Bildung
Verfasst: Sa 4. Mai 2013, 06:37
Was bedeutet das Wort 'Bildung'? Ist Bildung erstrebenswert und wenn warum? Oder ist Bildung nur bourgeoise Onanie?
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Ich denke, wie heute der Begriff vielfach verwendet wird, ist nicht viel anders. Man beachte auf jeden Fall die Rede von 'der Gesellschaft' - diese schließt sicherlich nicht alle Bewohner unseres Landes ein.Wenn ich mein Sprachgefühl ganz gewissenhaft erforsche, so finde ich dieses: gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß, und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede ist, mitreden kann. Ein Zeichen von Bildung ist auch der Gebrauch von Fremdwörtern, das heißt der richtige: wer in der Bedeutung oder der Aussprache fehlgreift, der erweckt gegen seine Bildung ein ungünstiges Vorurteil. Dagegen ist die Bildung so gut wie bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann
War in der Adelsgesellschaft wirklich die "freie Entwicklung der Persönlichkeit" oberstes Ziel? Vielleicht für eine erlesene Handvoll theoretische Abhandlungen schreibender Humanisten. Aber doch nicht für den Fürsten, der seine Erben erziehen ließ. Neben den direkt machiavellistisch nützlichen Fähigkeiten dürfte es auch da primär um "Kultiviertheit" im Sinne der höflichen Konversationsfähigkeit als Bonus für Diplomatie, Familienrufwahrung und Heiratschancen gegangen sein.Später, mit der Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert, ging der Fokus dann von Bildung als der freien Entwicklung der Persönlichkeit immer mehr zu Kultiviertheit und Wissen.
Und da scheint es dir nur um eine recht spezielle Kaste von Großbürgern zu gehen? Der Kleinbürger war klassischerweise gerade die finanziell interessierteste Schicht und auf praktischen Nutzen seiner Bildung angewiesen, sowohl auf das direkt nutzbare wirtschaftlich-technische Wissen als auch auf die Möglichkeit des malheurfreien Verkehrens in höheren Kreisen, die die klassische Bildung erlaubte.Und sind wir da nicht wieder bei bourgeoisen Elementen? "Die Kentnisse, die ihr da habt, sind ja bloß vom praktischen Nutzen; wir haben Bildung." Natürlich, im Hintergrund mögen sie auch ihre Geschäfte machen, aber sie müssten ja nicht, sie haben ja Geld oder zumindest Zugriff auf welches.
Bildung ist sicherlich kein Begriff des Adels. Bildung war geradezu ein Kampfbegriff des deutschen Buergertums gegen die "oberflaechliche Kultiviertheit" des frankophilen Adels. Der Punkt, den ich hier machen wollte, ist vielmehr der folgende: Um 1800 rum war das Buergertum nicht die fuehrende Schicht, es attackierte vielmehr von unten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Buergertum zur fuehrenden Schicht. Das fuehrte geradezu notwendig zu einer gewissen "Entromantisierung" und "Entindividualisierung" des Bildungsbegriffs.War in der Adelsgesellschaft wirklich die "freie Entwicklung der Persönlichkeit" oberstes Ziel? Vielleicht für eine erlesene Handvoll theoretische Abhandlungen schreibender Humanisten. Aber doch nicht für den Fürsten, der seine Erben erziehen ließ. Neben den direkt machiavellistisch nützlichen Fähigkeiten dürfte es auch da primär um "Kultiviertheit" im Sinne der höflichen Konversationsfähigkeit als Bonus für Diplomatie, Familienrufwahrung und Heiratschancen gegangen sein.
Genau das war der provokante Gedanke, um den ich herumzuformulieren versucht habe. Dass ich nicht hinter dieser Position stehe, muss ich hoffentlich nicht betonen, aber es ist eine bedenkenswerte Perspektive. Sicher gab es (und gibt es noch) offene Geister, die klassische Bildung ihrer selbst wegen anstreben, aber für die Mehrheit dürfte sie stets genauso nur Mittel zum Zweck gewesen sein wie nonklassische Bildung.dass Bildung eh schon immer für den Arsch war^^
Jein. Die oberflächliche Kultiviertheit des Adels im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert war gewiss bereits eine Verfallserscheinung - die ursprüngliche Auffassung von Kultiviertheit, etwa bei Eschenbach oder Walther, verhält sich dazu ungefähr wie heute Bildung zu Ausbildung. Wobei es sich bei der unterstellten Oberflächlichkeit im Einzelfall wirklich eher um Polemik handeln mochte, aus dem Kampf um Anerkennung sich ergebend.Bildung ist sicherlich kein Begriff des Adels. Bildung war geradezu ein Kampfbegriff des deutschen Buergertums gegen die "oberflaechliche Kultiviertheit" des frankophilen Adels.
Eben. Und ist damit enthoben vom Zwang permanenter Aktualisierung und gefeit gegen die Gefahr drohender Veralterung. Es ist Rahmenwissen, Grundlagenwissen, und dient als solches wesentlich stärker der konzeptionellen Einordnung "schneller verbrauchten" Wissens, als dass es selbst schnell verbraucht wäre. Natürlich könnte man argumentieren, dass neue Bücher oder Musik permanent nachgeschoben werden. Das ist richtig, aber sie modifizieren zum einen nicht den bestehenden Canon sondern erweitern ihn, und zum anderen, einmal in entsprechender Weise konsumiert, bleiben sie im Canon und helfen, dessen Funktion auf erweiterter Grundlage zu erfüllen. Das heißt, das aus meiner Sicht wesentliche Merkmal des Vordergrundwissens - das schnelle Verfallsdatum - ist bei Kunst nicht erfüllt.Aber als der wichtigere Teil musischer Bildung wird doch klassischerweise die höchstens persönlichkeitsbildende Beschäftigung mit der Kunst an sich angesehen
Zitat von Traitor:@Jan: "Weltwissen" würde ich sogar erst als sekundären Aspekt von Bildung sehen, noch grundlegender sind die Denkstrukturen. Beides entwickelt sich aber natürlich nur in Symbiose.
Wäre für die aufstrebenden Bürger "die Gesellschaft", in der sie sich gekonnt konversierend bewegen wollten, nicht eher die nächsthöhere Schicht, also der Adel? Weshalb man sich dessen klassische Bildungsinhalte zu eigen machte und ihn darin einzuholen und gar zu übertreffen versuchte?
Das ergibt sich aus dem "Hintergrund-Vordergrund"-Modell recht zwanglos. Wobei der Punkt der Strukturiertheit wesentlich ist, es gibt meines Erachtens keine unstrukturierte Bildung, weil das dem Aspekt des Deutungshintergrundes entgegen liefe. Deutung verlangt Verständnis (im Sinne eines konzeptuell auf eine komplexere Organisationsstufe gebrachten Verstehens), und Verständnis bedarf des Modells, also der Struktur. Ein "Verstehen an sich" ist m.E. praktisch genau so unmöglich wie die "Dinge an sich" unzugänglich sind.dann wäre also Bildung eine strukturierte Pinnwand, oder Luhmanns Zettelkasten, an / in dem die veränderlichen vordergründigen Inhalte landen
Zitat von Ipsissimus:Damit ist allerdings auch gesagt, dass die Qualität der Bildung nicht nur vom Ausmaß der aufgenommenen Sachverhalte abhängt, sondern auch vom strukturgebenden Modell.
Ich meinte nicht, dass Kunstbildung "Vordergrund" ist, sondern weder Vorder- noch Hintergrund, da weder praktisch anwendbar (außer in einigen wenigen Berufen), noch sonderlich viel oder zumindest nicht sonderlich direkt zur einordnenden Interpretation von aktuellen Informationen aus anderen Bereichen beitragend. Das ist sicher überspitzt und habe ich im späteren ja auch eingeschränkt, aber der Punkt bleibt: nicht alle Bildung ist Hinter- oder Vordergrund in deinem Sinne. Manche hat nur schwächere und indirektere Vorteile.Zitat von Traitor:es gibt auch Felder, die weder so recht Hinter- noch Vordergrund sind, sondern eher abrundendes Beiwerk, etwa die Künste.
Da sind wir ja doch mal sehr nahe aneinander. ]In meinen Augen können sich Denkstrukturen nur auf der Grundlage eines jeweils vorhandenen Maßes an Weltwissen entwickeln, dann natürlich die Aneignung weiteren Weltwissens steuern.[/QUOTE] Daher ja auch "entwickelt sich nur in Symbiose". Aber die meisten Weltwissensaspekte sind in Hinsicht auf die Ausbildung der Denkstrukturen austauschbar, umgekehrt nicht, daher die einseitige Priorisierung.Zitat von Ipsissimus:Verständnis bedarf des Modells, also der Struktur. Ein "Verstehen an sich" ist m.E. praktisch genau so unmöglich wie die "Dinge an sich" unzugänglich sind.
Nunja, die Schichteneinteilung hat sich halt geändert - es gibt nicht mehr Schicht A,B,C je nach Geburt oder anderen festen Kriterien, von denen dann A und B gebildet waren und C nicht, sondern es gibt gebildete und ungebildete Schichten, zu denen jedes Individuum nach deutlich komplexeren Kriterien einsortiert wird - wenn auch die Herkunft immer noch erschreckend wichtig dabei ist.Zitat von janw:Ich wollte damit aussagen, daß Bildung heute nicht mehr als schichtspezifische/r Interessenbereich oder Determinante anzusehen ist, sondern entsprechend im Bezug auf die heutige gruppendiverse Gesellschaft diskutiert werden müsste.
da sind wir wieder verschiedener Ansicht^^ ich glaube schon, dass gerade Kunst sehr viel zum Verständnis anderer Informationen beitragen kann, weil sie dem Deutungshintergrund Elemente hinzufügt, die im Zuge rein sachlichen Verstehens niemals in den Hintergrund gelangen würden. Bezüge lassen sich aus meiner Sicht nicht auf Naturgesetzmäßigkeiten, statistische Zusammenhänge oder andere Schlüsselelemente der hard sciences reduzieren. Ich halte Kunst daher für ein wichtiges Korrektiv, und somit für Hintergrund.noch sonderlich viel oder zumindest nicht sonderlich direkt zur einordnenden Interpretation von aktuellen Informationen aus anderen Bereichen beitragend