Grausamkeit gegenüber schmerz- und emotionslosen Lebewesen?

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Anaeyon
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Mo 30. Sep 2013, 22:20 - Beitrag #1

Grausamkeit gegenüber schmerz- und emotionslosen Lebewesen?

Ich las gerade auf Reddit einen Thread zu der Frage, ob man "cruel" sein kann gegenüber Lebewesen, die keinen körperlichen Schmerz und keine Emotionen empfinden können. Als Beispiel dienten Schwämme (Porifera).

Einerseits stellt sich da natürlich die Frage, ob die das tatsächlich nicht können. Das dürfte aber eine neurowissenschaftliche Frage sein, über die man hier nur spekulieren könnte. Was mich an der Frage eher interessiert: Nehmen wir uns ein (zur Not fiktives) Lebewesen, auf das diese Annahme tatsächlich nachweislich zutrifft: Definiert sich Grausamkeit durch das vom Opfer oder vom Täter Empfundene? Ist Grausamkeit ein anderes Wort für Sadismus, oder gibt es Unterschiede?

Maglor
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Mo 30. Sep 2013, 23:14 - Beitrag #2

Wenn man eine Katze überfahrt, ist das ein schrecklicher Unfall. Wenn man auf die Katze mit dem Luftgewehr schießt, ist das eine Grausamkeit. Wenn die Katze gestohlen hat, ist es vielleicht die gerechte Strafe.
Grausamkeit ist unangemessene Gewaltausübung. Was angemessen und ungemessen ist, ist gewissermaßen relativ. Die Bewertung beruht in der Regel auf Unterstellungen. (Der kulturelle Einfluss hierbei, auch bei Grausamkeit gegen Menschen, ist zu offensichtlich. Es kann daher zu extrem weit auseinander liegenden Bewertungen kommen.)
Aus meiner eigenen Gefühlswelt empfinde ich insbesondere die Misshandlung von Bäumen (insbesondere Obstbäumen) als unsühnbare Grausamkeit. Ich beziehe mich hierbei nicht nur auf blinden Vandalismus, sondern auch um stümperhafte Fehler beim Schnitt.

Anaeyon
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Mo 30. Sep 2013, 23:27 - Beitrag #3

Zitat von Maglor:Wenn man auf die Katze mit dem Luftgewehr schießt, ist das eine Grausamkeit. Wenn die Katze gestohlen hat, ist es vielleicht die gerechte Strafe.
Grausamkeit ist unangemessene Gewaltausübung.


Also könnte ein und dieselbe physikalische Handlung sowohl grausam als auch nicht grausam sein?

Lykurg
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Di 1. Okt 2013, 00:42 - Beitrag #4

Zitat von Maglor:Wenn die Katze gestohlen hat, ist es vielleicht die gerechte Strafe.
Nach welchem Begriff von Gerechtigkeit? Eine Katze hat üblicherweise kein Verständnis von Eigentum, das mti dem des Menschen kompatibel wäre. Normalerweise wird sie Dinge auch eher verschleppen, verzehren oder beschädigen, als sie zu 'stehlen'. Vielleicht meinst du Wilderei? Mag sein, daß es sinnvoll wird, eine Katze, die etwa ein gefährdetes Vogelschutzrevier systematisch ausräumt, zu erschießen. Das hat dann allerdings nichts mit Gerechtigkeit zu tun, sondern ist ein Akt der Prävention.

Traitor
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Di 1. Okt 2013, 10:44 - Beitrag #5

Grausamkeit ist ein moralischer Begriff, absolute Grausamkeit an sich kann es also nicht geben, nur zugewiesene Grausamkeit. Ich vermute, da sind wir uns als halbwegs homogener Haufen von Moralrelativisten schon vorab einig? ;)

Auf dieser Grundlage würde ich unterscheiden, ob man anhand einer beobachteten Handlung die Handlung an sich als grausam einstuft, oder sie als Indiz für einen grausamen Charakter des Handelnden nimmt.
Für eine "grausame Tat" würde ich ein Leidempfinden des Opfers voraussetzen, allerdings das Urteil komplett unabhängig von Intention und Effekt machen. Eine Tat kann sowohl grausam als auch notwendig, wohlgemeint, hilfreich, gut sein.
Um als Indiz für einen grausamen Charakter zu dienen, kann die Tat auch geringfügig sein, das Opfer kann auch ein unbelebtes Objekt sein. Für diese Bewertung entscheidend sind die (vom Bewertenden wahrgenommene) Intention und Angemessenheit.

Ipsissimus
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Di 1. Okt 2013, 11:48 - Beitrag #6

Natürlich schließe ich mich Traitors Moralrelativismus an^^ aus meiner Sicht bedeutet das aber nur, dass zur Klärung der Frage der moralische Diskurs nichts taugt, sondern die Ebene des persönlichen ethischen Status relevant wird.

Ein Umstand wie Das dürfte aber eine neurowissenschaftliche Frage sein, über die man hier nur spekulieren könnte kann zu zwei grundlegend verschiedenen Haltungen führen, einmal dazu, nach Lust und Laune Schwämme zu zersäbeln ("Die spüren eh nichts") oder dazu, auf der sicheren Seite zu bleiben ("Es ist unklar, also ist es viel zu unsicher, darauf zu spekulieren, dass sie nichts spüren"). Das heißt, wie so oft, dass die Antwort nicht auf eine allgemein gültige oder wenigstens allgemein geteilte Haltung abgeschoben werden kann, sondern dass eine Person sich in ihrer konkreten Antwort als das erweist, als was sie sich erweist, entweder als gleichgültig oder als problembewusst. Interessant dabei ist, dass aus Gleichgültigkeit nicht zwangsläufig Sadismus resultieren muss, dass aus Problembewusstsein aber immer noch Sadismus resultieren kann (nicht muss).


Definiert sich Grausamkeit durch das vom Opfer oder vom Täter Empfundene?
Grausamkeit ist eine mögliche Ursache für sadistisches Verhalten, insofern definiert sie sich als Eigenart der Täterseite. Grausamkeit wird umgangssprachlich auch zur Charakterisierung der Schmerzen auf Opferseite verwandt ("grausame" Schmerzen), aber das ist dann in der Situation fast immer ein Synonym für "unerträgliche/unzumutbare Schmerzen" oder, bei späterer Analyse, für "aus unlauteren Motiven zugefügte Schmerzen". Es fällt mir schwer, für "grausame Schmerzen" auf der Opferseite eine essentielle Charakterisierung zu finden, während sich auf der Täterseite "Grausamkeit" annähernd mit "Zufügung von Leid über ein situativ notwendiges Maß hinaus" ganz gut charakterisieren lässt, jedenfalls in erster Annäherung.

Sadismus träte hinzu, wenn die Zufügung von Leid auch dazu eingesetzt wird, persönliche Lust am Leid anderer zu befriedigen.

Insofern wäre ein staatlich bestellter Folterknecht zwar immer grausam, aber nicht notwendig Sadist; ein Werwolf hingegen wäre immer Sadist.

Maglor
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Di 1. Okt 2013, 21:03 - Beitrag #7

Zitat von Lykurg:Eine Katze hat üblicherweise kein Verständnis von Eigentum, dasmit dem des Menschen kompatibel wäre.

Wenn Katzen nichts von Eigentum verstünden, würden sie auch nichts markieren. :crazy:
Die Problematik wurde übrigens von Friedrich Hebbel ausgiebig thematisiert:

»Ja, das Kätzchen hat gestohlen,
und das Kätzchen wird ertränkt.
Nachbars Peter sollst du holen,
daß er es im Teich versenkt!«

Nachbars Peter hat's vernommen,
ungerufen kommt er schon:
»Ist die Diebin zu bekommen,
gebe ich ihr gern den Lohn!«

»Mutter, nein, er will sie quälen.
Gestern warf er schon nach ihr,
bleibt nichts andres mehr zu wählen,
so ertränk' ich selbst das Tier.«

Wenn Katzen von Lust Tiere töten und ihr Todesspiel mit einem Mäuschen ausüben, ist das ja auch keine Grausamkeit im eigentlich Sinne.
Für eine Katze ist diese Art des Verhaltens durchaus angemessen, für einen Menschen (eher) nicht. Auch gibt es ja kulturelle Unterschiede. Ein Stierkampf wie in Spanien wäre in Deutschland so nicht vorstellbar und auch im Heimatland ist die Tradition nicht mehr konsensfähig.

Lederstrumpf hääte übrigens folgendes gesagt, wenn er mehr als ein Romanfigur wäre: "Von einer Weißhaut wär das eine grausame unmenschliche Handlung gewesen; aber für einen Indianer lag sie in der Natur."
Darum ist ein Werwolf auch nicht grausam. Wenn ein Werwolf einen Menschen, liegt das in seiner Natur. Es ist das angemessene Verhalten eines Wolfes. Wenn das ein Mensch macht, ist das etwas völlig anders, außer natürlich der Mensch kommt vielleicht aus Sierra Leone oder Liberia.

Was Grausamkeiten gegen unbelebte Teile betrifft, dürfte sicherlich auch der Diskurs über Grausamkeit an Gemälden interiesen.
Zitat von Lykurg: Daß mich diese Nachricht traurig machte, ist sicher richtig, dazu kommt aber auch ein massiver Wunsch nach Vergeltung. Ich frage mich, wie man Leute wirkungsvoll davon abhalten kann, Kunstwerke nicht nur zu stehlen, sondern eben auch zu zerstören. Das sollte dann angepaßt auch auf nicht-diebstahlsbedingte Zerstörung von Kulturgütern angewandt werden. Für mein Empfinden ist dies einem mehrfachen Tötungsdelikt gleichberechtigt zu behandeln. - Wie dumm und brutal sind Menschen... Bild

Traitor
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Di 1. Okt 2013, 21:40 - Beitrag #8

@Ipsissimus: "gleichgültig oder als problembewusst" klingt wieder nach absolutem Maßstab - es gäbe eindeutig ein Problem und es ist nur die Frage, ob jemand intelligent und reflektiert genug ist, es zu erkennen. Es mag aber durchaus sein, dass er lange über die Möglichkeit eines Problems nachgedacht hat und mit guten Gründen zur Überzeugung gekommen ist, dass Gleichgültigkeit die angemessene Haltung sei.
Insofern wäre ein staatlich bestellter Folterknecht zwar immer grausam, aber nicht notwendig Sadist
Aber auch nur, wenn man festlegt, dass das "situativ notwendige Maß" für alle Situationen, in die ihn seine Aufgabe bringt, gleich Null ist. Das kann je nach gesellschaftlichem Konsens durchaus anders sein.

@Maglor: Legt man menschliche Charaktermaßstäbe an, sind Katzen ziemlich unzweifelhaft grausam. Die Schuldfähigkeit wurde bisher jedoch nur von ihrerseits unzurechnungsfähigen Gerichten bejaht. ;)
Ein Blick in die einschlägige juristische Literatur zu Werwolfsprozessen wäre sicher spannend, von wann und wo wohl der jüngste Fall stammt?

Anaeyon
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Di 1. Okt 2013, 23:01 - Beitrag #9

@Moralrelativismus: Das muss man doch in der Matrix nicht extra erwähnen ;)
Mir ist nur aufgefallen wie extrem uneindeutig dieses Wort ist und ich frage mich, ob es eine sinnvolle Definition von Grausamkeit geben kann.

Traitor:
Für eine "grausame Tat" würde ich ein Leidempfinden des Opfers voraussetzen

Das würde z.b. bedeuten, dass die willentliche Zerstörung von Kunst nicht grausam sein kann.

Eine Tat kann sowohl grausam als auch notwendig, wohlgemeint, hilfreich, gut sein.

Ist eine Tat grausam und notwendig, definiert sich Grausamkeit nicht durch die unnötige Härte der Tat.
Ist eine Tat wohlgemeint, hilfreich, gut, kann sie es zwar trotz, aber nicht aufgrund der Grausamkeit sein, ausser man lässt wiederum zu, dass Grausamkeit nicht durch unnötige Härte definiert wird.

Um als Indiz für einen grausamen Charakter zu dienen, kann die Tat auch geringfügig sein, das Opfer kann auch ein unbelebtes Objekt sein. Für diese Bewertung entscheidend sind die (vom Bewertenden wahrgenommene) Intention und Angemessenheit.

Nun könnte ich aber die Bücherverbrennung als grausam erachten, ganz gleich von wem und mit welcher Intention sie durchgeführt wird. Hier entscheidet zwar dann meine Bewertung der Angemessenheit, aber es geht doch direkt um die Tat, nicht um den Charakter des Täters.

@Ipsissimus:
Sadismus träte hinzu, wenn die Zufügung von Leid auch dazu eingesetzt wird, persönliche Lust am Leid anderer zu befriedigen.


Ohne länger darüber nachzudenken würde ich behaupten, dass eine grausame, aber nicht sadistische Handlung nur dann möglich ist, wenn man sich über die (objektiv?) unnötige Härte seiner Handlung nicht bewusst ist.
Schlage ich ein Kind, obwohl mir Theorien bekannt sind, die besagen, dass dies schädlich für die Entwicklung des Kindes ist, ich jedoch daran glaube, dass dies notwendig für eine gute Erziehung ist, liegt mir ja mehr daran, die Situation auf meine Art zu lösen, als die objektiv beste Lösung für das Problem zu finden. Sprich, ich wähle wissentlich Gewalt obwohl ich auch den unbequemeren Weg gehen könnte und nach einer weniger Leid erzeugenden Möglichkeit suche. Ich würde da jetzt diese Bequemlichkeit als Sadismus Light empfinden. Widerspricht das der eigentlichen Bedeutung von Sadismus zu sehr? Denn wenn man unnötige Härte wenigstens als einen Kernpunkt von Grausamkeit betrachtet, wenn nicht sogar als Definition davon, dann sehe ich wiederum den Unterschied zwischen Grausamkeit und Sadismus nicht. Edit: Und ja, ich verwende hier "die beste Lösung" wieder sehr "un"-moralrelativistisch, eben aus gesellschaftlichem Kontext betrachtet ;)

Traitor
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Di 1. Okt 2013, 23:29 - Beitrag #10

@Moralrelativismus: Das muss man doch in der Matrix nicht extra erwähnen ;)
Aber jede weitere Erwähnung bestätigt doch aufs Neue, wie ganz toll reflektiert und erleuchtet wir sind. ;)

Das würde z.b. bedeuten, dass die willentliche Zerstörung von Kunst nicht grausam sein kann.
In unscharfer Alltagssprache würde ich sie vielleicht grausam nennen; im Kontext der hier versuchten Begriffsschärfung aber tatsächlich nicht. Treffender wären "barbarisch" oder "roh".

Ist eine Tat grausam und notwendig, definiert sich Grausamkeit nicht durch die unnötige Härte der Tat.
Nicht ausschließlich, ja. Im Vorbeitrag habe ich mich bewusst um eine Definition der "grausamen Tat" gedrückt. Klar sollte aber von vornherein sein, dass der Begriff zu komplex ist, um anhand eines einzigen Kriteriums definiert werden zu können. Erster Versuch: "Eine Tat kann als grausam bezeichnet werden, wenn Alternativen mit geringerem gewichteten Leidpotential zu erkennen sind." Die Genauigkeit nehmende Spezifizierung "gewichtet" ist drin, um z.B. die Abwägung von kurz- gegen langfristigem Leid abzudecken, oder die von individuellen vs. gemeinschaftlichem.
Paradebeispiele für eine Tat, die grausam, aber notwendig und nicht unnötig hart ist, wären für mich harte Rechtsstrafen oder das klassische "man muss ihn zu seinem Glück zwingen".

Ist eine Tat wohlgemeint, hilfreich, gut, kann sie es zwar trotz, aber nicht aufgrund der Grausamkeit sein, ausser man lässt wiederum zu, dass Grausamkeit nicht durch unnötige Härte definiert wird.
"Trotz", ja. Und unnötige Härte ist ein typisches Charakteristikum, aber kein eineindeutiges Definitionskriterium.

Nun könnte ich aber die Bücherverbrennung als grausam erachten, ganz gleich von wem und mit welcher Intention sie durchgeführt wird. Hier entscheidet zwar dann meine Bewertung der Angemessenheit, aber es geht doch direkt um die Tat, nicht um den Charakter des Täters.
Das wäre eben die "Grausamkeit der Tat", s.o., nicht ein "Indiz für einen grausamen Charakter". Die Tat der Bücherverbrennung würde ich analog zum Kunstvandalismus "nur" als roh bezeichnen. Unter gewissen mildernden Umständen (z.B. zwingt ein mächtiger Diktator jemanden, entweder Bücher oder Menschen zu verbrennen (und ist genre-savvy genug, Selbstmord und andere Ausschlüpfe zu verhindern ;))) muss sie auch kein "Indiz für einen grausamen Charakter" sein. In den meisten Umständen wäre sie es aber.
Womit ich auch den "grausamen Charakter" noch nachdefinieren muss: als einen, dem es signifikant eher als einem neutralen Charakter zugetraut wird, grausame Taten (die per voriger Definition Leid leidbefähigter Opfer bewirken) zu begehen. Und da kann dank angenommer Korrelationen eben auch eine rohe Tat gegen unbelebte Opfer ein starkes Indiz für eine Grausamkeitstendenz gegenüber leidbefähigten Opfern sein.

Zum Sadismus: Im engeren Sinne würde ich darunter Lustgewinn aus Leidbeifügung verstehen (im allerengsten rein sexuellen). Auch für einen weiteren Sinn würde ich immer noch mindestens eine Tendenz voraussetzen, bei zwei gleich nützlichen Alternativen die mehr Leid verursachende zu wählen - egal, ob aus Lustgewinn oder abstraktem Highscoredenken. Es als Sadismus zu bezeichnen, lediglich das Leid zu wählen, weil es bequemer ist, finde ich zu begriffsdehnend. Das ist simpler übersteigerter Individualutilitarismus.

Ipsissimus
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Mi 2. Okt 2013, 10:46 - Beitrag #11

gleichgültig oder als problembewusst" klingt wieder nach absolutem Maßstab
Das wäre es bei einer moralischen Betrachtung. Im Rahmen individueller Ethik ist es lediglich eine Statusbeschreibung.

Es mag aber durchaus sein, dass er lange über die Möglichkeit eines Problems nachgedacht hat und mit guten Gründen zur Überzeugung gekommen ist, dass Gleichgültigkeit die angemessene Haltung sei.
in diese Richtung zielen - offenbar zu undeutlich - meine Einlassungen, dass aus Gleichgültigkeit nicht notwendig Sadismus oder Grausamkeit folgt und Problembewusstheit nicht zwingend Sadismus und Grausamkeit unmöglich macht.

... dass das "situativ notwendige Maß" für alle Situationen, in die ihn seine Aufgabe bringt, gleich Null ist. Das kann je nach gesellschaftlichem Konsens durchaus anders sein
müsste da nicht "größer als Null" stehen? Außerdem habe ich ja geschrieben, dass er zwar immer grausam ist, aber nicht zwingend ein Sadist sein muss.

Wobei das mit dem "immer grausam" auch so eine Sache ist, die deutlich differenzierter betrachtet werden muss, als ich es ursprünglich tat. Folter, um einem Gefangenen doch noch die Position einer Atombombe zu entreißen, die ansonsten in einer Stunde in einer unbekannten großen Stadt explodiert, ist als ultima ratio zwar immer noch grausam, aber die Motivlage seitens der Folterer geht nicht notwendig auf Grausamkeit zurück. Verzweiflung kann sich manchmal ähnlich auswirken.

Damit geraten wir wiederum in eine Grenzwert-Debatte, die ich fürchte wie der Teufel das Weihwasser. Aus meiner Sicht darf Folter auch in Grenzsituationen nicht a priori freigegeben werden - Menschen neigen dazu, Grenzen auszuloten und immer weiter auszudehnen. In Situationen wie der angesprochenen könnte ich mir allerdings vorstellen, einem Freispruch des Folterers zuzustimmen, in Abhängigkeit von der Qualität der Situation. Vorstellen heißt nicht, dass ich einen Freispruch aus diesen Gründen als Selbstläufer akzeptieren würde, da muss vorher eine sorgfältige Bewertung und Abwägung her.

Traitor
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Mi 2. Okt 2013, 11:46 - Beitrag #12

Dankende Zustimmung zu den ersten zwei Klarstellungen.

... dass das "situativ notwendige Maß" für alle Situationen, in die ihn seine Aufgabe bringt, gleich Null ist. Das kann je nach gesellschaftlichem Konsens durchaus anders sein
müsste da nicht "größer als Null" stehen? Außerdem habe ich ja geschrieben, dass er zwar immer grausam ist, aber nicht zwingend ein Sadist sein muss.
Nein, "gleich Null". Wenn du als Hauptkriterium für Grausamkeit Überschreiten des "situativ notwendige Maßes" ansetzt, dann kann jemand nur dann "immer grausam" sein, wenn das für ihn geltende "notwendige Maß" immer genau Null ist. Oder zumindest niedriger als das real mögliche Minimalquantum Leid, das er in Ausübung seiner Position zufügen kann.
Deine folgende Differenzierung geht ja auch in diese Richtung, plus Aufwiegen mit hehren Motiven. Damit wären wir nicht nur nahe an sehr unangenehmen Abwägungen, sondern auch am Schuld-Verantwortung-Thema. Gerade für solche Fälle habe ich mir jenes Modell zurechtgelegt.

Ipsissimus
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Mi 2. Okt 2013, 12:58 - Beitrag #13

Wenn du als Hauptkriterium für Grausamkeit Überschreiten des "situativ notwendige Maßes" ansetzt, dann kann jemand nur dann "immer grausam" sein, wenn das für ihn geltende "notwendige Maß" immer genau Null ist.


ich scheine gerade Schwierigkeiten mit der Logik zu haben^^ "immer grausam" wäre jemand auch, wenn die situative Notwendigkeit auf einer 10er-Skala immer zwischen 3 und 5 liegt, er aber immer mit 8 agiert. Wenn er aber gelegentlich mit 8 agiert, gelegentlich mit 3 bis 5 wäre er hinsichtlich seiner Motivation - Grausamkeit als Motiv - nicht immer grausam, auch wenn das, was er tut, als grausam eingestuft werden müsste

kann aber sein, dass ich mich gerade verrenne, wenn ja, bitte ich um Hinweis^^

Traitor
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Mi 2. Okt 2013, 13:13 - Beitrag #14

Nein, stimmt schon - dafür war der Nachsatz mit dem Minimalquantum gedacht, das wäre in deinem ersten Beispiel dann 8.
In der ursprünglichen Antwort ging ich im Gegensatz dazu davon aus, dass der Folterknecht kein Minimalquantum hat, oder zumindest kein sonderlich hohes. Wirklich gleich 0 wäre das Maß nur im Grenzfall, dass er auch beliebig wenig Leid zufügen kann, also z.B. mit einer unendlich fein Richtung "offen" justierbaren Daumenschraube... Als praktischere Formulierung würde ich daraus machen "Er ist nur immer grausam, wenn die Leidgrenze zur Grausamkeitsdefinition unterhalb seines Minimalleidzufügungsauftrags liegt". Und dieser Minimalauftrag kann halt doch auch in der Praxis nahe an Null kommen, wenn z.B. der Folterknecht nicht den Auftrag "folter ihn" bekommt, sondern nur "bekomm Informationen aus ihm heraus, wenn notwendig, dann mit Folter" und in manch einem Fall doch schon ein strenger Blick zur Informationserlangung reicht...
Aber ich gebe zu, wir verrennen uns hier beide in Detaildefinitionen zu einer Nebenfrage.

Maglor
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So 6. Okt 2013, 22:37 - Beitrag #15

Ein Folterknecht muss nicht immer grausam. Der kann auch ein netter Kerl sein.
Ein schönes Beispiel sind die netten Henker aus dem Film "The Green Mile". Die sind gar nicht grausam, weil sie immer lieb den naßen Schwamm benutzen.

Wenn grauenerregend und grausam das gleiche sein sollten, so wäre die Grausamkeit auch eine Frage der Erregbarkeit. Hier kommt natürlich zum Tragen, dass für einen Mitteleuropäer des 21. Jahrhunderts ganz andere Sachen grauenerregend sind, als für hunnischen Heerhaufen der Völkerwanderungszeit.
Wenn man erst abgestumpft ist, ist nichts mehr grausam.

Zwecklich ist vielleicht dieses antiquierteLemma aus dem Jahr 1793.
    Die Grausamkeit, plur. die -en, von dem vorigen Bey- und Nebenworte
    1) Die Eigenschaft einer Sache, nach welcher sie Grauen erwecket. [...]
    2) In engerer Bedeutung, die Neigung, die Fertigkeit, andern mehr Übels zuzufügen, als sie verdienet haben, und in der engsten, die Neigung, die Fertigkeit, an anderer Noth ein Vergnügen zu empfinden, ingleichen, die in dieser Denkungsart gegründete Beschaffenheit einer Handlung.[...]

Hier gibt es also zweierlei Grausamkeiten, zum einen die durch den dritten empfundende Grausamkeit, die schon erwähnte unangemesse Gewaltausübung und die Freude des Täters an dieser.
Demnach kann die Grausamkeit der Delawaren zwar bei den Europäern Grauen erwecken, sie selbst fügen dem Feind aber nur das Übel zu, was dieser verdient, wenn sie ihn skalpieren und martern. So bleibt nur noch die Frage, ob sie daran ein Vergnügen haben und wenn ja, ob sie ein Vergnügen an der Not des Feindes haben oder nur am errungenen Sieg.
Was ist aber, wenn der, der anderen Übles zufügt, sich selbst dabei unbehaglich fühlt. Wenn er die Grausamkeit der eigenen Tat erkennt, kann es selbst ja gar kein grausamer Sadist sein.

Lykurg
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So 6. Okt 2013, 22:56 - Beitrag #16

Ziemlich spannend an der von Maglor zitierten Definition finde ich, daß sie darauf hinweist, daß nicht nur der Täter grausam sein kann, sondern auch ein passiver Beobachter, der am Geschehen Vergnügen empfindet. So gesehen wäre also in Anaeyons Eingangsfrage Grausamkeit nicht unbedingt auf einen Täter zu beziehen, sondern auf ein beobachtendes Subjekt, weniger in Abhängigkeit vom Grad seiner kausalen als vielmehr seiner emotionalen Beteiligung am Geschehen. Demnach sollte eine Handlung, der das Bewußtsein um entstehendes Leid fehlt, frei von Grausamkeit sein.

Ipsissimus
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Mo 7. Okt 2013, 00:08 - Beitrag #17

die Logik hinter der Argumentation sehe ich ein, aber ich frage mich trotzdem, ob entsprechenden Taten eines Sozio- oder Psychopathen wirklich das Charakteristikum der Grausamkeit fehlt, nur weil dem Menschen das Bewusstsein dessen fehlt, was er seinen Opfern antut.

Hinsichtlich der Definition denke ich, dass es da beim ersten Punkt eine Bedeutungsverschiebung oder sogar einen Bedeutungsverlust gegeben hat, denn die Verbindung zwischen Grausamkeit und Grauen wird heute nicht mehr so ohne weiteres hergestellt. Natürlich ist das im Einzelfall immer Frage des individuellen Thresholds. Und der zweite Punkt thematisiert eher das, was heute als Sadismus aufgefasst wird.

Maglor
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Mo 21. Okt 2013, 21:42 - Beitrag #18

Zitat von angeblich A. Hitler:Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Schmerzen muss sie ertragen.
Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen.


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