Bildung

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Padreic
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Sa 4. Mai 2013, 06:37 - Beitrag #1

Bildung

Was bedeutet das Wort 'Bildung'? Ist Bildung erstrebenswert und wenn warum? Oder ist Bildung nur bourgeoise Onanie?

janw
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Sa 4. Mai 2013, 10:34 - Beitrag #2

Bildung ist die Voraussetzung, der Macht etwas entgegen setzen zu können.
Bildung in diesem Sinne ist die Gesamtheit aller Bewussseinsinhalte, welche es ermöglichen, die Mechanismen von Macht, insbesondere Vereinnahmung und Steuerung und die eigene Verstrickung zu erkennen.

Traitor
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Sa 4. Mai 2013, 11:11 - Beitrag #3

Jan, das ist ein wichtiger und interessanter Aspekt, aber weder ein umfassender noch definitionstauglicher.

Bildung umfasst Ausschöpfen und Heranbilden des eigenen intellektuellen Potentials, Verständnis von Selbst und Umwelt, Entwicklung von Fähigkeiten, über den Moment hinaus zu denken und zu handeln.

Zu den Fragen 2 und 3 dürfte es einen so breiten Konsens für "ja" und "nein" geben, dass ich lieber erstmal provokative Gegenargumente hören würde, bevor es sich lohnt, das "warum" auszubreiten. Höchstens, dass Bildung immer auch eine gewisse Eingliederung in die Gesellschaft und geistige Gleichschaltung beinhaltet, fiele mir da spontan ein. Aber wenn man einen Thread mit diesen Fragen eröffnet, hat man vermutlich noch mehr auf Lager... ;)

Padreic
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So 5. Mai 2013, 21:24 - Beitrag #4

Wie bei allen 'was bedeutet'-Fragen, kann man sich fragen, was denn diese Frage eigentlich bedeutet. Sicherlich ist nicht jede Antwort darauf gleich gut; man muss sich schon darauf beziehen, wie der Begriff eigentlich üblicherweise verwendet wird. Normalerweise verwirft man dabei manche Verwendungen als Fehl-Verwendungen und versucht ein zugrundeliegendes Konzept herauszuschälen.

Bei Traitor sind die Bezüge zu älteren Verwendungen im deutschen Sprachbereich eindeutig. Man sagt, dass Meister Eckhardt den Begriff in die deutsche Sprache eingeführt hat. Bei ihm hatte es einen eindeutigen Bezug auf den Menschen als Abbild Gottes. Später bei (Erasmus von Rotterdam,) Kant und Humboldt wurde dann der religiöse Bezug ausgemerzt und man sah Bildung als die Ent-Rohung, Vervollkommenung und eigentlich erst recht Mensch-Werdung eines Menschen.
Aber auch bei Erasmus und Humboldt hat der Bildungsbegriff einen doch recht spezifischen Twist, nämlich für wie entscheidend sie das Studium von alten Sprachen gefunden haben. Humboldt sprach zum Beispiel vom Handwerker, der auch vom Algriechischen profitierte. Dass Erasmus ein sehr einflussreiches Manieren-Buch geschrieben hat, ist zudem sicherlich auch kein Zufall.
Später, mit der Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert, ging der Fokus dann von Bildung als der freien Entwicklung der Persönlichkeit immer mehr zu Kultiviertheit und Wissen. Als Illustration: Der einflussreiche Pädagoge Friedrich Paulsen schrieb 1903:
Wenn ich mein Sprachgefühl ganz gewissenhaft erforsche, so finde ich dieses: gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß, und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede ist, mitreden kann. Ein Zeichen von Bildung ist auch der Gebrauch von Fremdwörtern, das heißt der richtige: wer in der Bedeutung oder der Aussprache fehlgreift, der erweckt gegen seine Bildung ein ungünstiges Vorurteil. Dagegen ist die Bildung so gut wie bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann
Ich denke, wie heute der Begriff vielfach verwendet wird, ist nicht viel anders. Man beachte auf jeden Fall die Rede von 'der Gesellschaft' - diese schließt sicherlich nicht alle Bewohner unseres Landes ein.
Wenn man diese Art des Bildungsbegriffs in Übersteigerung sehen will, sei die Lektüre der Einleitung zum zweiten Teil von Schwanitzs 'Bildung' empfohlen (S. 394ff in [url=cheersmate.de/media/bildung.pdf]diesem pdf[/url] ). Man weiß nie so ganz, ob das eine Parodie ist oder ob man Schwanitz das Nasenbein brechen möchte, aber konsequent ist es. Bei ihm ist Bildung zu, zumindest in diesem Abschnitt, ein Spiel der gepflegten Konversation (in der Gesellschaft) und hat mit echtem Verständnis oder Wissen nur noch wenig zu tun. Dass naturwissenschaftliches oder mathematisches Wissen keine Voraussetzung für diese Art von Spiel ist, versteht sich dann von selbst.
Wie ich von diesen Bildungsbegriffen zum Begriff der 'bourgeoisen Onanie' komme, dürfte sich von selbst verstehen. [Mensch, ich weiß nichtmal, wie man 'bourgeois' schreibt!] Einerseits ist es natürlich einfach ein unterhaltsames Spiel, andererseits ist es ein Unterscheidungsmerkmal der "besseren" Gesellschaft von der schlechteren, die eigentlich gar nicht mehr richtig Gesellschaft ist. Wenn man diese Bildungsbegriffe mit denen der Ent-Rohung und Vermenschlichung in seiner Ratio vermischt, kommt es dann dazu, dass man den nicht-Gebildeten, denjenigen, der diese Spiele nicht mitspielt oder nicht mitspielen kann, eigentlich nur noch als halben Menschen ansieht. [Siehe auch S. 482f in Schwanitz in der Geschichte von Sabine und Torsten]

Auch wenn Schwanitzs Bildungsbegriff durch seine Übersteigerung vom Konsens, denke ich, entfernt, hat er einen wahren Kern. Wenn jemand in unserem Kulturkreis aufgewachsen ist und noch nichts über Bach und Beethoven sagen kann, gilt er sicherlich nicht als gebildet. Das ist unabhängig von der Bildungstheorie und einfach ein Fakt dessen, wie der Begriff 'Bildung' üblicherweise gebraucht wird. Auch Traitor sagte neulich in einem anderen Thread, dass es Konsens ist, dass klassische Musik zur Bildung gehört.
Sicherlich ist Wissen über klassische Musik nicht notwendig, um Machtstrukturen zu durchschauen (außer vielleicht in gewissen Bereichen des Kulturbürgertums). Ist es wichtig zum "ausschöpfen und heranbilden des eigenen intellektuellen Potentials, dem Verständnis von Selbst und Umwelt, der Entwicklung von Fähigkeiten, über den Moment hinaus zu denken und zu handeln"?
Zum letzten Punkt trägt Musik sicherlich höchstens sehr indirekt bei. Wenn man klassische Musik in einen dem traitorschen ähnlichen integrieren will, muss man, denke ich, betonen, dass zur vollständigen Persönlichkeit eben nicht nur Intellektualität, Verständnis und Denken gehören, sondern auch Genuss und Fühlen. Wenn man erstmal möglichst neutral halten will: Ein gebildeter Mensch sollte die möglichen Genüsse kennen. Aber so wird der Begriff der Bildung ja nicht verwendet. Weder Vertrautheit mit Drogenkonsum noch mit Boxkampf [oder anderem Kampf; wer wird bestreiten, dass es vielen Leuten Spaß machen kann, anderen die Fresse zu polieren?] wird als Zeichen von Bildung gesehen. Vielleicht ist es die Beteiligung des Intellekts? Aber auch ein Fußballspiel oder einen Boxkampf erfordern eine gewisse Intelligenz, Schach noch mehr, aber sie werden nicht gleich mit Musik zur Bildung gezählt. Wohl weil das Kämpferische und das Berechnende dem verbreiteten Bildungsbegriff fast genauso fremd sind wie die Arbeit der Hände. Was würde üblicherweise mehr zur Bildung gezählt? Kenntnis von Mozarts Sinfonien (oder des goetheschen Oeuvres) oder die Fähigkeit zur Vorhersage von Rohstoffpreisen? Während immer betont wird, wie Bildung die Persönlichkeit bildet und so indirekt auch für praktische Zwecke von Nutzen sein mag, wird die direkte praktischen Anwendbarkeit, besonders zu geschäftemacherischen Zwecken doch eher verachtet.
Und sind wir da nicht wieder bei bourgeoisen Elementen? "Die Kentnisse, die ihr da habt, sind ja bloß vom praktischen Nutzen; wir haben Bildung." Natürlich, im Hintergrund mögen sie auch ihre Geschäfte machen, aber sie müssten ja nicht, sie haben ja Geld oder zumindest Zugriff auf welches.
Selbst beim Durchschauen von Machstrukturen, was ja praktischer scheint, mag ich nach dem realen praktischen Nutzen fragen. Es erinnert mich ein bisschen an Leute, die über die Zustände in Syrien, in Russland, Nordkorea und wo auch immer diskutieren und meinen, dass man sich als politischer Mensch dafür interessieren sollte; gerne auch mit ein wenig moralischem Vorwurf, wenn man das nicht tut. Aber es ist ja nicht so, dass diese Leute irgendwas an diesen Verhältnissen dort ändern würden.

Ich denke, nach diesen Ausführungen mag man verständlicher finden, warum ich frage, ob Bildung erstrebenswert ist und warum ich gewisse Zweifel an diesem Begriff habe. Ich denke, so wie der Begriff häufig gebraucht wird, kann ich keinem einen wirklichen Vorwurf machen, der ihn ablehnt.
Dass ich ihn für mich nicht ablehne, wirft also immer noch die Frage auf: Warum nicht?

Traitor
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Mo 6. Mai 2013, 10:40 - Beitrag #5

Schöne Ausführungen, die aber stellenweise eine meines Erachtens nicht zutreffende Annahme voraussetzen: dass es die eine Bildung gibt. Weder für ihren gesellschaftlichen noch ihren persönlichkeitsinternen Nutzen trifft das zu.

Das "Spiel der gepflegten Konversation in der Gesellschaft" ist ein inhärent irgendwie minderwertiger, aber sehr wichtiger Anwendungsfall für Bildung, definitiv. Aber was "gepflegt" und "die Gesellschaft" sind, ist Wandeln unterworfen, zeitlichen wie kontextuellen, und somit können auch verschiedene Bildungen erforderlich sein. Früher mag es für Angehörige eines gewissen Standes nur eine relevante "Gesellschaft" gegeben haben, womit "Gepflegtheit" und "Bildung" halbwegs klar definiert waren.
Aber wenn man heute alles über klassische Musik, Literatur und Altgriechisch weiß, aber nichts über Sport, Popmusik und Kino, dann kann man auf Parties, die für einen privat oder auch beruflich wichtige "Gesellschaft" sind, auch nicht "mitspielen". Und für viele Vertreter von Schichten, die eigentlich noch dem klassischen Bildungsideal anhängen, sind auch diese "Gesellschaften" relevant.
(Um die historische Perspektive geradezurücken: vermutlich gab es früher ebenso relevante Konversationshemen, vielleicht Mode, Militär oder Reiten, die heute nicht mehr zum Bildungskanon gehören.)

Und was den Selbstverbesserungsnutzen angeht, ist klassische Musik aus den dir genannten Gründen wertvolle Bildung, aber nicht unverzichtbare Bildung. Es gibt andere Bildungsgüter, die einen ähnlichen Effekt auf die Entwicklung von Intellekt und Gefühl haben können. Vielleicht nicht in genau dieser Kombination und nicht genauso gut, aber perfekt bildet sich eh niemand, und sicher ist eine gute Schach+Malerei+Popmusik-Bildung besser als eine schlechte Klassik-Bildung (aber auch umgekehrt).


Nebenbei würde ich Schach übrigens durchaus als anerkanntes Bildungsgut ansehen, eher noch als die anderen analytischen Disziplinen wie Mathematik und Naturwissenschaften. Aber deine Perspektive als jemand, der vermutlich im Gegensatz zu mir schonmal versucht hat, "gepflegte Konversation" über Schach zu betreiben, wird da informierter sein. ;)


Auch mit deiner Interpretation von Bürgerlichkeit/Bourgeoisie und ihrer Rolle für die Bildung bin ich nicht ganz einverstanden:
Später, mit der Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert, ging der Fokus dann von Bildung als der freien Entwicklung der Persönlichkeit immer mehr zu Kultiviertheit und Wissen.
War in der Adelsgesellschaft wirklich die "freie Entwicklung der Persönlichkeit" oberstes Ziel? Vielleicht für eine erlesene Handvoll theoretische Abhandlungen schreibender Humanisten. Aber doch nicht für den Fürsten, der seine Erben erziehen ließ. Neben den direkt machiavellistisch nützlichen Fähigkeiten dürfte es auch da primär um "Kultiviertheit" im Sinne der höflichen Konversationsfähigkeit als Bonus für Diplomatie, Familienrufwahrung und Heiratschancen gegangen sein.
Und sind wir da nicht wieder bei bourgeoisen Elementen? "Die Kentnisse, die ihr da habt, sind ja bloß vom praktischen Nutzen; wir haben Bildung." Natürlich, im Hintergrund mögen sie auch ihre Geschäfte machen, aber sie müssten ja nicht, sie haben ja Geld oder zumindest Zugriff auf welches.
Und da scheint es dir nur um eine recht spezielle Kaste von Großbürgern zu gehen? Der Kleinbürger war klassischerweise gerade die finanziell interessierteste Schicht und auf praktischen Nutzen seiner Bildung angewiesen, sowohl auf das direkt nutzbare wirtschaftlich-technische Wissen als auch auf die Möglichkeit des malheurfreien Verkehrens in höheren Kreisen, die die klassische Bildung erlaubte.
Bei genauerem Nachdenken weiß ich gar nicht, welche Klasse du da eigentlich meinst - zumindest die deutschen "Großbürger" waren ja eigentlich auch meistens erfolgreiche Unternehmer, wenn auch vielleicht nicht mehr in erster Generation. Die englischen "idle rich" passen vielleicht am besten zu so einer Einstellung, aber die waren großenteils niederer Adel, kein Bürgertum. Vielleicht meinst du eher die wirtschaftlich schwache, bildungsstarke, realitätsfremde Bohème als die Bourgeoisie...?

janw
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Mo 6. Mai 2013, 11:31 - Beitrag #6

Vielleicht hat Bildung als Begriff und inhaltliches Gebilde einen Paradigmenwechsel hinter sich.

Bildung ist zunächst ein Resultat eines hinreichenden Maßes erworbenen Weltwissens, das zur Entwicklung einer Meta-Perspektive befähigt.

Der Begriff in seinem neuzeitlichen Begriffsinhalt stammt aus der Zeit des aufstrebenden Bürgertums und war hier Motiv und Mittel der Emanzipation des Bürgertums gegenüber dem Adel.
Die Focussierung auf "die Gesellschaft", zu der Bildung den Zugang ermöglichen sollte, ist hier vielleicht im Hinblick auf die damals vorhandene Schichtung der Gesellschaft in jeweils recht homogene Klassen zu verstehen, die gemeinte "Gesellschaft" war hier in diesem Sinne die bürgerliche Klasse bzw. Schicht.

In diesem Sinne müsste hier eine Aufweitung zu einem offenen Gruppenbegriff erfolgen.

Ipsissimus
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Mo 6. Mai 2013, 13:44 - Beitrag #7

Ich fasse (Allgemein-)Bildung als "Hintergrund" einer "Vordergrund-Hintergrund"-Konzeption von "Weltwissen" auf. Bildung liefert dabei den Teil "allgemeines Weltwissen" und ist umso geeigneter, als Hintergrund zu funktionieren, je dichter sie geknüpft ist, das heißt, je breiter und je tiefer sie thematisch ausgeweitet ist. Als Hintergrund ist sie im wesentlichen "Deutungs-" oder "Interpretationshintergrund", das heißt, sie liefert die Konzepte, anhand derer das Vordergrundwissen (Wissen von transientem Charakter, das sehr schnell und sehr häufig aktualisiert werden muss, um seine Gültigkeit nicht zu verlieren) eingeordnet wird.

In neuerem medialen Sprachgebrauch wird "Bildung" flächendeckend als "Ausbildung" aufgefasst, aus meiner Sicht eindeutig ein Warnsignal und Zeichen zunehmender Verkommenheit.

Traitor
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Mo 6. Mai 2013, 17:33 - Beitrag #8

@Jan: "Weltwissen" würde ich sogar erst als sekundären Aspekt von Bildung sehen, noch grundlegender sind die Denkstrukturen. Beides entwickelt sich aber natürlich nur in Symbiose.

Wäre für die aufstrebenden Bürger "die Gesellschaft", in der sie sich gekonnt konversierend bewegen wollten, nicht eher die nächsthöhere Schicht, also der Adel? Weshalb man sich dessen klassische Bildungsinhalte zu eigen machte und ihn darin einzuholen und gar zu übertreffen versuchte?

"Offener Gruppenbegriff", kannst du das ausführen?

@Ipsissimus: Das mag auf viele Anteile der Bildung zutreffen, aber es gibt auch Felder, die weder so recht Hinter- noch Vordergrund sind, sondern eher abrundendes Beiwerk, etwa die Künste.

Ob Ausbildung statt Bildung auch damit zu tun hat, dass Bildung als gesellschaftliches Aufstiegswerkzeug nicht mehr gebraucht wird, und somit mehr Konzentration auf die praktischen Lernstoffe möglich wird?

Ipsissimus
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Mo 6. Mai 2013, 18:09 - Beitrag #9

Künste gehören aus meiner Sicht eindeutig zum Hintergrund. Vielleicht nicht aus Sicht eines Künstlers, aber aus Sicht eines Rezipienten auf jeden Fall. Wobei ich auch bezweifele, dass die Notwendigkeit zur Aneignung neuer Stile und Techniken für einen Künstler so gehäuft und in solcher Geschwindigkeit auftritt, dass selbst aus seiner Perspektive die Einordnung in den Vordergrund zu rechtfertigen ist.

Wenn die Konzentration auf mehr Lernstoffe möglich wird, also quasi eine Errungenschaft der Gegenwart darstellt, so ist das eine elegante Formulierung der Auffassung, dass Bildung eh schon immer für den Arsch war^^ aus meiner Sicht wird die Konzentration auf die Ausbildungsinhalte nicht ermöglicht, sondern erzwungen, und zwar unter vollständiger vorsätzlicher Ignoranz gegenüber wesentlichen zentralen Aspekten von Bildung.

Padreic
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Mo 6. Mai 2013, 18:35 - Beitrag #10

@Traitor:
War in der Adelsgesellschaft wirklich die "freie Entwicklung der Persönlichkeit" oberstes Ziel? Vielleicht für eine erlesene Handvoll theoretische Abhandlungen schreibender Humanisten. Aber doch nicht für den Fürsten, der seine Erben erziehen ließ. Neben den direkt machiavellistisch nützlichen Fähigkeiten dürfte es auch da primär um "Kultiviertheit" im Sinne der höflichen Konversationsfähigkeit als Bonus für Diplomatie, Familienrufwahrung und Heiratschancen gegangen sein.
Bildung ist sicherlich kein Begriff des Adels. Bildung war geradezu ein Kampfbegriff des deutschen Buergertums gegen die "oberflaechliche Kultiviertheit" des frankophilen Adels. Der Punkt, den ich hier machen wollte, ist vielmehr der folgende: Um 1800 rum war das Buergertum nicht die fuehrende Schicht, es attackierte vielmehr von unten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Buergertum zur fuehrenden Schicht. Das fuehrte geradezu notwendig zu einer gewissen "Entromantisierung" und "Entindividualisierung" des Bildungsbegriffs.

In der Charakterisierung der Schicht, die ich meine, war ich tatsaechlich nicht sehr praezise (in typischer "die Boesen da"-Manier). Natuerlich ging es (und geht es) weiten Teilen des Buergertums auch oder besonders ums Geldverdienen - aber ich denke, in vielen solchen Kreisen war es immer schon schick das ein wenig in den Hintergrund zu stellen. "Natuerlich verdienen wir Geld, aber das ist doch nicht der wesentliche Inhalt unseres Lebens! Eigentlich unterhalten wir uns viel lieber ueber Kunst." -- ob das nun stimmte oder nicht.
Wenn es diese Schicht, die ich meine, ueberhaupt gibt, ist sie heute sicherlich auch viel schwerer zu fassen als frueher. Klassische Mitglieder dieser Schicht sind aber vielleicht weniger Unternehmer als studierte Beamte und aehnliche. Bourgeoise war als Begriff nur der Provokation halber gewaehlt ;).

Edit: Und zum Schach: Ich wuerde dich durchaus als gebildeten Menschen bezeichnen. Aber bist du in der Lage, mindestens drei beruehmte Schachspieler aufzuzaehlen? Eine Schacheroeffnung zu nennen?

Traitor
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Mo 6. Mai 2013, 19:51 - Beitrag #11

@Ipsissimus: Künste können sicher auch wichtige Themen transportieren, und ein gewisses analytisches oder sogar reproduierendes Verständnis ihrer Techniken kann als Hintergrundwissen helfen, diese zu entschlüsseln, insofern würde ich Kunstwissen vielleicht ähnlich zu Sprachfertigkeiten einordnen. Aber als der wichtigere Teil musischer Bildung wird doch klassischerweise die höchstens persönlichkeitsbildende Beschäftigung mit der Kunst an sich angesehen, und inwiefern die als Hintergrundwissen zum Weltverständnis beiträgt, finde ich weniger klar.
dass Bildung eh schon immer für den Arsch war^^
Genau das war der provokante Gedanke, um den ich herumzuformulieren versucht habe. ;) Dass ich nicht hinter dieser Position stehe, muss ich hoffentlich nicht betonen, aber es ist eine bedenkenswerte Perspektive. Sicher gab es (und gibt es noch) offene Geister, die klassische Bildung ihrer selbst wegen anstreben, aber für die Mehrheit dürfte sie stets genauso nur Mittel zum Zweck gewesen sein wie nonklassische Bildung.
Schlimm würde es dementsprechend nicht, wenn von der Mehrheit der Bildungszwang genommen wird, sondern erst, wenn der Minderheit die Bildungsmöglichkeit genommen wird - was aber leider meistens Hand in Hand geht...
Und die Gegenposition (der ich anhänge) wäre, dass Bildung ein objektiv wichtiges Gut, oder zumindest ein gesellschaftlich wünschenswertes, ist, und man die Mehrheit eben doch dazu zwingen sollte, auch, wenn kurzfristig der Verzicht darauf gewinnbringend erscheint.

@Padreic: Jetzt müsste ich mehr über die Biographien von Philosophen und Publizisten wissen, speziell, wieviele Bildungs-Theoretiker der Frühneuzeit dem Adel angehörten...
Im 19. Jahrhundert verlief die Entwicklung dann ja je nach Land sehr unterschiedlich, deshalb müssten wir uns vermutlich erstmal einigen, ob wir uns auf Deutschland konzentrieren oder die allgemeine Entwicklung betrachten wollen. Auch in Deutschland wäre noch zu klären, ob das Bürgertum wirklich schon vor den Weltkriegen zur "führenden Schicht" geworden war.

Beamte gaben meistens die reinsten Bildungsbürger ab, ja. Vielleicht vor allem, weil sie Beruf einerseits und Privatleben / gesellschaftliches Leben andererseits klarer trennen können als Unternehmer.

Zum Schach: Fischer, Kasparow, Karpow...? Oder zählen die letzteren zwei nur als rezente Promis, nicht als historisch berühmt? Zu Eröffnungen weiß ich, dass es eine Handvoll nach Ländern benannte gibt, und ein paar nach Figuren benannte "Gambits". Aber da ich bei keiner davon eine Ahnung habe, welche Spielzüge dahinter stecken, wäre das reines, höchstens Party-taugliches Namedropping. ;)
Ich meinte auch weniger, dass man in semiklassisch gebildetem Umfeld gute Chancen hat, gebildete Gespräche über Schach zu führen, sondern nur, dass man, wenn man vom (eigenen) Schach(-Spielen) erzählt, bessere Chancen hat, bewundert statt ausgegrenzt zu werden, als wenn man von Mathe oder Physik erzählt.
Danke zwar für das Bildungslob, aber nach klassischen Maßstäben würde ich ohne Latein und Griechisch sowie mit großen Lücken in Musik, Kunst und Literatur komplett durchfallen. ;)

Ipsissimus
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Di 7. Mai 2013, 12:58 - Beitrag #12

Bildung ist sicherlich kein Begriff des Adels. Bildung war geradezu ein Kampfbegriff des deutschen Buergertums gegen die "oberflaechliche Kultiviertheit" des frankophilen Adels.
Jein. Die oberflächliche Kultiviertheit des Adels im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert war gewiss bereits eine Verfallserscheinung - die ursprüngliche Auffassung von Kultiviertheit, etwa bei Eschenbach oder Walther, verhält sich dazu ungefähr wie heute Bildung zu Ausbildung. Wobei es sich bei der unterstellten Oberflächlichkeit im Einzelfall wirklich eher um Polemik handeln mochte, aus dem Kampf um Anerkennung sich ergebend.

Aber als der wichtigere Teil musischer Bildung wird doch klassischerweise die höchstens persönlichkeitsbildende Beschäftigung mit der Kunst an sich angesehen
Eben. Und ist damit enthoben vom Zwang permanenter Aktualisierung und gefeit gegen die Gefahr drohender Veralterung. Es ist Rahmenwissen, Grundlagenwissen, und dient als solches wesentlich stärker der konzeptionellen Einordnung "schneller verbrauchten" Wissens, als dass es selbst schnell verbraucht wäre. Natürlich könnte man argumentieren, dass neue Bücher oder Musik permanent nachgeschoben werden. Das ist richtig, aber sie modifizieren zum einen nicht den bestehenden Canon sondern erweitern ihn, und zum anderen, einmal in entsprechender Weise konsumiert, bleiben sie im Canon und helfen, dessen Funktion auf erweiterter Grundlage zu erfüllen. Das heißt, das aus meiner Sicht wesentliche Merkmal des Vordergrundwissens - das schnelle Verfallsdatum - ist bei Kunst nicht erfüllt.

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Mi 8. Mai 2013, 00:34 - Beitrag #13

Ipsi, dann wäre also Bildung eine strukturierte Pinnwand, oder Luhmanns Zettelkasten, an / in dem die veränderlichen vordergründigen Inhalte landen?

Zitat von Traitor:@Jan: "Weltwissen" würde ich sogar erst als sekundären Aspekt von Bildung sehen, noch grundlegender sind die Denkstrukturen. Beides entwickelt sich aber natürlich nur in Symbiose.

In meinen Augen können sich Denkstrukturen nur auf der Grundlage eines jeweils vorhandenen Maßes an Weltwissen entwickeln, dann natürlich die Aneignung weiteren Weltwissens steuern.

Wäre für die aufstrebenden Bürger "die Gesellschaft", in der sie sich gekonnt konversierend bewegen wollten, nicht eher die nächsthöhere Schicht, also der Adel? Weshalb man sich dessen klassische Bildungsinhalte zu eigen machte und ihn darin einzuholen und gar zu übertreffen versuchte?

Das Bürgertum versuchte durch Bildung mit dem Adel in gewisser Weise gleichzuziehen]"Offener Gruppenbegriff", kannst du das ausführen?[/QUOTE]
Ich wollte damit aussagen, daß Bildung heute nicht mehr als schichtspezifische/r Interessenbereich oder Determinante anzusehen ist, sondern entsprechend im Bezug auf die heutige gruppendiverse Gesellschaft diskutiert werden müsste.

Ipsissimus
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Mi 8. Mai 2013, 12:51 - Beitrag #14

dann wäre also Bildung eine strukturierte Pinnwand, oder Luhmanns Zettelkasten, an / in dem die veränderlichen vordergründigen Inhalte landen
Das ergibt sich aus dem "Hintergrund-Vordergrund"-Modell recht zwanglos. Wobei der Punkt der Strukturiertheit wesentlich ist, es gibt meines Erachtens keine unstrukturierte Bildung, weil das dem Aspekt des Deutungshintergrundes entgegen liefe. Deutung verlangt Verständnis (im Sinne eines konzeptuell auf eine komplexere Organisationsstufe gebrachten Verstehens), und Verständnis bedarf des Modells, also der Struktur. Ein "Verstehen an sich" ist m.E. praktisch genau so unmöglich wie die "Dinge an sich" unzugänglich sind.

Damit ist allerdings auch gesagt, dass die Qualität der Bildung nicht nur vom Ausmaß der aufgenommenen Sachverhalte abhängt, sondern auch vom strukturgebenden Modell.

janw
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Do 9. Mai 2013, 12:28 - Beitrag #15

Zitat von Ipsissimus:Damit ist allerdings auch gesagt, dass die Qualität der Bildung nicht nur vom Ausmaß der aufgenommenen Sachverhalte abhängt, sondern auch vom strukturgebenden Modell.

Vielleicht liegt da der Unterschied zur Ausbildung, indem diese mehr auf ein Maß an aufzunehmenden Sachverhalten setzt, die vorwiegend sachgebietsbezogen, also untereinander zu einer Struktur verknüpft sind, aber eher wenig mit entfernteren Sachgebieten.

Ipsissimus
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Do 9. Mai 2013, 13:30 - Beitrag #16

das lässt sich aus meiner Sicht so sagen, ja. Die Inhalte von Ausbildung können Teil von Bildung sein, wofern sie kein isoliertes Eigenleben - etwa unter dem Attribut "wesentlich" - neben den sonstigen Bildungsinhalten führen, sondern integraler Bestandteil des Modells sind. Allerdings möchte ich diese Aussage nicht zu sehr belasten, weil gerade Ausbildungsstoffe sich zunehmend rasch ändern, also hochgradig transient sind. Aber die Grundkonzepte eines Berufs sind sicher geeignet, in den Bildungskanon überzugehen.

Traitor
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Do 9. Mai 2013, 16:15 - Beitrag #17

Ipsissimus, wir reden vermutlich aneinander vorbei, daher erstmal Selbstzitat:
Zitat von Traitor:es gibt auch Felder, die weder so recht Hinter- noch Vordergrund sind, sondern eher abrundendes Beiwerk, etwa die Künste.
Ich meinte nicht, dass Kunstbildung "Vordergrund" ist, sondern weder Vorder- noch Hintergrund, da weder praktisch anwendbar (außer in einigen wenigen Berufen), noch sonderlich viel oder zumindest nicht sonderlich direkt zur einordnenden Interpretation von aktuellen Informationen aus anderen Bereichen beitragend. Das ist sicher überspitzt und habe ich im späteren ja auch eingeschränkt, aber der Punkt bleibt: nicht alle Bildung ist Hinter- oder Vordergrund in deinem Sinne. Manche hat nur schwächere und indirektere Vorteile.

Zitat von Ipsissimus:Verständnis bedarf des Modells, also der Struktur. Ein "Verstehen an sich" ist m.E. praktisch genau so unmöglich wie die "Dinge an sich" unzugänglich sind.
Da sind wir ja doch mal sehr nahe aneinander. ]In meinen Augen können sich Denkstrukturen nur auf der Grundlage eines jeweils vorhandenen Maßes an Weltwissen entwickeln, dann natürlich die Aneignung weiteren Weltwissens steuern.[/QUOTE] Daher ja auch "entwickelt sich nur in Symbiose". Aber die meisten Weltwissensaspekte sind in Hinsicht auf die Ausbildung der Denkstrukturen austauschbar, umgekehrt nicht, daher die einseitige Priorisierung.

Zitat von janw:Ich wollte damit aussagen, daß Bildung heute nicht mehr als schichtspezifische/r Interessenbereich oder Determinante anzusehen ist, sondern entsprechend im Bezug auf die heutige gruppendiverse Gesellschaft diskutiert werden müsste.
Nunja, die Schichteneinteilung hat sich halt geändert - es gibt nicht mehr Schicht A,B,C je nach Geburt oder anderen festen Kriterien, von denen dann A und B gebildet waren und C nicht, sondern es gibt gebildete und ungebildete Schichten, zu denen jedes Individuum nach deutlich komplexeren Kriterien einsortiert wird - wenn auch die Herkunft immer noch erschreckend wichtig dabei ist.

@Beide: Ihr singt gerade ein zu hohes Lob der Nicht-"Aus-"-Bildung. Auch nicht berufsspezifische Bildungsinhalte können isoliert und modellirrelevant sein.

Ipsissimus
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Fr 10. Mai 2013, 10:30 - Beitrag #18

noch sonderlich viel oder zumindest nicht sonderlich direkt zur einordnenden Interpretation von aktuellen Informationen aus anderen Bereichen beitragend
da sind wir wieder verschiedener Ansicht^^ ich glaube schon, dass gerade Kunst sehr viel zum Verständnis anderer Informationen beitragen kann, weil sie dem Deutungshintergrund Elemente hinzufügt, die im Zuge rein sachlichen Verstehens niemals in den Hintergrund gelangen würden. Bezüge lassen sich aus meiner Sicht nicht auf Naturgesetzmäßigkeiten, statistische Zusammenhänge oder andere Schlüsselelemente der hard sciences reduzieren. Ich halte Kunst daher für ein wichtiges Korrektiv, und somit für Hintergrund.


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