorfälschungen zu jedem x-beliebigen Zeitpunkt hätten plaziert werden können, womit Winstons und Julias Folterung als persönlicher Mutwillen O`Briens entlarvt ist, oder, wenn man es "positiv" sehen will, in O´Briens Ehrgeiz begründet ist, seinen Opfern die Überlegenheit der parteilichen und gedankenpolizeilichen Doktrin und Methodik - Krieg ist Frieden, Gedankenverbrechen, Unpersonen, Neusprech und Zwiedenk - zu beweisen, denen Winston ja widerstehen zu können glaubt. Jeder Zweck, den die beiden für Partei oder Gedankenpolizei erfüllen könnten, ist bestens durch Televisordarstellungen erzielbar. Ein über Mutwillen hinausgehender Zweck der Gehirnwäschen bestünde nur dann, wenn O`Brien die beiden wirklich für die innere Partei anwerben wollte, wozu aber keinerlei Veranlassung besteht.

Viel interessanter als die Raum101-Szene ist für mich in diesem Zusammenhang die Szene, in der Winston gegen seinen Willen aufgrund der Behauptung und Manipulation O`Briens tatsächlich 6 Finger an seiner Hand sieht, wo nur 5 sind, Winstons Wahrnehmung also virulent wird, und das Zwiedenk siegt. In dieser Szene wird etwas suspekt, was für einen Menschen viel wesentlicher ist, als nur seine Werte. Wenn ich meiner Wahrnehmung auf einer fundamentalen Ebene nicht mehr trauen kann, kann ich gar nichts mehr trauen, und eine Behauptung und ein reales Geschehen können mit Fug und Recht als gleichwertig aufgefasst werden.

Die Brechung des Wertesystems erscheint demgegenüber nur so bedeutsam, weil so viele Idealisten unterwegs sind ... ^^ Wenn Winston und Julia tatsächlich über ein tiefergehendes Verständnis des Menschlichen und seiner Werte verfügten, wären sie einander nach Ende ihrer Gefangenschaft in die Arme gefallen und hätten sich "vorerst entkommen" zugeflüstert, ganz davon abgesehen, dass ihre Gefangenschaft anders verlaufen wäre^^

mine'S^
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So 13. Jul 2008, 14:15 - Beitrag #12

Warum könnte darüber kein gessellschaftlicher Konsens bestehen? Ich stimme auch dem ges. Konsens zu, dass es für einen Vater das schlimmste sei seinen eigenen Sohn zu Grabe zu tragen, ohne Vater zu sein. Abgesehen davon, dass Selbstverrat (Winstons Verrat an den eigenen Idealen und der liebe zu Julia) ja nicht nur für Kritiker des Regimes das schlimmste ist, sondern für jeden Menschen, der von irgendentwas eingenommen ist. Und das Musterbeispiel personifizierter Ataraxie wird wohl sehr selten sein. Ferner halte ich es für essentiell, dass eben O'brien, der doch iirc Winstons Schicksal geteilt hat eben diese Aussage tätigt, also nahelegt selbst nicht immer der gewesen zu sein, der er ist.

Das "thing" hier tatsächlich als Gegenstand oder Entität zu betrachten ist mir pers. zu abgehoben und passt nicht in die beabsichtigte Realitätsnähe des Dystopias.


Ein über Mutwillen hinausgehender Zweck der Gehirnwäschen bestünde nur dann, wenn O`Brien die beiden wirklich für die innere Partei anwerben wollte, wozu aber keinerlei Veranlassung besteht.[...]
Wenn ich meiner Wahrnehmung auf einer fundamentalen Ebene nicht mehr trauen kann, kann ich gar nichts mehr trauen, und eine Behauptung und ein reales Geschehen können mit Fug und Recht als gleichwertig aufgefasst werden.


Der Kontaminationsgedanke kommt hier also nicht zum Tragen? Sowas wie das Statuieren eines Exempels? Ist nicht die doppelte Wahrnehmung/Denkweise mit der Möglichkeit des willentlichen "Umschaltens" das gewünschte Ziel der Parteioberen? Da gibt es doch eine Szene in der die Notwendigkeit ab und an die tatsächliche Realität zu sehen erläutert wird, da ja sonst nie ein Fortschritt erzielt werden könne. Ich kann mich der Einschätzung, dass der Verlust der obj. Wahrnehmung das Entscheidende sei nicht anschließen, Wahrnehmung ist doch durch Erziehung et cetera immer gefärbt und nie obj.

Ipsissimus
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So 13. Jul 2008, 15:06 - Beitrag #13

welches Exempel für wen? In der öffentlichen Darstellung werden die beiden hingerichtet, was sicher eines von endlos vielen Exempeln ist, aber nicht auf die Folter rekurriert, die innere Partei benötigt kein Exempel, und die äußere Partei ist in ihrer Informiertheit über das faktische Geschehen beinahe so eingeschränkt wie die Öffentlichkeit. Der Gedanke, dass O`Brien Goldstein gewesen sein könnte, hat allerdings zugegebenermaßen etwas Faszinierendes^^ und würde tatsächlich der Interpretation Raum verschaffen, dass Winston und Julia als Aspiranten für die innere Partei aufgebaut werden sollen^^

das Menschliche kann im Übrigen auch ohne vollendete Ataraxia verstanden und berücksichtigt werden, wobei ich zugebe, dass Winston und Julia nicht zu den Menschen zählen, von denen ich glauben würde, dass ihnen das gelingt^^ was aber aus meiner Perspektive wieder dafür spricht, dass ihr persönlicher Opfergang Folge persönlicher Defizite ihres Lebensverständnisses ist, die O´Brian in die Hände spielen

Das Wahrnehmung gefärbt ist, liegt auf einer völlig anderen Ebene angesiedelt, als es eine Gewissheit wäre, dass der eigenen und jeglicher Wahrnehmung grundsätzlich nicht mehr getraut werden kann, niemals mehr

mine'S^
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So 13. Jul 2008, 17:01 - Beitrag #14

Einerseits drängt sich mir da irgendwie die "Containment" Doktrin (nicht policy) auf, andererseits hätte es vollkommen ausgereicht beide zu denunzieren und zu exekutieren um dieser Zielsetzung gerecht zu werden, da hast du absolut Recht, wobei die Alternative auch ihren Reiz hat.

Deinem Argument zur Wahrnehmungsfärbung kann ich nichts entgegnen, dennoch halte ich den Verlust der Verlässlichkeit der Wahrnehmung nicht für das Schlimmste, gemessen am Verrat an sich selbst, was ich aber nicht sinnvoll begründen kann.

Ich sollte das Buch wohl nochmal lesen, bevor ich was dazu sage, mit 25 bleibt viell. mehr hängen als mit 15. ^^

janw
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Sa 19. Jul 2008, 02:50 - Beitrag #15

Zitat von Ipsissimus:Viel interessanter als die Raum101-Szene ist für mich in diesem Zusammenhang die Szene, in der Winston gegen seinen Willen aufgrund der Behauptung und Manipulation O`Briens tatsächlich 6 Finger an seiner Hand sieht, wo nur 5 sind, Winstons Wahrnehmung also virulent wird, und das Zwiedenk siegt. In dieser Szene wird etwas suspekt, was für einen Menschen viel wesentlicher ist, als nur seine Werte. Wenn ich meiner Wahrnehmung auf einer fundamentalen Ebene nicht mehr trauen kann, kann ich gar nichts mehr trauen, und eine Behauptung und ein reales Geschehen können mit Fug und Recht als gleichwertig aufgefasst werden.

Die Brechung des Wertesystems erscheint demgegenüber nur so bedeutsam, weil so viele Idealisten unterwegs sind ... ^^ Wenn Winston und Julia tatsächlich über ein tiefergehendes Verständnis des Menschlichen und seiner Werte verfügten, wären sie einander nach Ende ihrer Gefangenschaft in die Arme gefallen und hätten sich "vorerst entkommen" zugeflüstert, ganz davon abgesehen, dass ihre Gefangenschaft anders verlaufen wäre^^

Das käme IMHO dann hin, wenn der mit dieser einen, bestimmten Liebe verbundene Werterahmen nur auf der idealistischen Ebene verortet wäre, wenn es sich dabei um Handlungsalgorithmen handelte, die mit einem "weil es so gut ist" verbunden sind. Ich habe den Eindruck, daß Winston zumindest glaubte, daß die Liebe seinerseits tiefer ging, auf die Ebene, auf der die eigene Wahrnehmung verortet ist, wodurch sie genauso dem Zwiedenk ausgeliefert gewesen wäre wie die Wahrnehmung der Finger. Die Erschütterung wäre danach die Erschütterung darüber, sowohl was die sinnliche Wahrnehmung betrifft, wie auch dem Umgang mit quasi einem Teil von sich selbst, versagt zu haben, soetwas wie Selbstzerstörung auf der ganzen Linie.
Was das Verständnis des Menschlichen betrifft, gebe ich Dir aber recht^^ denen fehlte da noch etwas Reife, Lebenserfahrung,...

Zitat von mine'S^:Warum könnte darüber kein gessellschaftlicher Konsens bestehen? Ich stimme auch dem ges. Konsens zu, dass es für einen Vater das schlimmste sei seinen eigenen Sohn zu Grabe zu tragen, ohne Vater zu sein. Abgesehen davon, dass Selbstverrat (Winstons Verrat an den eigenen Idealen und der liebe zu Julia) ja nicht nur für Kritiker des Regimes das schlimmste ist, sondern für jeden Menschen, der von irgendentwas eingenommen ist.

Nun, für einen Prol oder einen überzeugten Anhanger des Großen Bruders wäre die Durchsetzung des Zwiedenk und die Wiedergewinnung der Liebe zum Großen Bruder ja die Herstellung des Zustandes "wie es sein soll", würde also nicht mit irgendeiner Norm kollidieren.
Das von etwas "Eingenommen sein" drückt ganz gut aus, was IMHO sowohl gesellschaftliche Konventionen wie auch eigene Ideale sind, nämlich doxa, herrschende Lehre. Das Gegenteil von Handlungsprämissen durch Selbsterweisung, und auf die Liebe bezogen Liebe aus irgendwelchen Motiven statt aus freien Stücken.
Ich überlege grad..."Liebe unter Willen", wie wäre das zu sehen? Au, au, es wird exotisch^^

Könntest Du nochmal erklären, was Du mit containment oder Kontamination meintest?

mine'S^
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Sa 19. Jul 2008, 12:22 - Beitrag #16

Die Aussage, dass die "Strafe" in Raum 101 die individuell schlimmste sei muss nicht bedeuten, dass Winstons Strafe auch für Parteitreue die schlimmste Strafe wäre, denn die werden ja nicht bestraft, sondern nur für die, die tatsächlich bestraft werden. Die Parteitreuen stimmen dem entweder zu, weil sie selbst zur Liebe gefoltert wurden, oder aufgrund dem Konsens, dass der Verrat an den eigenen Idealen, Maximen und doxa das schlimmste sei. Empathie gewissermaßen. Darüber Hinaus ist ja Bruderliebe nur eine Konsequenz, die zweite, der Verrat an Julia ist ja noch wichtiger, aufgrund des Schwurs, dass sie nie verraten würde. Darauf wollte ich mit der Konsens-Sache hinaus.

Die Containment-Doktrin beschreibt das Vorgehen gegen eine potentiell katastrophale Epidemie, geich welcher Art und Weise, durch die Herrschenden. Bevor Kritik oder Andersartigkeit sich ausbreitet und ein Bewusstsein im Volk erzeugen kann werden der Ausgangspunkt und alle potentiell Infizierten platt gemacht. Sämtliche Pläne der US-Regierung/Geheimdienste zum Thema unbekannte und tödliche Bedrohung realisieren diese Doktrin in Form von Isolierung und Luftangriff.
1. Gebiet isolieren und Übertritte verhindern
2. Gebiet in verbrannte Erde umwandeln
3. Cover Up ausrollen (Reaktorunfall, Chemiewaffenfabrik, Terroranschlag)

Containment-Doktrin daher, da das primäre Ziel nicht die Rettung der Nicht-Infizierten im Zielgebiet oder die Heilung der Infizierten sondern das Verhindern einer Ausbreitung um jeden Preis, ist.


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