"Warum sollte ein Baby leben?"

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der Wahrheit.
Maglor
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Di 11. Dez 2012, 00:08 - Beitrag #21

Das ganze Thema ist recht merkwürdig.
Zum einen bestehen falsche Vorstellungen über die gesetzliche Regelung.
Die meisten Kinder in Deutschland werden abgetrieben, weil Mutter sein kurz- oder langfristig nicht mit dem Lifestyle zusammen passt oder das ungeborene Kind angeblich behindert ist. Dies sind allerdings keine legale Gründe für eine Abtreibung.
Die meisten Menschen glauben, ein Frau könne sich in Deutschland einfach so für oder gegen das ungeborene Kind entscheiden.
Zitat von Traitor:den von mir angenommenen deutschen Standardkonsens - ein "ich bin erst 20 und habe noch keinen guten Job und keine Lust auf Verantwortung" bei gesundem (noch recht jungen) Fötus scheint ja mehrheitlich als hinreichender Grund anerkannt zu sein, von dir aber wohl sehr definitiv nicht?

Die gegenwertig in der Gesellschaft vorherrschenden Moralvorstellungen stimmen nicht mit der aktuellen Rechtslage überein. Die aktuelle Rechtslage entspricht nicht der Sitte. Die Werte des Grundgesetzes sind meistenteils jedoch juristisch oktroyiert - dazu weiter unten mehr.

Ungeborene Kinder dürfen in Deutschland nur abgetrieben werden, wenn das "Austragen des Kindes" für die Frau überhaupt nicht mehr zumutbar ist.
Dies ist eigentlich nur bei einer akuten körperlichen oder seelischen Erkrankung der Kindsmutter, eventuell noch bei Minderjährigkeit der Fall und natürlich dann, wenn es sich um die Frucht einer Vergewaltigung handelt. Alle anderen Frauen erreichen die zumutbare Opfergrenze sicherlich nicht.

Dabei muß der Frau bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, daß sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt. § 219 ABs. 1 S. 2 StGB

Die mögliche Behinderung des Kindes stellt nach deutschem Recht nicht automatisch eine Begründung für eine legale Abtreibung statt. So hat es zumindest Karlsruhe 1993 entschieden, ganz gegen den Zeitgeist. Trotzdem geht die Mehrheit der Bevölkerung davon aus, dass es legal ist, ungeborene Kinder aufgrund von Behinderung zu töten und sie halten dies für einen guten, wenn nicht den besten oder einzigen Grund.

Die übliche Abtreibungspraxis in Deutschland entspricht nicht der aktuellen Rechtslage. Da kein Bewusstseinstest stattfindet sondern nur ein Beratungsschein vorgelegt werden muss, kommen sie jedoch damit durch. De facto haben Frauen in Deutschland die Wahl, de jure aber nicht!

Zurück zur Gefählichkeit der Debatte: Humanismus ist Zeitgeist. Er verändert sich ständig und ist nur ein gesellschaftlicher Konsens, der binnen weniger Jahrzehnte verfliegen kann.
Die Gesetze jedoch - zumindest die wirklich wichtigen - entstehen nicht durch demokratische, sondern durch juristische. Es bleibt bei Wortklauberein um ein die Worte eine Verfassung, deren Väter und Mütter irgendwann gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickten.
So bleiben die sogenannten zivilisierten Länder von Dammbruch verschont. Sie sind zum Festhalten an wilhelminischer Zucht und Ordnung im Wortsinne verurteilt. Was bleibt ist eine kleine Heuchelei als Kompromiss.

Ipsissimus
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Di 11. Dez 2012, 10:25 - Beitrag #22

Der Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland nach § 218 des Strafgesetzbuches im Allgemeinen rechtswidrig. Es ist jedoch nach § 218a StGB in einer Reihe von Ausnahmefällen Straffreiheit möglich. Diese sind:

1. Die Schwangere verlangt den Abbruch und kann nachweisen, dass sie an einer Schwangerschaftskonfliktberatung teilgenommen hat. Hier ist der Schwangerschaftsabbruch nur innerhalb der ersten zwölf Wochen nach der Befruchtung (d. h. 14 Wochen gerechnet ab dem ersten Tag der letzten Regelblutung) zulässig.
2. Es besteht Grund zu der Annahme, dass die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung oder einer vergleichbaren Sexualstraftat ist (die so genannte kriminogene Indikation). Auch hier ist der Schwangerschaftsabbruch nur innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen zulässig.
3. Es besteht eine Gefahr für das Leben oder die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren, welche nur durch eine Abtreibung abgewendet werden kann (die so genannte medizinische Indikation). Dieser Fall ist nicht an eine zeitliche Frist gebunden.

In jedem Fall darf der Abbruch nur mit Einwilligung der Schwangeren und nur von einem Arzt ausgeführt werden. In den Ausnahmefällen 2 und 3 ist der Abbruch ausdrücklich nicht rechtswidrig. In der Fassung des § 218a StGB vom Juli 1992 war auch im Fall 1 der Abbruch nicht rechtswidrig; dies wurde jedoch 1993 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Das Strafgesetzbuch wurde daraufhin 1995 so geändert, dass in diesem Fall der Abbruch nicht mehr ausdrücklich für „nicht rechtswidrig“ erklärt wird, aber der Tatbestand des Schwangerschaftsabbruches als nicht erfüllt gilt. Damit ist der beratene Abbruch für alle Beteiligten nicht strafbar.
http://www.abtreibung.de/gesetz.htm

Padreic
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Do 13. Dez 2012, 23:12 - Beitrag #23

@Ipsi:
Schon da spiele ich nicht mehr mit. Diese Unterscheidung wird faktisch viel zu oft getroffen; dass aber mensch oder Gesellschaft sie treffen muss, davon kann keine Rede sein. Und da, wo sie getroffen wird - also wo sie Teil der Grundüberzeugungen ist, nicht da, wo sie nur zur Kenntnis genommen wird - vermute ich Bösartigkeit der Motivlage.
Ich schätze, dass dich keineswegs stört, inneren Lebenswert und gesellschaftliche Dienlichkeit zu unterscheiden, sondern dass man gesellschaftliche Dienlichkeit überhaupt als Wert bezeichnet? Um den Vorwurf der Bösartigkeit entgegenzutreten, will ich meine Ansicht dazu etwas auszudifferenzieren, obgleich es ein wenig vom eigentlichen Thema des Threads wegführt. [ich finde es immer wieder interessant, dass du sowohl einer der Personen in meinem Umfeld bist, die am heftigsten gegen überpositive Werte steht, und zugleich wohl die Person in meinem Umfeld bist, die am häufigsten das Wort 'Bösartigkeit' verwendet]

Was ich unter innerem Lebenswert verstehe, hatte ich schon angedeutet - das hat sowohl etwas mit Lebensqualität, aber vor allem mit dem Wunsch zu leben zu tun. Was ich unter äußerem Lebenswert verstehe, war allerdings mit 'gesellschaftlicher Dienlichkeit' nur äußerst grob umschrieben.
Was ist uns das Leben eines anderen Menschen wert? Das dürfte üblicherweise höchst unterschiedlich sein, je nach dem, wie wir zu diesem Menschen sterben [edit: ich meinte stehen]. Das Leben meiner Freundin ist mir wohl mehr wert als das der meisten meiner Bekannten; dieses wiederum mehr als das der meisten Menschen, die ich nicht kenne. Wenn ich Kinder hätte, wäre es hier wohl sogar noch extremer. Ganz gleich, was ich offiziell für philosophische Positionen vertreten mag, schreibe ich verschiedenen Leben einen unterschiedlichen Wert zu. Das kann sich auch ganz konkret darin äußeren, welche Aufwendungen ich bereit bin zu machen, um ein Leben zu retten oder auch nur diesem Leben einige Unannehmlichkeiten zu ersparen.
Das bezog sich jetzt primär auf die Enge einer persönlichen Bindung; aber auch den Wert von Leuten, die wir nicht kennen, beurteilen wir unterschiedlich. Hier können z. B. auch ökonomische Momente hinein kommen, dass man einen Steuerzahler als mehr wert befindet als einen Arbeitslosen, aber natürlich nicht nur. Um einen aktuellen Bezug zu nehmen: Bei der Geschichte mit dem Tod der britischen Krankenschwester vermutlich aufgrund/anlässlich eines Scherzanrufs seine australischer Radiomoderatoren fragte die Radiomoderatorin, als sie vom Tod erfuhr, als erstes "Was she a mother?". Warum ist das relevant? Weil der Tod einer Mutter für sie schlimmer wiegt; indirekt wegen der großen (externen) Werthaftigkeit der Mutter für ihre Kinder.

Das war jetzt eher deskriptiv. Ich sehe es schon so, dass manche Gründe, die Werthaftigkeit eines Menschen zu beurteilen, eher auf der verweflichen Seite sein könnten, das prinzipielle Konzept, unterschiedlichen Menschen auf solche Weise unterschiedlichen Wert zuzuschreiben, keinesfalls verwerflich ist. Wenn jemand im eher hypothetischen Fall mein Leben gegen ein anderes abwägen zu müssen, sich für den anderen entscheiden würde (vielleicht ein sorgender Familienvater), würde ich das durchaus verständlich finden.

Dem Ganzen haftet auf beiden Seiten Willkür "irrationaler" Absichten an, inklusive des Trennstriches, zumindest solange nicht auf Überpositivität zurückgegriffen werden soll. Aber wenn je ein slipery slope-Argument berechtigt war, dann in diesem Fall. Wir fangen bei Babies an und enden bei allen, die wir los werden wollen. Die Gründe werden uns ethische Positivisten schon liefern, wenn - da - wir es bevorzugen, unserer eigenen Bösartigkeit nichts ins Auge zu sehen.
Das slipery-slope-Argument verschiebt den Fokus vom Opfer auf den Täter. Ganz unabhängig davon, was der moralische Status vom Baby sein mag, ist ein Mord an einem Kind ein Akt der Rohe, der letztlich der Verrohung der Gesellschaft Vortrieb leistet. Das setzt auch eine plausible Begründung für die Zäsur der Geburt, weil das Töten eines geborenen Kindes eine größere Rohe voraussetzt als das eines ungeborenen Kindes. Das ist ein ähnlicher Punkt wie ich ihn auch schon gemacht hatte und ich stimme dir da zu.

Welchen Vorwurf könnten wir schon den Nazis machen? Sie sind legitim zur Macht gekommen, sie haben mit legitimen Mitteln die Gesetze durchgebracht, die ihnen später alles erlaubten, sie waren formal auf der sicheren Seite.
Es gibt keine überpositiven Werte. Aber es gibt so etwas wie Grundkonventionen, die historisch erwachsen sind. Als Lenidas "Dies ist Sparta" rief, gehörten Kinderschutz und Verbot von Sklaverei noch nicht zum Konsens. Wollen wir wirklich dahin zurück?
Dass die Nazis legitim zur Macht gekommen sind, will ich mal bestreiten (allein schon Schlägertrupps waren auch während der Weimarer Republik nicht legal), aber das nur nebenbei. Ich habe nie ein Argument dafür gehört, dass Judesein irgendetwas mit dem moralischen Status als Person zu tun haben könnte, das nur ein Hundertstel so plausibel ist wie das vorliegende über Kindstötung und das heißt nicht, dass ich letzteres dafür sehr plausibel finden muss.

Ganz davon abgesehen halte ich es für gefährlich, Moral nur aus Grundkonsensen herzuleiten. Daraus kann man nämlich in so mancher (historischen?) Gesellschaft wirklich den Antisemitismus als moralisch gerechtfertigt begründen. """"Willst du denn zu einem Zustande, wo ein Jude Kanzler von Deutschland werden könnte? """"" kann man genauso fragen wie deine Frage nach den Kinderrechten.
Ich denke, auch ohne explizite überpositive Werte kann man ein wenig mehr über Ethik und Werte sagen als, dass es eben die gesellschaftlichen Konventionen gut sind, und auch du tust es.

@Maglor: Danke für deine genauere Darstellung der Rechtslage. Dass ein Schwangerschaftsabbruch in der Regel [no pun intended] illegal, jedoch straffrei ist, war mir bewusst, nicht allerdings unter welchen Bedingungen er legal ist.

Ipsissimus
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Fr 14. Dez 2012, 15:05 - Beitrag #24

ich finde es immer wieder interessant, dass du sowohl einer der Personen in meinem Umfeld bist, die am heftigsten gegen überpositive Werte steht, und zugleich wohl die Person in meinem Umfeld bist, die am häufigsten das Wort 'Bösartigkeit' verwendet
Gegen überpositive Werte stehe ich, weil alles andere ein sacrificiu intellectu darstellen würde. Das mögen andere anders empfinden, für mich ist es eine Notwendigkeit intellektueller Hygiene, mich gegen dieses Opfer zu verwehren. Zur Feststellung der Bösartigkeit verführt mich die Phänomenologie^^ "Bösartigkeit" ist aus meiner Sicht keine Wert- und Unwert-Festsetzung, sondern eine sachliche Charakterisierung des Faktischen und bedeutet in meinem Jargon dann soviel wie: "Die Selbstzweckhaftigkeit von Menschen wird angetastet."

Die externe Wertzuweisung nehme ich sehr wohl zur Kenntnis; mehr oder weniger alle Menschen unterliegen ihr. Ich abstrahiere aber von mir selbst. Ich bin mein höchster Wert im Leben - genau das gilt aber für alle anderen Menschen. Jeder Mensch ist sein höchster Wert im Leben, sein Zentrum des Universums. Das gilt sogar noch für das Klischee einer Mutter, denn sie kann ihre Kinder nur solange lieben, oder sich für sie opfern, solange sie existiert. Damit ist eine prinzipielle Gleichwertigkeit aller Sichtweisen gegeben.

Selbstverständlich kann die Ungleichwertigkeit aus der gleichen Sichtweise abgeleitet werden: Weil ich mir wichtiger bin als alle anderen Menschen, weise ich diesen Menschen ihren Wert zu. In den vielen Fällen, bei denen das ja tatsächlich der Fall ist, vermute ich allerdings, dass diese Sichtweise davon getragen wird, dass noch nicht wirklich verstanden wurde, dass dieselbe Art von Selbstbezüglichkeit bei allen Menschen gleicherweise vorliegt.

Selbstverständlich sind diese Gedanken macht-relativ zu sehen. Nichts und niemand kann eine Macht daran hindern, den eigenen Absichten gemäß zu verfahren, außer einer gleichwertigen anderen Macht. Wir erweisen uns eben in dem, was wir durchsetzen, das gilt für Individuen und für Gruppen beliebiger Größe gleichermaßen.

e-noon
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Fr 14. Dez 2012, 19:29 - Beitrag #25

Wenn jemand im eher hypothetischen Fall mein Leben gegen ein anderes abwägen zu müssen, sich für den anderen entscheiden würde (vielleicht ein sorgender Familienvater), würde ich das durchaus verständlich finden.

Wenn die Ausgangslage so ist, dass man ein Leben gegen ein anderes abwägen muss, ist das eine völlig andere Ausgangslage. Die wenigsten Menschen argumentieren gegen Abtreibung in den Fällen, in denen das Leben der Mutter bedroht ist.

Wenn man aber gewillt ist, die Würde des Menschen als unantastbar zu betrachten, und das bin ich, dann kann man nicht einfach das Leben eines (jungen) Menschen gegen Bequemlichkeit oder finanzielle Gründe abwägen. Man muss dann, was in dem Artikel ja versucht wird, dem Wesen sein Menschsein absprechen. Man könnte natürlich auch versuchen, den Wortlaut des Grundgesetzes zu ändern, vielleicht in "Die Würde mündiger Personen ist unantastbar", oder in "Die Würde mündiger, gesunder und produktiver Erwachsener ist die unantastbarste, Abstufungen werden im Folgenden ausgeführt". Damit unterhöhlt man sich aber die eigene Grundlage, die ja lautet "Vor dem Gesetz und an sich sind alle Menschen gleich viel wert".

Man kann natürlich persönliche Vorlieben zur Grundlage von Moral machen, aber darüber kann man ja nicht diskutieren. Ethisch intersubjektiv sinnvoll wird es, wie Ipsi sagte, erst, wenn man von den eigenen Bewertungen abstrahiert.

Padreic
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Fr 14. Dez 2012, 20:43 - Beitrag #26

@e-noon: Ziel meines Zweifels an der Gleichwertigkeit aller Menschen war auch gar nicht für eine Kindstötung zu argumentieren; es war eher ein Nebenschauplatz.

Das deutsche Grundgesetz sehe ich nicht als Maßstab moralischer Debatten. Darüberhinaus ist die Aussage "Die Würde des Menschen ist unantastbar." in verschiedenste Richtungen interpretierbar. Insbesondere schon ist bemerkenswert, dass es sich in wörtlicher Interpretation um eine Aussage über etwas Faktisches und um kein moralisches Gebot handelt. Aber das dürfte eher Stoff für einen eigenen Thread sein, da es schon wieder eher ein Nebenschauplatz ist.

Auch kann ich mich fragen, inwieweit denn "Vor dem Gesetz und an sich sind alle Menschen gleich viel wert." wirklich meine eigene Grundlage oder jene der Gesellschaft ist. Faktisch wird ohnehin nur im eingeschränkten Maße danach gehandelt.

e-noon
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Fr 14. Dez 2012, 20:53 - Beitrag #27

Auch kann ich mich fragen, inwieweit denn "Vor dem Gesetz und an sich sind alle Menschen gleich viel wert." wirklich meine eigene Grundlage oder jene der Gesellschaft ist. Faktisch wird ohnehin nur im eingeschränkten Maße danach gehandelt.


Faktisch werden jeden Tag Menschen getötet. Was folgt daraus jetzt für unsere Ethik? Nichts.

Ethik ist ein Anspruch, an sich, an andere. Ob die Gleichheit der Menschen faktisch die eigene Handlungsgrundlage ist, darf bezweifelt werden. Was man aber feststellen kann, ist, dass sich eine gute, für jeden lebenswerte Gesellschaft ermöglichen ließe, wenn jeder bereit wäre, ebenso auf das fremde wie auf das eigene Wohl zu achten, unabhängig von Verwandtschaften und Nutzenerwägungen. Ich misstraue jedem Ansatz, der eine Abstufung im Sinne von "Je ... ein Mensch ist, desto mehr Wert hat sein Leben" beinhaltet. Jedes Leben hat den gleichen immanenten Wert; dieser ist kein überpositiver Wert, sondern sozusagen eine Hilfskonstruktion, um der von allen Seiten drohenden Entwertung menschlichen Lebens entgegenzuwirken.

Aber da ich dir de facto eine respektvolle, mitfühlende und hilfsbereite Einstellung gegenüber anderen Menschen unterstelle, ist es eigentlich müßig, hier dafür zu argumentieren.


Edit: Das deutsche Grundgesetz bietet natürlich nur eine besonders griffige Formulierung für eine Idee, die Grundlage aller modernen Menschenrechtskonventionen ist, siehe beispielsweise

The States Parties to the present Covenant,
Considering that, in accordance with the principles proclaimed in the Charter of the United Nations, recognition of the inherent dignity and of the equal and inalienable rights of all members of the human family is the foundation of freedom, justice and peace in the world,
Recognizing that these rights derive from the inherent dignity of the human person [...] Agree upon the following articles [...]

International Covenant on Civil and Political Rights.

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.

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Sa 5. Jan 2013, 14:09 - Beitrag #28

Zitat von e-noon:Ja und nein. Ein Wertesystem folgt aus Axiomen, aber auch die kommen irgendwoher und sind anthropozentrisch. In der Logik folgen sie beispielsweise aus Plausibilität] Das meinte ich mit "chronologisch-psychologisch" - so kommen Leute de facto zu ihren Axiomen. Aber das hat keinen Einfluss auf die logische Struktur einer Ethik, und somit auch nicht darauf, wie man aus absurden Konsequenzen Axiome eliminieren kann oder eben nicht.

Zitat von e-noon:Was den Satz von Singer angeht: Ich denke doch, dass es da um physische und mentale Begabung ging und eben NICHT um die happiness, die nach dem BUT thematisiert wird.
Ja eben - allen Begabungsargumenten setzen sie im "but" (vorläufig) entgegen, dass die Happiness doch vorhanden sein kann.

Zitat von e-noon:Wer sich öffentlich zu gesellschaftlich relevanten Fragen äußert, darf wohl mit Feedback rechnen.
Aber er darf sich auch über Feedback, das die Äußerung falsch versteht und an irrelevanten Punkten angreift, beschweren. ]Natürlich sind wir alle intellektuell in der Lage, uns diesen Spielereien anzuschließen und sie ganz nach Belieben auf einer rein intellektuellen Ebene zu untermauern oder anzugreifen... aber das Spiel ist für zu viele Menschen eine Frage von Leben oder Tod, als dass mir das Spielen Spaß machen würde.
Das "Spielen" kann aber dazu beitragen, besser zu wissen, wie man verhindert, dass unerwünschte Strategien Realität werden.

Zitat von Allgemeine Erklärung der Menschenrechte:Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.
Diese Variante gibt durch den Nachsatz anscheinend zu, unter "Menschen" nur ausgewachsene und hinreichend geistig befähigte Exemplare zu verstehen, also sogar noch viel eingeschränkter, als es für die Abtreibungsdebatte nötig wäre... ist mir so noch nie aufgefallen. :boah:

Ansonsten ist die faktische Aussageform des Grundgesetzes, auf die Padreic hinwies, wohl nur ein Versuch, zu betonen, wie sehr dies die fundamentalste ethische Forderung ist - dennoch bleibt es nur eine Forderung, der sich in der Realität oft nie absolut nachkommen lässt. Geiselnahmen etc. sind dafür allerdings bessere Beispiele als Abtreibung. Bis auf die seltenen Fälle, in denen das Leben der Mutter bedroht ist, gibt es hier eigentlich keine Abwägung von Leben gegeneinander, und bei Setzung Würde=Leben (oder zumindest Würde->Leben) wäre tatsächlich jede andere Abtreibung grob grundgesetzwidrig. Die konservative juristische Option ist dann halt, "Mensch" einzuschränken, die utilitaristische wäre, Würde als quantitatives Gut anzusehen und abzuwägen. Das ist schwieriger und gefährlicher, kann aber durchaus zu differenzierteren Ergebnissen kommen.

@Maglor: Da wir ja de facto schon längst ein "case law"-Rechtssystem haben, ist die Praxis relevanter als der theoretische Gesetzestext.

@Ipsissimus: Weitgehende Zustimmung zu Padreic. Ein Verweis auf den "Grundkonsens" von dir verwundert mich auch, aber eher im positiven Sinne. Allerdings muss dieser immer wieder neu abgewogen und verhandelt werden, und dazu tragen eben auch provokante philosophische Schriften bei.

Ipsissimus
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Sa 5. Jan 2013, 14:37 - Beitrag #29

Aber er darf sich auch über Feedback, das die Äußerung falsch versteht und an irrelevanten Punkten angreift, beschweren.
Beschweren schon. Allerdings garantiert Autorenschaft nicht, den Gehalt des eigenen Textes in Breite und Tiefe verstanden zu haben, sonst bräuchte man sich über keinen Text zu unterhalten, weil sein gesamter Gehalt ja offen läge.


Im Grunde muss ich dir Recht geben, Traitor, beim Verweis auf die Grundkonventionen bin ich dem Problem eigentlich ausgewichen. Da es keine überpositiven Prinzipien gibt, kann sich Verhalten beliebig bösartig gestalten und sich trotzdem als ethisch wertvoll fühlen, solange es nur eine gedankliche Kette gibt, die das Verhalten auf Grundlage akzeptierter Schlussfolgerungen ableitet.

Es läuft also auf eine Entscheidung hinaus, als was sich ein Mensch erweisen will. Wenn wir auf Wertungen aufgrund ihrer Beliebigkeit im Grunde verzichten müssen, treten Beschreibungen an ihre Stelle. "Ich habe mich als einer erwiesen, der Babies tötet" ist dann eine Beschreibung, mit der ich gegebenenfalls leben müsste. Müsste gegebenenfalls übrigens auch ein Herr Singer, nur darf der glauben, dass seine Logik ihn vor der Beschreibung rettet.

Bösartigkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass die Selbstzweckhaftigkeit von Menschen zugunsten der Zwecke anderer Menschen angetastet wird. Das Töten von Menschen darf wohl als ultimative Antastung von Selbstzweckhaftigkeit gelten. Aber auch das ist keine sichere Basis für ein ethisches Axiomensystem, weil es eben keine überpositive Basis gibt. Wir werden uns also weiterhin gegenseitig töten müssen, wenn wir wollen, dass Bösartikeit ein Ende habe.

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So 6. Jan 2013, 10:30 - Beitrag #30

Diese Variante gibt durch den Nachsatz anscheinend zu, unter "Menschen" nur ausgewachsene und hinreichend geistig befähigte Exemplare zu verstehen, also sogar noch viel eingeschränkter, als es für die Abtreibungsdebatte nötig wäre... ist mir so noch nie aufgefallen. Bild
Es ließe sich auch dahingehend verstehen, daß alles, was ein Mensch ist, auch Verstand und Wissen besitzt, nicht als konstitutive Forderung (nur wenn Wissen/Verstand, dann Mensch), sondern als Festlegung (Mensch, also Verstand/Wissen). Entsprechend wären auch der Verstand und das Wissen eines Neugeborenen oder eines geistig Behinderten als vorhanden zu sehen und würden im Sinne des Menschseins brüderliche Behandlung verlangen (einschließlich Wegnehmen von Spielzeug und gelegentlichem Hauen, wenn keiner hinguckt).

Traitor
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So 6. Jan 2013, 12:12 - Beitrag #31

@Ipsissimus: In Sachen, wer was schreiben darf und worüber sich wer beschweren darf, sind wir dann wohl einig, dass eigentlich jeder alles darf (solange es keine ganz expliziten Tötungsaufforderungen sind), dann aber auch alles einstecken können muss? ;)

Solange die Beschreibungen in sich logisch widerspruchsfrei sind und zu den Fakten passen, kann Logik einen eigentlich nicht vor ihnen retten... aus "ich habe Menschen getötet" könnte man sich durch Umdefinieren von "Menschen" retten, aus "Babys getötet" eigentlich nicht - oder geht Singer irgendwo sogar so weit, Baby als nicht-lebend zu betrachten, und somit das "töten" wegzudefinieren?

Deine Verwendung von "Bösartigkeit" mag ich genausowenig wie Padreic, aber ich verstehe, was du damit meinst, und finde es einen wichtigen Gesichtspunkt.
Der Schritt zum "gegenseitig töten müssen" leuchtet mir nicht ein - ein verdrehtes Märtyrertum, sich selbst der Bösartigkeit zu opfern, um andere davon zu heilen?

@Lykurg: Deine Interpretation ist dem Satzbau nach die naheliegendere, erscheint mir inhaltlich aber zu unglaubwürdig. Gerade kommt mir aber noch der Gedanke, dass "mit Vernunft und Gewissen begabt" nicht heißen soll "haben Vernunft und Gewissen", sondern "haben das Potential zur Entwicklung von Vernunft und Gewissen", auch wenn ich dafür eher "zu Vernunft und Gewissen begabt" erwartet hätte. Womit zumindest das gemeine Neugeborene wieder einbegriffen wäre, nur mit schwer geistig behinderten gibt es noch Probleme.

Ipsissimus
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Mo 7. Jan 2013, 17:28 - Beitrag #32

dieses "gegenseitig töten müssen" stellt nur eine bösartige Vorhersage der Probleme dar, falls es nicht gelingt, sich auf eine gemeinsame, konventionsabhängige Wertebasis zu verständigen.

Nur gibt es eben für alle möglichen Parteien unverhandelbare Werte, die zwar nicht überpositiv sein können, aber nichtsdestotrotz unverhandelbar sind. Ich bezweifele, dass ich - ohne für diese Position die Notwendigkeit einer rein logischen Begründung auch nur zu erwägen - mich jemals damit einverstanden erklären würde, die Tötung von Babies unter bestimmten Umständen gesetzlich zuzulassen (wobei es Ausnahmen in Form wegfallender gerätemedizinischen Unterstützung geben mag, in den gleichen Situationen, in denen das auch für Erwachsene erwogen wird). Ich setze also irgendwo zwischen Zeugung und Geburt, aber genügend weit vor der Geburt, eine absolute Grenze, ohne diese zu begründen.

Derartige Grenzen gibt es auf allen Seiten. Daher ist es illusorisch, für diese Probleme eine andere als machtbasierte Einigung zu erzielen. Mit Logik und Prämissen jedenfalls nicht. Das ist das, was ich anfangs schrieb: letztlich bleibt es nur übrig, die Macht im Staate im Sinne seiner eigenen Überzeugungen zu manipulieren und dann zu schauen, wie weit man kommt. Aus meiner Sicht tun diese Autoren genau das. Und deswegen sind ich und andere im Krieg mit ihnen, selbst wenn der mit höflichen Worten ausgetragen wird.

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