Mathematik als beschreibende Wissenschaft

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blobbfish
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Mo 20. Jul 2009, 14:11 - Beitrag #1

Mathematik als beschreibende Wissenschaft

Nun, der Themenname sagt schon vieles, fast alles, aber trotzdem möchte ich das ganze noch weiter erörtern und auch zur Diskussion stellen. Oftmals wird ja doch die Frage gestellt, was Mathematik ist und wie sie sich von anderen Wissenschaften unterscheidet, so ist es eben keine Naturwissenschaft im klassischen Sinne (diese Aussage ist teilweise revidierbar), aber auch keine klassische Geisteswissenschaft. Da man als Mathematiker/Physiker aus meist Niveaugründen das auch nicht sein, kümmere ich mich auch nicht daraum (Wissenschaften, in denen abgewogenen wird, wo Argumente unpräzise sind, sind für mich keine Wissenschaften. Wissenschaften müssen korrekte unzweifelbare Sätze liefern). Aber wie soll man Mathematik als deskreptive Wissenschaft betrachten, wenn sie doch auf die Welt keinen direkten Bezug nimmt? Kein Mathematiker nimmt Messungen vor, seine Ergebnisse erhält er durch reine Denkarbeit. Und wer hier zustimmt, ist auf dem Holzweg und kann vor allem eine Frage nicht beantworten: Wieso wir mit Mathematik abstrakt aber zutreffend Ereignisse in der Natur/Welt beschreiben können, sei es von der Betrachtung von Steinwürfen, Planeten bis hin zu Börsenereignissen. Ein Skeptiker und ich denke auch ein Rationalist und wohl auch ein Formalist kann diese Frage nicht beantworten. Hilbert hatte damals die Metamathematik eingeführt, auf der einen Seite war dann der math. Satz als rein log. Satz, ohne jeglichen Inhalt (Logik ist Wissenschaft des schließens aufgrund der Form allein), auf der anderen Seite die Metamathematik, die Aussagen über die Mathematik macht, alles mathematische in Hochkommas setzt und dann von Inhalten spricht (sprechen darf).

Aber ist es nicht eigentlich andersherum? Wir betreiben Mathematik, inhaltlich, aber auch als formales System. Das formale System ist ein Werkzeug, der Inhalt ist aber im System durch uns gegeben. Wir bilden das System, wir sehen, was wir tun. Der formale Anteil ist es, der der Geltung der Mathematik Probleme bereitet, aber der formale Anteil ist es, der Mathematik möglich macht, der sie abgrenzt. Anstelle der empirischen Sammlung von Informationen tritt das Sammeln von Informationen aufgrund von Schlussformen, aber unterliegen diese Schlussformen denn nicht unserer Welt (warum auch immer)?

Ipsissimus
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Mo 20. Jul 2009, 22:41 - Beitrag #2

Natur ist abstrahierbar, zwar nicht für unser Empfinden, aber für unsere Absichten und Pläne. Daher bin ich nicht gezwungen, eine natürliche Gerade in ihrer natürlichen Unregelmäßigkeit zu behandeln, sondern ich kann sie zu einer abstrakten Gerade idealisieren, der alle natürlichen Eigenschaften einer Gerade fehlen, die aber zu meinen Intentionen passt. Über diese idealisierte Gerade kann ich dann meine Metabeschreibungssprache, genannt Mathematik laufen lassen, und erhalte idealisierte Antworten über idealisierte Eigenschaften. Danach setze ich diese idealisierten Antworten in meine natürlich Gerade ein und halte diese für beschrieben.

Sobald ich versuche, meine reale Gerade mit dem Mittel der Mathematik in allen ihren natürlichen Eigenschaften zu beschreiben, werde ich sehr schnell erleben, dass die Rechenleistung meiner Rechner (außer vielleicht bei extrem einfachen Strukturen) genauso wenig dazu ausreicht wie die Fähigkeit der Mathematik, reale Strukturen umfassend zu beschreiben, bzw. ich bin gezwungen, zu Näherungsmethoden zu greifen.

Anders ausgedrückt, Mathematik beschreibt keine Wirklichkeit, sondern idealisierte Modelle von Wirklichkeit, die wir entlang unserer Absichten in Wirklichkeit übersetzen.

blobbfish
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Di 21. Jul 2009, 12:16 - Beitrag #3

Das ist zweifelsohne richtig was du sagst, darum geht es mir aber nicht. Es geht aber auch nicht darum, natürliche Geraden zu behandeln, genausowenig wie es darum geht, ideale Gerade zu behandeln, um deinen Sprachgebrauch zu verwenden. Im übrigen wirst du auch keine natürliche Gerade finden, erst durch eine Abstraktion. Die Gerade sie du siehst, um es mit Aristoteles zu sagen, bekommst du, indem das drumherum wegnimmst, was aber bleibt übrig?

Mir geht es, um bei den Geraden zu bleiben, darum, dass eine Gerade in deinem letzteren Sinne, durchaus auch eine Gerade im ersteren Sinne ist, sie ist es insofern, als dass ich dir diese Gerade hinschreiben oder gezeichnet andeuten kann, sie ist abstrakt existent, daher betrachte ich sie als einen Teil der Welt, ebenso wie Zahlen, die vielleicht zweifelsohne obskurer sind, wo Zahl in unabstrahierter Form (die es nicht gibt), nicht vorkommt, sondern erst durch eine Tätigkeit (zählen, wie/was auch immer) induziert wird. Faktisch erhalte ich aber so auch Zahl ohne Zahlbegriff, als dann rein abstraktes unbezeichnetes Objekt, ein handlungserzeugtes Objekt, sogar, ohne zu wissen, dass da Zahl "ist". Sogesehen gleicher Begriff, andre Bedeutung (ungeschickt) . Gerade als synthetisches, menschgemachtes natürliches abstraktes Objekt. Was tue ich dann also, wenn ich Mathematik mit/an dieser Geraden betreibe?

Ipsissimus
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Mi 22. Jul 2009, 10:34 - Beitrag #4

na, dann zeig mir mal eine Zahl, ohne Zahlzeichen zu verwenden^^ die Vorstellung ist uralt, geht wahrscheinlich auf Pythagoras zurück, für den Zahlen heilige Entitäten waren und als solche realexistent gedacht wurden; sie wurde philosophisch auch mit ihm beerdigt, abgesehen davon, dass sie in schöner Regelmäßigkeit immer mal wieder "neu" entwickelt wird.

Und ich glaube schon, deine Frage beantwortet zu haben: Mathematik beschreibt Natur realistisch, weil sie Natur überhaupt nicht beschreibt, sondern nur Modelle davon. Und diese Modelle sind mehr oder weniger funktionale Annäherungen an reale Situationen.

Die Straße, deren Steigung durch eine Gerade (oder von mir aus durch einen Differentialquotienten) ideal korrekt beschrieben wird, hat in Wirklichkeit minimale lokale Abweichungen davon. Da diese Abweichungen für unsere Pläne mit der Straße nicht funktional sind, sind die mathematische Gerade oder der Differentialqotient "korrekte Beschreibungen der realen Steigung, obwohl sie nur an wenigen Punkten die reale Steigung treffen, die über die gesamte Länge an unzähligen Stellen um milliardenstel Grad divergiert.

blobbfish
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Mi 22. Jul 2009, 17:56 - Beitrag #5

Wenn ich dir eine Zahl mit Zahlzeichen zeige, zeige ich dir das Zahlzeichen, nicht aber die Zahl. Zu einem Zahlbegriff und damit auch zu einem Objekt Zahl gelangst du auch ohne explizite Zahlzeichen, sie werden einfach nur mitinduziert. Vgl. Peano-Axiome (oder auch Bolzano).

Mathematik beschreibt Natur realistisch, weil sie Natur überhaupt nicht beschreibt, sondern nur Modelle davon. Und diese Modelle sind mehr oder weniger funktionale Annäherungen an reale Situationen.


Nun, dass wir mit Mathematik nur Modelle erhalten, bestreite ich auch nicht, auch nicht, dass wir damit funktionale Annäherungen an reale Situaionen haben, auch nicht, mich dünkt aber, dass in deinem Satz etwa steht, etwas Wirklichkeit mathematisch zu modellieren und dann zu rechnen und eine Rückübertragung stattfinden zu lassen, allerdings ist das nicht Mathematik im eigentlichen Sinne, sondern eine Nutzung. Vielmehr ist Gegenstand der Mathematik das losgelöste davon. Allgemeiner. Mir geht es nicht um die Nutzung, mit Mathematik Aussagen über die Welt/Natur zu machen, sondern Mathematik als eine Wissenschaft, die über den mathematischen Teil der Welt/Natur aussagen trifft, provokativ ausgedrückt.

Ipsissimus
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Do 23. Jul 2009, 09:58 - Beitrag #6

Zitat von blobbfish: Vielmehr ist Gegenstand der Mathematik das losgelöste davon. Allgemeiner. Mir geht es nicht um die Nutzung, mit Mathematik Aussagen über die Welt/Natur zu machen, sondern Mathematik als eine Wissenschaft, die über den mathematischen Teil der Welt/Natur aussagen trifft, provokativ ausgedrückt.


definiere "mathematischer Teil der Welt/Natur"

Mathematik spielt jedenfalls eine Sonderrolle in der Wissenschaftstheorie, weil ihre Ergebnisse nicht falsifizierbar sind. Mathematische Theorien entstehen durch strenge logisch-formale Herleitung, sind sie erst einmal bewiesen, sind sie in der Regel endgültig. Mit Kant gesprochen, echte Erkenntnisse a priori. Ob sie daher eine Natur- oder doch eher eine Geisteswissenschaft ist, darüber darf genüsslich debattiert werden.

janw
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Do 23. Jul 2009, 16:30 - Beitrag #7

Zitat von Ipsissimus:Mathematik beschreibt Natur realistisch, weil sie Natur überhaupt nicht beschreibt, sondern nur Modelle davon. Und diese Modelle sind mehr oder weniger funktionale Annäherungen an reale Situationen.

Ist das Mathematik oder nur ihre Regeln, angewandt auf Beobachtungen in der Natur?

Für mich besteht der Unterschied zwischen Mathematik und den anderen Naturwissenschaften darin, daß diese nach meinem Empfinden immer Metasysteme betrachten mit demzufolge emergenten Eigenschaften: Die Eigenschaften der Elemente sind Ausdruck der Zusammensetzung ihrer Atome, die Gasgesetze machen nur Sinn, wenn man Atomansammlungen betrachtet, nie ein einzelnes Stickstoff-Atom, gilt vergleichbares nicht auch für die Hauptsätze?
Demgegenüber sehe ich die Eigenschaften der Zahlen als diesen immanent an - vielleicht sind sie sogar das, was die Zahlen existiert?
Existiert vielleicht gar nur eine Zahl, die eins, als Opposition des Nichts?

blobbfish
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Mo 3. Aug 2009, 12:23 - Beitrag #8

Jan, das ist, denke ich keine Mathematik, sondern Anwendung von Mathematik. Wundersamerweise funktioniert die Anwendung aber. ;)

Zu deiner letzen Frage, nun, ich denke, Zahl als Gegenteil von Nichts, taugt nicht, zum einen ist die Frage, was die eins ausmacht und die andre Frage, woher du andere Zahlen nimmst. Gerade in der Antike, auch Spätantike, vielleicht auch vornehmlich diese, wurden die Zahlen allesamt auf die Eins zurückgeführt, was dazu führte, dass es wundersam Paradoxe Erscheinungen gab. Als Beispiel nehmen wir Überlegungen von Sextus Empiricus (leider weiß ich nicht um die Übersetzung, vertraue der vorliegenden aber sinnvoll zu sein)
Aber auch das Ganze un der Teil werden nicht mit ausgeschaltet. Denn das Ganze scheint durch Zusammenkommen und Hinzufügen der Teile zu entstehen und durch Fortnahme eines oder einiger Teile aufzuhören, Ganzes zu sein.
Ferner, wenn es ein Ganzes gibt, dann ist das Ganze entweder verschieden von seinen Teilen oder seine Teile selbst. Etwas Verschiedenes von den Teilen nun scheint das Ganze nicht zu sein. Denn wenn die Teile aufgehoben werden, bleibt zweifelslos nichts übrig, um das Ganze als etwas anderes außer ihm betrachten zu können. Wenn das Ganze aber die Teile selbst ist, dann ist das Ganze nur ein Wort, ein leerer Name, und hat keine eigene Existenz, wie auch die Entfernung nichts ist außer den voneinander entfernten Dingen und eine Balkenverbindung nichts außer den verbundenen Balken. Also gibt es kein Ganzes.

Aber auch keine Teile. Wenn es nämlich Teile gibt, dann sind sie entweder Teile vom Ganzen oder voneinander oder jeder von sich selbst. Weder aber vom Ganzen, da es nichts ist außer den Teilen und außerdem die Teile dann Teile von sich selbst sein müssten, weil jeder der Teile ja das Ganze ausfüllen soll; noch voneinander, da der Teil in dem, dessen Teil er ist, enthalten zu sein scheint und es unsinnig ist zu behaupten, die Hand etwa sei im Fuß enthalten.
Aber jeder Teil ist auch nicht Teil von sich selbst. Denn wegen des Enthaltens müsste dann doch etwas größer und kleiner sein als es selbst.
Wenn also die angeblichen Teile weder Teile des Ganzen sind noch von sich selbst noch voneinander, dann sie von gar nichts Teile, und sie von nichts Teile sind, dass sie auch keine Teile;


Ich denke, man kann heutzutage sagen, dass Zahl, als auch Vermehrung und Verminderung durchaus verstanden sind, ebenso wie Einheit, und dass, das ist der Punkt, diese Konzepte für die Zahl nicht kohärent aufgehen. Ich denke, es ist verstanden, was Zahl ist, auch wenn es vielleicht noch nicht überall angekommen ist (gilt sicherlich auch für Mathematiker).



Mathematik spielt jedenfalls eine Sonderrolle in der Wissenschaftstheorie, weil ihre Ergebnisse nicht falsifizierbar sind. Mathematische Theorien entstehen durch strenge logisch-formale Herleitung, sind sie erst einmal bewiesen, sind sie in der Regel endgültig.


Und dagegen möchte ich mich wehren, nicht gegen den ersten Satz, sondern gegen den zweiten. Eine Mathematische Theorie ist falsifizierbar, eine ideale (zunächst ohne nähere Spezifikation, kann auf Wunsch entwickelt werden) mathematische Theorie darf nicht faslifizierbar sein und ist es tatsächlich auch nicht. Wir haben leider, oder zum Glück keine solche ideale Theorie.
Wie sieht aber nun die Falsifizierbarkeit aus? Rein empirisch wie die der hiesigen Naturwissenschaften oder empirischen Wissenschaften wie der Psychologie ist sie nicht, aber es gibt durchaus Gemeinsakeiten und Parallelen, was die Faslifikation, Konsequenz und Methodik betrifft, obgleich die Mathematik auch einige spezielle Fälle hat. Fangen wir mit einem speziellen an, der Beweisanalyse. Der Beweis wird geprüft, auf Fehler, es ist zweckmäßig ihn zu zergliedern (Hilfssätze), diese genauer zu prüfen. Diese Prüfung funktioniert insofern, als dass man Zweifel anbringt, Zweifel äußert sich so, dass nach Beispielen und Gegenbeispielen geschaut wird, aber nicht nur dies, die Beispiele und Gegenbeispiele müssen klassifiziert werden, nämlich ob sie schon den Satz widerlegen oder dem Satz genügen, aber nicht dem Beweis, weiterhin kann ein Hilfssatz auch schon ohne Gegenbeispiel angezweifelt werden, insofern dass die Vermutung dort als nicht wahr akzeptiert wird.
Weniger speziell und allgemein auf andere Wissenschaften ausweitbar ist die Methode der Überprüfung oder der Monsterjagd. Man such gezielt Objekte, die den Vorrausetzungen des Satzes genügen, aber nicht die Folgerung teilen. Im 19. Jahrhundert hat sich ein regelrechter Sport solcher Jagden etabliert, bogleich es auch um das erfüllen von Defintionen ging.
Dass ein Satz an sich also wahr ist, ist mitnichten sicher und eine strenge Beweisführung gibt es auch garnicht. Und ein Satz ist durchaus auch nicht endgültig, und damit meine ich nicht, eine Verallgemeinerung, sondern eine Variation des Inhalts aufgrund externer Einflüsse, die aber die Extension des Satzes unberührt lassen. Ein Satz hat eine Aussage, eine Aussage Bedeutung, wird die Bedeutung der Aussage geändert, kann sich der Satz, trotz Anpassung an die Bedeutungsänderung als falsch oder unzulänglich erweisen, teilweise mag es auch nur für den Beweis gelten. Und Bedetungen ändern sich in der Mathematik ständig, durch Weiterentwicklung und Präzisierung. Ein gutes Beispiel der Moderne dafür ist das Omega-Kalkül (unendlich große Zahlen), welches einen beträchtlichen Teil der Sätze der gewohnten Standardanalysis (betrifft auch die, die du in der Schule gelernt hast) ändert, ohne die Extension zu ändern.

Ipsissimus
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Mo 3. Aug 2009, 14:16 - Beitrag #9

ich frage mich gerade, ob es sowas wie eine mathematische Theorie in Analogie zu einer physikalischen Theorie überhaupt gibt, oder ob ein mathematischer Satz bereits seine eigene Theorie ist. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das nur eine Nomenklatur-Frage ist oder ein echtes Problem dahinter steckt.

Wie dem auch sei, nehmen wir mal einen einfachen bescheidenen Satz wie den Mittelwertsatz der Differentialrechnung, wonach es unter genau festgelegten Voraussetzungen zwischen zwei Punkten eines Funktionsgraphen mindestens einen Kurvenpunkt gibt, für den die Tangente parallel zur Sekante durch die beiden gegebenen Punkte ist.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Satz noch in irgendeiner Nuance zur Frage steht, solange seine Voraussetzungen erfüllt sind. Natürlich, ändere ich die Voraussetzungen, muss ich ihn modifizieren, aber das ist irgendwie trivial^^ Er kann nicht falsifiziert werden im Rahmen seiner Voraussetzungen. Oder sehe ich da etwas grundlegend falsch?

blobbfish
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Mo 3. Aug 2009, 14:41 - Beitrag #10

Ob du etwas falsch siehst, musst du selber entscheiden, ich mache dir nur eine Differenz auf:
Ich halte den Satz durchaus für wahr, also richtig, d.h. zutriffend, d.h. ich zweifel nicht am Wahrheitsgehalt, ich weiß aber, dass der Satz nicht wahr sein muss, weil ich nicht sicher sein kann, dass es keine Ausnahmen gibt (methodisch-skeptizistisches Argument). Ich denke, man kann das noch weiter führen, bishin zu absurdum.

Wenn er wahr ist, kann er nicht falsifiziert werden. Das ist die Ausdrucksweise, die ich bevorzuge.

Im übrigen ist der MWS weder einfach noch bescheiden, wenn man ihn genauer betrachtet, insbes. wenn man sich seine Geschichte anschauen würde, kann ich morgen gerne machen. Dann würdest du auch sehen, warum Zweifel immernoch berechtigt sein kann/könnte. Besser gesagt ist er elementar und grundlegend. Witzig ist aber deine Formulierung, die von Graphen, Tangenten, Sekanten und Punkten spricht. Der Satz scheint ein auftretendes Phänomen zu beschreiben, es gelingt eine geometrische Anschauung der Aussage, sogar eine, die wir auch ohne Kenntnis des Satzes erwarten und vielleicht sogar schon konkret gesehen haben.


Nachtrag: In meinem vorigen Beitrag habe ich Theorie und Satz nicht getrennt und auch nicht darauf geachtet, ich denke mal über deinen Hinweis nach.

Ipsissimus
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Mo 3. Aug 2009, 15:27 - Beitrag #11

Wenn er wahr ist, kann er nicht falsifiziert werden. Das ist die Ausdrucksweise, die ich bevorzuge


wenn ein Naturgesetz "wahr" ist, kann es auch nicht falsifiziert werden, außer dadurch, dass Beobachtungen gemacht werden, die es widerlegen. In dem Sinne kann ein wahrer mathematischer Satz eben nicht widerlegt werden, weil die Grundlage seiner Formulierung eben nicht die Anhäufung von Einzelbeobachtungen ist, die sich dann z.B. zu einer Gerade zusammenfassen lassen, sondern eine formal-konsistente, vollständige Herleitung, die "keine Lücken" lässt. Du kannst sicher sein, dass es in alle Ewigkeit keine Beobachtungen geben wird, die ihn widerlegen könnten

Damit erscheint es mir so, als liegen die "Ontologien" mathematischer Sätze und physikalischer Theorien in prinzipiell verschiedenen Wirklichkeitsweisen.

blobbfish
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Mo 3. Aug 2009, 17:51 - Beitrag #12

Ein wahres Naturgesetz kann auch nicht widerlegt werden. Mir fällt allerdings dämlicherweise erst jetzt ein und auf, dass ich Teilweise die Falsifizierbarkeit und die Möglichkeit der Falsifizierbarkeit nicht getrennt habe. Mir schien, eben, du hast einen anderen Falsifizierbarkeitsbegriff als ich, aber bei genauerer Betrachtung hat sich das als nicht haltbar herausgestellt. Entschuldige diese Schlamperei.
Das Prinzip der Falsifizierbarkeit kann ich ja auch anwenden, wenn es nicht falsifizierbar ist, weil die Aussage wahr, oder falls empirisch, zutreffend ist. Somit ist es auch möglich, eine wahre mathematische Aussage (wahr im Sinne von tatsächlich wahr) falsifiziert werden, indem ich die Vor. ausschöpfe. Es mag verzweifelt sein und wirken, das tun zu wollen. Womöglich auch bescheuert.

Ipsissimus
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Di 4. Aug 2009, 09:44 - Beitrag #13

ob es verzweifelt oder bescheuert ist, musst du selbst entscheiden^^

leider hast du, an wohl entscheidender Stelle, einen Satz etwas unglücklich beendet; ich verstehe nicht wirklich, was du mit
Somit ist es auch möglich, eine wahre mathematische Aussage (wahr im Sinne von tatsächlich wahr) falsifiziert werden, indem ich die Vor. ausschöpfe.

sagen möchtest, vor allem der letzte Teil ist mehrdeutig.

Mir kommt es so vor, als basierten deine Aussagen darauf, dass du keinen Unterschied zwischen Prädikatenlogik und Empirie machst. In der Mathematik hast du ein Set von Axiomen, und du hast Ableitungsregeln. Bei beiden stellt sich nicht die Wahrheitsfrage, es sind Setzungen, und die Frage, ob sie irgendeiner Wirklichkeit entsprechen, ist für ihr Funktionieren gleichgültig. Du wendest also deine Ableitungsregeln auf deine Axiome an und erhältst dadurch wohlgeformte Sätze, was du mit den Mitteln der Prädikatenlogik beweisen kannst. Wir können Gödels Sätze hier mal außen vor lassen, denn die sind zweifelsohne faszinierend, haben aber mit dem Kern dieses hier diskutierten Problems nicht so viel zu tun.

Jeder Falsifizierungsversuch eines wohlgeformten Satzes läuft wiederum darauf hinaus, dass du die Korrektheit der Ableitungen gemäß der Regeln überprüfst; ist die gegeben, gibt es keine andere Falsifizierungsmöglichkeit mehr. Das heißt, die Logik erschlägt einen derartigen Satz im Augenblick und für alle Zeit - solange sich die Logik nicht ändert, bleibt dieser Satz im Bezug auf die zugrunde liegenden Axiome und Ableitungsregeln wohlgeformt.

Das ist ein dramatischer Unterschied zu den Sätzen der Physik. Selbst der Satz schlechthin, der Energieerhaltungssatz, könnte sich nach einer Milliarde Jahre Brauchbarkeit immer noch als falsch herausstellen, sobald eine Beobachtung ihn widerlegt. Das kann einem mathematischen Satz nicht passieren, einmal bewiesen, gilt er für immer, und du kanst ihn höchstens in einen Kontext einbauen, der seine Vorraussetzungen nicht erfüllt. Das ist aber schon "Anwendung". Falsifiziert werden kann also nicht mehr der Satz, nur noch seine Anwendung.


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