Interpretationen von Lyrik

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
DarkMousy
Advanced Member
Advanced Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 322
Registriert: 10.08.2003
Di 7. Okt 2003, 16:24 - Beitrag #1

Interpretationen von Lyrik

Huhuuu...,

also, dieser Beitrag soll die Möglichkeit geben, eigene Gedichtinterpretationen zu posten oder mit anderen zusammen neue Interpretationen herzuleiten. Ist ja vielleicht ne nette Idee und ich hoffe, dass was draus wird. Mir fällt jetzt spontan kein Gedicht ein, was ich interpretieren wollte, aber ich beteilige mich gerne an anderen, wenn einer ne Idee für das erste Gedicht hat.

Mousy Dark

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Di 7. Okt 2003, 21:13 - Beitrag #2

Ich will mal den Anfang mit "Sachliche Romanze" von Erich Kästner machen. Zuerst das Gedicht:

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

Ich hoffe, es stört sich niemand daran, dass ich nicht die Formalia, die man in der Schule bezüglich einer Gedichtanalyse lernt, anwende, sondern das Ganze etwas freier mache und mich mehr auf die Interpretation als auf die Analyse konzentriere, auch wenn es auf einer Klausur aufbaut.

Ein paar erste rein auf dem Inhalt aufbauende Deutungen:
Daran, dass das Paar nicht über den Wegfall seiner Liebe sprechen kann, sieht man, dass durch diesen die distanz zwischen den beiden trotz räumlicher Nähe und sogar Küssen sehr groß geworden ist. Deshalb gehen sie auch in das kleinste Café der Stadt, weil sie dort (vergeblich) die Geborgenheit suchen, die ihre Beziehung mit der Liebe verloren hat. Der Eindruck der Distanz vergrößert sich noch dadurch, dass der Mann die Frau nicht trösten kann, als sie weint. Auch setzen sie die leer gewordene Routine des Kaffetrinkens fort, obwohl keine Substanz mehr in der Beziehung ist. Auffällig ist nur, dass die Routine hier doch brüchig wird, indem sie bis Abend im Cafe saßen.
Das scheinbar zusammenhanglos eingebrachte Klavierspiel im Nebenraum könnte man dahingehend deuten, dass diese für die beiden so dramatische Situation "dort draußen" im Leben niemanden kümmert oder das Leben anderer Menschen weitergeht, selbst das derjenigen, die nebenan wohnen. Man könnte den entsprechenden Satz auch noch weiter aufdröseln, indem man eine stärkere Betonung auf das 'üben' legt. Wenn man übt, baut man einen musikalischen Vortrag auf, und das geschieht hier, während die Beziehung des Paares im Niedergang ist, was man als Kontrast zwecks der Betonung des eben Gesagten sehen. Noch tiefer (oder überinterpretierter) gesehen, kann man auch sagen, dass das 'üben' etwas sachliches ist, während das Klavierspiel etwas romantisches ist. Eine Art von Kombination von Sachlichkeit und Romantik ist also an anderen Stellen vielleicht möglich, aber in der Liebe nie.
Interessant ist auch die (wieder scheinbar zusammenhanglose) Erwähnung von Schiffen in Vers 9. Dieses könnten bedeuten, dass das Motiv, dass Schiffe nie lange in einem Hafen bleiben, auf das Paar übertragen wird, womit ausgesagt werden soll, dass es auch für sie Zeit ist, nicht länger in diesem Hafen der Beziehung zu verweilen.

Form:
Das Reimschema ist recht regelmäßig, während die Verslänge und das Metrum variieren. Die ersten drei Strophen haben das Reimschema eines Kreuzreims, während die letzte keinen reinen Kreuzreim hat, da ein Vers, der auf den ersten reimt, eingefügt wurde. Die Beibehaltung des Versmaßes in den ersten drei Strophen könnte man dahingehend deuten, dass die Routine beibehalten wird, die Veränderung in der letzten aber, dass sie hier aufbricht. Den eingefügten Vers kann man in dem dritten der letzten Strophe sehen, der dieses Herausfallen aus der Routine ja kennzeichnet.

Sprachliche Besonderheiten:
Die Sprache ist nicht im herkömmlichen Sinne sehr lyrisch, sondern ist eher an die Prosasprache angenähert, weshalb es nicht allzu viel sprachlich Besonderes gibt (oder ich bin sehr blind ;)). Ein bisschen was kann man aber doch finden:
In Vers 4 findet sich ein Vergleich des Verlorengehens der Liebe mit dem Verlorengehen eines Stocks oder eines Huts. Sowohl Stock als auch Hut sind Sicherungen beim Gehen, der Stock als Stütze, der Hut als Schutz vor dem Wetter. Ähnlich kann man auch die Liebe sehen: Sie stützt und sichert sowohl die Beziehung als auch die beiden Liebenden. Desweiteren sind Stock und Hut (siehe auch "Hänschenklein") Symbole für Aufbruch, was wieder in die Richtung der Beendigung der Beziehung gedeutet werden kann.
Eine weitere Besonderheit ist der Konjunktiv II in Vers 10. Normalerweise gibt man die indirekte Rede ja mit dem Konjunktiv I wieder. Vielleicht soll hiermit die Irrealität dieser Begründung ausgedrückt werden. Wo die Liebe vorbei ist, macht diese Begründung, die auf der Routine basiert, keinen Sinn mehr.

Deutungsmöglichkeiten:
Eine Deutungsmöglichkeit des Textes ist, dass dargestellt wird, dass eine Bezihung ohne Liebe keinen Sinn macht und eine "sachliche Romanze", wie es der Titel nennt, nicht möglich ist und dieser Begriff ein Oxymoron bildet. Die Beziehung ist ohne Stütze, die beiden können sich nicht mehr verstehen, ihre emotionale Distanz ist groß und die ganze Routine ist nur noch Fassade (und selbst die bricht auseinander), womit die Beziehung völlig ohne Substanz ist.
Weitergehend könnte man noch sagen, dass dargestellt werden soll, dass in jeder Beziehung die Stütze der Liebe wegfallen kann und alles vorherige Verstehen dann auch nichts mehr bringt und man die Beziehung, die ohnehin nur noch Fassade ist, dann beenden und weiterziehen soll.

Kritik und besonders Ergänzungen sind sehr erwünscht. Bei diesem Gedicht kann ich übrigens auch sagen, dass es sich mir erst durch Analyse und Interpretation seine Qualität erst erschlossen haben.

Padreic

DarkMousy
Advanced Member
Advanced Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 322
Registriert: 10.08.2003
Di 7. Okt 2003, 22:26 - Beitrag #3

Joa...

Also deine Interpretation ist schlüssig, denke ich. Sie gefällt mir auch gut in ihrer Aufteilung, weil wir das so ja nicht in der Schule machen dürfen, aber ich darin keinen Nachteil sehe. Ich möchte ihr nur ein paar kleine Gedanken hinzufügen:

1. Strophe:
(und man darf sagen, sie kannten sich gut), Vielleicht kannten sie sich ZU gut. Wo sie sich ZU gut kennen, wurde ihre Liebe zu einer langweiligen, öden Farce. Ich meine 8 Jahre sind eine lange Zeit und vielleicht fehlte ihnen nun die Kraft, sich voneinander zu lösen. Sie waren, wie du schon sagtest, in ihre Routine eingebunden.
Das mit dem Hut und dem Stock gefällt mir sehr gut. Schöne Interpretation.

2. Strophe:
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Also bei diesem Vers ist mir ein Schauer den Rücken gelaufen. Durch die Punkte ist die Entgültigkeit der Mauer zwischen diesen beiden Menschen nur allzu deutlich illustriert. Da weinte sie schließlich PUNKT Und er stand dabei PUNKT So trostlos, unbarmherzig. Er weiß nicht mehr, was er ihr sagen soll und sie weiß nicht mehr, wie sie anders als durch Weinen, mit der Situation fertig werden soll.

3. Strophe:
Das Motiv der Schiffe in Verbindung mit Winken kann aber auch Sehnsucht ausdrücken. Man konnte Schiffen winken. Ja, da liegt tiefe Sehnsucht nach etwas Neuem oder dem von dir genannten Aufbruch drin.
Hm, meinst du Kästner hat in dieser Strophe extra 'Mensch' geschrieben, als er den Klavierspieler beschrieb? Der Mensch ist voller Leidenschaft in seinem Übungsvorgang. Deiner Interpretation diesbezüglich ist nichts hinzuzufügen.
Aber, vielleicht sieht er die beiden ehmaligen Geliebten in ihrer jetzigen Existenz eher als Marionetten ihres gespielten Alltags, der geheuchelten Routine.

4. Strophe:
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
Sie schweigen sich an und stehen durch die Stille im Kontrast zu dem enthusiastischen Klavierspieler. (Ich nenne ihn einfach mal enthusiastisch, weil sich bei mir beim Lesen auch so eine Art Sehnsucht nach mehr eingestellt hat). Sie schweigen und können 'es' nicht fassen. Sie können sich nicht mehr fassen. Sie sind einander so bekannt und so fremd, wie es nur sein kann.

Das sind meine bescheidenen Nachträge.

Supi Interpretation, Padreic!

Mousy Dark

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Mi 8. Okt 2003, 14:37 - Beitrag #4

@DarkMousy
Danke für dein Lob :).

Ich finde deine Nachträge alles andere als bescheiden. Das Wort 'Mensch' hatte ich bisher z. B. in dem Klavierspielervers noch gar nicht recht wahrgenommen. Das verstärkt natürlich noch den Kontrast zu den "sachlichen" Beiden. Und darüber hinaus lässt du das Gedicht noch viel mehr aus der Sicht des Lyrikliebenden erscheinen. Die beiden Kurzsätze in Vers 8 waren mir auch gar nicht als Stilmittel aufgefallen.

Ich muss sagen, dass mich das Gedicht an gewisse Äußerungen des Charakters Grand aus die Pest (von Camus) erinnern. Ich zitiere sie mal:
"Es geht allen Leuten gleich: man heiratet, man liebt noch ein wenig, man arbeitet. Man arbeitet so viel, dass man das Lieben darüber vergisst. Jeanne arbeitete ebenfalls, da die Versprechen des Vorgesetzten nicht gehalten worden waren. Hier musste man die Phantasie ein bisschen zu Hilfe nehmen, um zu verstehen, was Grand sagen wollte. Unter der Einwirkung der Müdigkeit hatte er sich gehen lassen, sich mehr und mehr ausgeschwiegen und seine junge Frau nicht in ihrem Glauben bestärkt, dass sie geliebt werde. ein Mann, der arbeitet, die Abende am Familientisch - in solche einer Welt war kein Platz für die Leidenschaft. Wahrscheinlich hatte Jeanne gelitten. Dennoch war sie geblieben: es kommt vor, dass man lange leidet, ohne es zu wissen. Jahre waren verflossen. Später war sie fortgegangen. Natürlich nicht allein. 'Ich habe dich sehr geliebt, aber nun bin ich müde... Es macht mich nicht glücklich, fortzugehen, aber man braucht ja nicht glücklich zu sein, um neu anzufangen." So ungefähr hatte sie ihm geschrieben.
Joseph Grand hatte seinersetis gelitten. Er hätte neue anfangen können, wie Rieux es ihm riet. Aber er hatte nun einmal kein Vertrauen.
Ganz einfach, weil er immer noch an sie dachte. Er hätte ihr einen Brief schreiben wollen, um sich zu rechtfertigen. 'Aber das ist schwer', sagte er. 'ich trage mich schon lange mit dem Gedanken. Solange wir uns liebhatten, verstanden wir uns ohne Worte. Aber man hat sich nicht ewig lieb. Der Augenblick kam, da ich das Wort hätte finden sollen, das sie zurückgehalten hätte. Aber ich habe es nicht vermocht.' Grand schneuzte sich in ein kariertes Tuch. Dann wischte er sich den Schnurrbart ab."

Padreic

DarkMousy
Advanced Member
Advanced Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 322
Registriert: 10.08.2003
Mi 15. Okt 2003, 20:08 - Beitrag #5

Hm... zu dem Gedicht will scheinbar keiner mehr...

... was sagen und mir fällt auch nichts mehr dazu ein...

Sollen wir ein neues nehmen? Ich wäre für Georg Trakl 'Verfall'.

Ich liebe das Gedicht.

Am Abend, wenn die Glocken frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

Määäh... das ist soooo schön... und ich hab meine Interpretation davon nicht mehr.
Egal, mach ich eben ne neue:

Interpretation:
Das Gedicht 'Verfall' von Georg Trakl handelt von der Wandlung des Lebens zum Tode. Es ist in Sonett-Form verfasst. Die ersten beiden Strophen mit je vier Versen sind positiver als die letzten beiden dreiversigen Strophen.
Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung eines friedvollen Abends aus der Sicht eines Lyrischen Ichs. Er beobachtet die Vögel bei ihrem Abflug in den Süden. Der Anblick verbunden mit dem Läuten der Glocken erscheint ihm wundervoll. Er sieht ihnen nach und schon hier entschwindet etwas von dem Leben. Die Glocken sind Zeichen für Friede, können aber auch den Tod einleiten. Diese hier läuten den Frieden ein, aber Friede findet sich auch im Tod. In der ersten Strophe dominieren die positiven Adjektive: 'wundervoll', 'fromm' und 'herbstlich klar'. Durch letzteres wird dem Leser bewusst, in welcher Zeit genau, sich das Lyrische Ich befindet: Es ist Herbst. Die Pilgerzüge stehen ebenso für ein kirchliches Motiv, genau wie die Glocken. Man kann sich die Vögel als eine Art Todesprozession vorstellen, wenn man das ganze Gedicht gelesen hat. In der ersten Strophe jedoch ist alles durchgängig positiv und nur die, die dieses Gedicht überinterpretiert haben (so wie ich), denken nun schon an all das negative.^^
In der zweiten Strophe gibt es ein Adjektiv-Gegensatzpaar: 'dämmervoll' und 'helleren'. Das Lyrische Ich ist jetzt in einem dunkleren Garten und träumt nur noch von den Vögeln, die ihm Hoffnung gaben und seine positive Welt bildeten. Er ist so versunken, dass er 'der Stunden Weiser' kaum mehr spürt - er bemerkt nicht, wie die Zeit vergeht/abläuft. Die Wolken aus Vers 8 stehen für Leichtigkeit und stehen der Schwere der Zeit gegenüber. Ein Weiser, der nicht mehr rückt, bedeutet Starre und Starre ist etwas negatives. Das Lyrische Ich wandelt nun träumend durch seinen dunklen Garten und (ich komme zu Strophe 3).
In Strophe 3 deckt sich der 'Hauch von Verfall' nicht mit sich selber, da 'Hauch' etwas sanftes, leichtes bedeutet und 'Verfall' etwas entgültiges, vielleicht sogar schmerzhaftes ist. Das Lyrische Ich wird erzittern gemacht. Es ist passiv und kann sich nicht wehren. Der Punkt am Ende des 7. Verses macht dieses auch deutlich. Ebenso im 8. Vers, wo die Amsel, der Vogel des Todes, in entlaubten, also toten, Zweigen klagt. 'Klagen' ist ebenfalls ein Ausdruck von Schmerz. Die Natur klagt über ihren Tod. Auch hier ist dieser Vers durch einen Punkt besiegelt. In Vers 9 allerdings taucht ein positiver Begriff auf 'roter Wein', aber dieser schwankt an rostigen Gittern, wie lebendige Pflanze an totem Metall. Nimmt man 'rot' alleine, kann es Blut bedeuten und wieder Leid und negatives.
In der vierten Strophe wird wieder etwas menschenähnliches als Vergleich herangezogen. Die Astern, die sich im Wind neigen, sehen aus wie blasse Kinder in einem Todesreigen, also praktisch Geister in der Gesatlt von Kindern. Dann ist die Rede vom Wind, der sicherlich schön durch die frostig-blauen Blumen pfeift. Der Brunnen mit seinen verwitterten Rändern bildet den Abschluss. Er ist die letzte Station, er ist der Tod.
Der Verfall vollzieht sich vom Himmel mit den Vögeln, bis in den Brunnen an den blassen Astern vorbei. Mit jedem Vers nimmt etwas von dem Leben, was in der ersten Strophe von dannen fliegt, ab, bis irgendwann gar nichts mehr da ist.
Nur der Wind und die Astern, die einem Totentanz gleich, den Brunnen umschlingen, sind stumme Zeugen des Verfalls des Lebens, der im Tod endete.

Mousy Dark

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Mo 20. Okt 2003, 23:11 - Beitrag #6

Deine Interpretation fängt sehr schön die Eindrücke des Gedichtes ein und beschreibt wie sie zustande kommen und zu deuten sind. Vielleicht kann man aber noch zu einer etwas weitergehenderen Gesamtdeutung kommen.

Auf der direkten Ebene beschreibt das Gedicht den Übergang vom Sommer zum Winter im Herbst. Vielleicht kann man es aber vielmehr auch auf den Verfall im Allgemeinen übertragen. Das Gedicht beginnt mit Ruhe und Frieden. Kann man das nicht schon als die Vorstufe zum Verfall sehen, wenn niemand Taten wirkt, um stetigen Wandel zu erzielen? Denn etwas wandelt sich von ganz alleine, doch wenn man nichts tut, ist es nicht der Wandel, den man haben will, sondern vielmehr eine Zersetzung, die Vorstufe zum Verfall. Und das lyrische Ich (hast du auch das Gefühl, dass es ein männliches lyrisches Ich ist? Aber es wäre wohl etwas zu weit gegangen, einfach zu schreiben 'der Mann') tut auch nichts, sondern trauert bloß dem Gegangenen nach. Er interessiert sich gar nicht mehr recht für seine eigene Welt, macht nicht das beste aus dem, wie es ist, sondern denkt nur an das Verlorene. Vielleicht könnte man es auch im Bezug zu jemanden setzen, der beispielsweise sein Bein verloren hat, nur dem Bein nachtrauert, nicht mehr an sein wirkliches, jetziges Leben denkt und bei dem so auch alles den Bach runter geht, ohne dass er es wirklich merkt. Genauso ist es auch hier beim lyrischen Ich, dass auch nicht merkt, was passiert, bevor es zu spät ist. Erst als der Verfall da ist, bemerkt er ihn. Auf diese Schnelligkeit deutet auch das 'indes' hin. Man könnte das Gedicht also als Aufforderung sehen, sich um das Hier und Jetzt zu kümmern statt Wunschträumen um Vergangenes nachzuhängen.

Padreic

DarkMousy
Advanced Member
Advanced Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 322
Registriert: 10.08.2003
Di 21. Okt 2003, 20:56 - Beitrag #7

Hm... hm...

*mal kritisch den Beitrag les*

Hm, also das mit dem verlorenen Bein musst du mir noch mal erklären, fürchte ich, aber dass die Starre die Vorstufe des Verfalls ist, stimmt.
Ich sehe in dem Gedicht nicht mehr den Sommer. Er ist bereits hinter dem Empfinden des Lyrischen Ichs. Am Anfang des Gedichtes fliegen die Vögel (die auch im Herbst noch typisch sind) davon, was auf Winter deuten will.
Der Verfall im allgemeinen, als Verfall von Leben? - Das würde bedeuten, dass meine Interpretation darauf aufgebaut hat. Hm, aber du hast recht, es gibt noch andere Verfallsmomente, nur - öhm, da muss man aber schon weit interpretieren. Mir, einem wahren Fan dieses Gedichtes, fällt es weniger schwer, aber andere Leser dürften mit der Ansicht überfordert werden.
Am stichhaltigsten ist es wohl die Kombination aus 'Verlust von Bewegung und Verlust von Höhe' über den 'Verlust von Zeitgefühl und den Verlust von Träumen' zu 'Gewinnung von räumlicher Tiefe und Gewinnung von negativen Aspekten' schon eine Art Tod darstellt, den viele nachvollziehen können.
Hm, also für mich ist das Lyrische Ich auch ein Mann. Vielleicht liegts daran, dass ich einer bin... Mich würde mal interessieren, ob Frauen in dem Lyrischen Ich eine männliche oder weibliche Person sehen.
Ich glaube nicht, dass der Mensch an das Verlorene denkt, weil er das Hier und Jetzt vergessen hat. Ich glaube er klammert sich an seine Träume als letzten Strohalm vor dem unausweichlichen Ende, welches er nicht mehr abwenden kann, selbst wenn er wollte. Die Konsequenz des Gedichtes ist so natürlich wie der Wechsel der Jahreszeiten und so natürlich wie der Tod.
Ich finde, dass unatürliche Einflüsse, wie der Verlust eines Beines, bei dem Vergleich mit dem Gedicht eher haken.
Bei dem Lyrischen Ich geht ja nichts aus eigenem verschulden den Bach runter, sondern folgt seiner Natur.
Ich glaube auch, dass sich das Lyrische Ich über den nahenden Verfall ... na ja... nicht wirklich bewusst ist, aber zumindest, dass es ihn als unausweichlich sieht... vielleicht ist er dem Lyrischen Ich sogar bewusst... wer weiß, aber dann stände es da nicht so 'Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern'. In dem Vers wird das Lyrische Ich zum ersten Mal passiv. Davor ist es aktiv... hm, also ich denke, er hat eine böse Vorahnung...

Mousy Dark

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Mi 22. Okt 2003, 19:42 - Beitrag #8

Du hast wahrscheinlich recht, dass mein Interpretation etwas weit geht und wohl auch nicht wirklich passt. Das mit dem Bein habe ich so gemeint, dass man die Situation, in der sich das lyrische Ich befindet, dass es in Gedanken bei den Vögeln bleibt und nicht aus dem Hier und Jetzt das beste machen will, mit der eines Mannes, der sein Bein verliert und immer nur daran denkt, was er mit dem Bein alles hätte machen können, anstatt zu tun, was er ohne Bein tun kann. Der Mann müsste den Winter ja auch als nichts schlechtes ansehen. Der Weg der Blumen muss nicht zwangsläufig mit so negativen Assoziationen belegt werden, man kann es auch vielmehr als Schlaf vor der neuen Blüte sehen. Die positiven Konnotationen fehlen in den letzten beiden Strophen aber fast völlig.

Padreic

DarkMousy
Advanced Member
Advanced Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 322
Registriert: 10.08.2003
Fr 31. Okt 2003, 17:59 - Beitrag #9

Oki...

... also ich bin mit der Interpretation so zufrieden. Das können wir so stehen lassen, denke ich.

Machst du das nächste Gedicht oder ich, Padreic? Oder irgendwer anders? Vielleicht liest ja wer den Thread außer Padreic und mir...

*mal hoff*

Mousy Dark

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
So 2. Nov 2003, 22:04 - Beitrag #10

Da außer uns hier wohl niemand ist, muss ich wohl weitermachen...
Diesmal ist es ein modernes Gedicht von Hans Magnus Enzensberger:

Call it love

Jetzt summen in den nackten Häusern die Körbe
auf und nieder
lodern die Lampen
betäuben
schlägt der April durchs gläserne Laub
springen den Frauen die Pelze im Park auf
ja über den Dächern preisen die Diebe den Abend
als hätte die Taube aus weißem Batist
als hätte unvermutet und weiß und schimmernd
die Verschollene hinter den Bergen, den Formeln,
die Ausgewiesne auf den verwitterten Sternen,
ohne Gedächtnis verbannt
ohne Pass ohne Schuhe
sich niedergleassen auf ihre bittern
todmüden Jager
Schön ist der Abend

[Ich hab's irgendwie nicht so recht geschafft, die Formatierungen rüberzubringen. Die Verse 3 und 4 beginnen nicht am Anfang der Zeile, sondern da, wo der jeweils vorherige Vers endet. Ebenso ist das mit Vers 13 und 16 im Verhältnis zum jeweils vorherigen Vers.]

Ich muss erstmal sagen, dass ich das Gedicht nicht verstanden habe ;). Ich kann mich deshalb nur im Wagen bewegen, aber vielleicht kommen wir zusammen auf etwas konkreteres.

Der erste Eindruck, der gerade bei modernen Gedichten ja meist sehr wichtig ist, ist, dass hier ein schöner Frühlingsabend gepriesen wird. Die Verse, wo dies am deutlichsten wird, sind (außer dem letzten) wohl die Verse 5-7. Das 'gläsern' ist eher ein negatives Adjektiv und gegen das 'gläsern' schlägt der April, also der Frühling durch. Der nachfolgende Vers bedeutet (zumindest für Männer ;)) auch recht eindeutig etwas positives. Vers 7 kann man vielleicht in so manche Richtung interpretieren, aber ich finde am naheliegensten, ihn so zu sehen, dass selbst ein Verdorbener, wie ein Dieb, diese Schönheit sieht und in einem lichten Augenblick sie preist, dazu noch auf den Dächern, was eine besondere Freiheit ausdrückt.
Die Verse 8-15 sind auch nicht leicht zu interpretieren. Die Taube ist sicherlich ein Symbol des Friedens, besonders mit dem 'weiß' zusammen. Wenn eine Verschollene, die 'hinter den Bergen, 'ohne Gedächtnis verbannt', 'ohne Pass und ohne Schuhe' auch irgendwie friedlos wirkt, sich auf ihren Jägern niederlässt, hat das auch etwas mit Frieden zu tun, besonders, wenn sie schon bitter und todmüde sind.
Wie ich die ersten vier Verse deuten soll, weiß ich eigentlich so gar nicht. Dort herrschen ja ganz klar die negativen Symbole vor. Vielleicht ist der Gegensatz von Haus und Natur gemeint, dass der Frühling nur draußen schön und friedvoll ist?

Mit Hoffnung auf deine Erweiterungen,
Padreic

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
So 2. Nov 2003, 22:42 - Beitrag #11

Jetzt summen in den nackten Häusern die Körbe
auf und nieder

Das scheint mir eindeutig ein kleine perverse Anspielung.

lodern die Lampen
betäuben

Sexuelle Extase

schlägt der April durchs gläserne Laub

Der April als bekannte Paarungszeit, das schlagen als irgendwie gewaltsame Fruchtbarbarkeit, gläsern = druchsichtig und zerbrechlich, vielleicht nackt. eventuell geht es ja um ein Verhüterli

springen den Frauen die Pelze im Park auf

Nein, hier will keiner wissen, welcher Pelz gemeint sein könnte.

ja über den Dächern preisen die Diebe den Abend

Der Dieb der Unschuld hat sein Werk vollbracht.

als hätte die Taube aus weißem Batist
als hätte unvermutet und weiß und schimmernd

Weiße Taube scheint mir hier wohl eine seltsame beschreibung für flugfähiges Sperma.

die Verschollene hinter den Bergen, den Formeln,
die Ausgewiesne auf den verwitterten Sternen,
ohne Gedächtnis verbannt

jetzt is es wohl draußen.

ohne Pass ohne Schuhe

Es konnte wohl Paris nicht verlassen.

sich niedergleassen auf ihre bittern
todmüden Jager

Naja da hängt es wohl noch imer am Männchen.

Schön ist der Abend

Kein Kommentar (müßte ja im Kontext klar werden)

MfG Maglor

DarkMousy
Advanced Member
Advanced Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 322
Registriert: 10.08.2003
Mo 3. Nov 2003, 19:03 - Beitrag #12

Oh-ha, oh-ha, oh-ha...

... ein ganz schöner Brocken...

Warum ist die Überschrift in Englisch? - Weil sich das Gedicht der Moderne als ein solches durch eine moderne englische Überschrift auszeichnen möchte, starte ich einfach mal. Das ist mir als erstes aufgefallen. 'Love' ist ein schönes Wort, aber... hm... hm... bei mir kommt nicht wirklich Liebe auf, wenn ich das Gedicht lese. Es muss schon eine sehr spezielle, egozentrische Liebe sein, wobei 'egozentrisch' hier nicht für 'ich-bezogen' steht, sondern für 'seltsam andersartig', zumindest nicht ganz nachvollziehbar. Der erste Eindruck zu dem Gedicht: Eine Heimkehr zu etwas lange Verlorengeglaubten. Es ist politisch. Die Ausgewiesene ist vom Krieg vertrieben worden und findet nun heim in ein zerüttetes und vom Krieg müdes Land. Das ist weit hergeholt, geb ich zu, aber es ist der erste Eindruck.
Machen wir es mal versweise, denn ich habe echt keinen blassen Schimmer: Jetzt summen in den nackten Häusern die Körbe... Summen = ein vibrierendes, gleichmäßiges Geräusch
nackte Häuser = vielleicht menschliche Körper
Körbe = Gefäße aus Weidengeflecht
Hm... schwierig... die Körbe irritieren, sonst wäre es einfach. Wenn die Körbe nun aber einfach menschliche Beckenknochen darstellen, als Körbe der Geschlechtsteile, geht es wieder. 'Auf und nieder' erklärt sich dann von selber. :D 'Lodern die Lampen' wie Feuer (wegen dem Lodern) und wie lodernde Liebe. Die beiden Parteien lieben sich, was auf die Überschrift verweisen lassen kann. 'Betäuben'... sie sind wie betäubt... frag nicht warum, keine Ahnung, aber soll ja schonmal vorkommen, dass Verliebte wie von Sinnen sind. Oder ist da ein Rechtschreibfehler und es muss 'betäubenD' heißen?
Das mit dem April ist nun schon wieder einfacher. Gläsern ist das Laub, weil es noch nicht satt grün ist, es ist jungfräulich und frühlingshaft. Der April beschreibt die Paarungszeit, wo dem jungfräulichen Grün die Unschuld ausgetrieben wird. Das Wetter wird wärmer und die Frauen zeigen mehr von ihren Reizen, was die Paarungszeit unterstützt. Und das mit den Unschuldsdieben, Maglor, gefällt mir ausgesprochen gut (erinnert mich sehr an mich^^). Was bitteschön ist Batist??? Also Taube ist eindeutig ein Symbol für Frieden, aber das weiß steht ebenfalls für Unschuld... aber die finde ich in dem Gedicht nicht wirklich. Fliegendes Sperma??? - Also wirklich, nette Vorstellung! :D Da passt unvermutet, weiß und schimmernd schon besser, vorallem unvermutet. Weiß und schimmernd ist aber auch der Schnee auf dem Berg über den die Frau kommt. Ich weiß ein paar Worte nicht zuzuordnen: 'den Formeln' zum Beispiel... keine Ahnung. Für mich ist es aber in jedem Fall eine Wiederkehr, die im positiven endet. Allgemein macht das Gedicht keinen positiven Eindruck, wenn man nicht den letzten Vers liest. Die Beschreibungen der Ausgewiesenen sind nicht gerade toll, weil sie ihr Gedächtnis verloren hat, keinen Pass hat und keine Schuhe hat und ihr Mann ist ein alter, müde gewordener Jäger, vielleicht aus einem Krieg zurückgekehrt, aber sie liebt ihn. Das ist das wichtigste. Diese beiden Menschen verleben einen wunderschönen Abend. Irgendwie fiel mir beim Lesen immer wieder Russland ein... Schlagt mich! Ist nur ne Vermutung. Also, ein verdammt verwirrendes Gedicht ist das, aber nicht schlecht, auch wenn ich es nicht ganz verstehe...

Mousy Dark

P.S: Mir fällt grad auf, dass ich während der Interpretation meine Sicht zu dem Gedicht komplett verändert habe, aber das ist ein interessanter Prozess und ich lass es mal so...

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
Mo 10. Nov 2003, 15:32 - Beitrag #13

Naja stellenweise hab ich es mit der Interpretation auch übertrieben.:D
MfG Maglor

Thod
Harfner des Erhabenen
Lebende Legende

 
Beiträge: 2858
Registriert: 02.06.2001
Mo 10. Nov 2003, 15:52 - Beitrag #14

och, ich finds ganz plausibel :s1:

gruss,
thod

Nando
Member
Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 106
Registriert: 26.03.2002
Mi 12. Nov 2003, 21:00 - Beitrag #15

Ach du Schreck! :D

Was sich da alles herauslesen lässt! Das ist der Vorteil bzw. Nachteil solcher sogenannten "Modernen".
Ich werde demnächst mal was Modernes von mir als Interpretationshappen servieren.
"Flugfähiges Sperma"... Das ist ja noch besser als Enzensberger selbst! :cool:

DarkMousy
Advanced Member
Advanced Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 322
Registriert: 10.08.2003
Mi 12. Nov 2003, 21:28 - Beitrag #16

*lach*

Ich glaub die Stelle wirft wohl am meisten Spekulationen auf... ich finde den Begriff aber mittlerweile sehr nett^^ Ich hab ihn in meinen Wortschatz integriert :D

@Nando Ja, ja, jaaaaaaaaa..... gib uns ein neues Gedicht. Ich hätte zwar auch schon eins, aber z.Z. keine Zeit für ne Interpretation. Habe z.Z. Klausurphase.

Mousy Dark

Nando
Member
Member

Benutzeravatar
 
Beiträge: 106
Registriert: 26.03.2002
Mi 12. Nov 2003, 21:41 - Beitrag #17

( Habe meinen Beitrag zum Thema, den ich - etwas euphorisch gestimmt - erstellte, wegen eigener Bedenken wieder entfernt.
Theoretisch und praktisch könnte er somit von einem "Software-Potentaten" jordanisiert werden!)

mancede
Newbie
Newbie

 
Beiträge: 2
Registriert: 20.02.2004
So 22. Feb 2004, 20:08 - Beitrag #18

Hallo

Ich bin neu in diesem Forum und habe zum Einstand mal eine Interpretation von "Sachliche Romanze" von Erich Kästner angefertigt. Was haltet ihr davon?

Gedichtsinterpretation: „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner

Das vorliegende Gedicht „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner, einem der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, reflektiert eine achtjährige Beziehung zweier Menschen, die sich auseinander gelebt haben und plötzlich ihre Liebe verloren geht. Das Erscheinungsjahr des Gedichtes ist das Jahr 1929, welches zeitlich in den Rahmen der späten Neuen Sachlichkeit passt.
Die Quelle ist unbekannt, es liegt lediglich eine Kopie des Gedichtes vor.

Beim ersten Lesen wirkt die Atmosphäre des Gedichtes sehr kühl, sachlich und steril. Besonders die letzte Strophe erweckt den Eindruck einer scheinbar auswegslosen Hoffnungslosigkeit der recht unleidenschaftlich wirkenden Beziehung zweier Menschen. Das Ende des Gedichtes erinnert an Edward Hopper's weltberühmtes Bild „Nighthawks“, welches als ein Sinnbild für triste Einsamkeit Weltruhm erlangte.

Betrachtet man das Gedicht auf der formalen Ebene, kommt man zu folgenden Ergebnissen. Das Reimschema ist recht regelmäßig, während die Verslänge und das Metrum variieren. Die ersten drei Strophen haben das Reimschema eines Kreuzreims. Die letzte Strophe besitzt keinen reinen Kreuzreim, da der vierte Vers, der sich auf den ersten Vers reimt, eingefügt wurde. Die ersten drei Strophen haben jeweils vier Verse, während die vierte Strophe aus fünf Versen besteht.

Bei einer sprachlichen Untersuchung bemerkt man den prosaartigen Charakter des Gedichtes. Das sieht man daran, wie erzählerisch der Dichter die Geschehnisse parafrasiert. Anstatt sich eines lyrischen Ichs zu bedienen, wählt der Autor eine auktoriale Erzählweise, die sich aber in einem lyrischen formalen Rahmen bewegt. Es wird öfters vom Personalpronomen „Sie“ (Vers 1, 2, 5, 8, 13, 15, 16) gebrauch gemacht und der Tempus ist das erzähltypische Präteritum. Die Sprache ist sehr neutral, unleidenschaftlich und leicht verständlich, was man an dem spärlichen Einsatz von Adjektiven und Konjunktionen sieht. Im Grunde wirkt das Gedicht eher wie ein sachlicher Bericht als ein lyrisches Werk.

Die erste Strophe lässt erahnen, dass irgendwann in der Vergangenheit möglicherweise eine Liebe zwischen den beiden Menschen in dem Gedicht bestand, die sich aber durch das bessere Kennenlernen zu einer öden Farce und Routine deformierte. Die in Klammern gesetzte Aussage „(und man darf sagen sie kannten sich gut),“ und den darauffolgenden Vers „kam ihre Liebe plötzlich abhanden“ könnte man dahingehend verstehen, dass sich die Beziehung zu einem Partner durch das gegenseitige bessere Kennenlernen als langweilig und eintönig entpuppen könnte und man in Erwägung ziehen könnte den Sinn dieser Beziehung zu überdenken. In Vers 4 findet sich ein Vergleich des Verlorengehens der Liebe mit dem Verlorengehen eines Stocks oder eines Huts. Sowohl Stock als auch Hut sind Sicherungen beim Gehen, der Stock als Stütze, der Hut als Schutz vor dem Wetter. Ähnlich kann man auch die Liebe sehen: Sie stützt und sichert sowohl die Beziehung als auch die beiden Liebenden. Das Wort „plötzlich“ im Zusammenhang mit dem Abhanden kommen der Liebe, lässt die Vermutung zu, dass das Paar jahrelang in einer Ohnmacht nebeneinander herlebte und „plötzlich“ aus diesem Trancezustand erwacht. Die beiden Menschen versuchen nicht ihrer verloren gegangen Liebe eine Chance zu geben, sie finden sich viel mehr mit diesem Zustand ab und resignieren.
An dieser Stelle könnte man sich fragen, inwieweit die Liebe zwischen diesen beiden Menschen gewollt und oder von der Gesellschaft fremdgesteuert war.
Welche Faktoren und sozialen Umstände spielen in diese Fragestellung mit ein? Aus werkimmanenter Sicht lässt sich eine Antwort auf die Frage nur erahnen, deswegen wäre es angebracht die Lebensbedingungen, das Frauen- und Männerbild in den Anfängen des 20. Jahrhunderts zu durchleuchten. Auch ein psychoanalitischer Interpretationsansatz, der sich mit der Trauer und Fassungslosigkeit der beiden Menschen beschäftigt, wäre ein guter Weg dem Gedicht gedanklich näher zu kommen.

Die zweite Strophe beschreibt die anscheinend geheuchelte Herzlichkeit auf der nonverbalen Ebene der beiden Protagonisten. Obwohl die beiden Menschen traurig sind, versuchen sie trotzdem ihren eigenen Gefühlen widersprechend durch Küsse den jeweils anderen durch eine geheuchelte Emotion in dem Glauben zu lassen, dass alles in Ordnung sei. Diese emotionale Fassade, die die beide Menschen versuchen auf Kosten von sich selbst aufrecht zu erhalten, beginnt im siebten und achten Vers zu bröckeln. Hier mischt sich ein Gefühl der Fassungslosigkeit der beiden Menschen unter ihre Heuchlerei mit ein, was man am Ausgang der zweiten Strophe anhand des pessimistischen Standbildes sieht. Der Mann reagiert auf das Weinen der Frau, das man als Hilfeschrei deuten könnte, abwehrend und teilnahmlos. Aus der emotionalen Fassade zwischen den beiden Menschen wird eine emotionale Mauer, was man an dem Fehlen von Trost und Körperkontakt sieht.

In der dritten Strophe geht der Blick in die Ferne, in Richtung von Schiffen, die am Hafen ankommen und abfahren. Die Schiffe im Zusammenhang mit dem Winken, und somit Abschied nehmen, könnte man als vorweggenommenes Ende zwischen den beiden Menschen ansehen, welches sich anbahnt und unausgesprochen in der Luft hängt. In Vers 11 und 12 wird wieder einmal die kalte Rationalität des Mannes im Gegensatz zur Frau („ Da weinte sie schließlich.“ Vers 8) deutlich, der darauf drängt endlich ins Café zu gehen, weil es schon Zeit wäre. Durch den Ortwechsel, versucht der Mann das Ende der Beziehung möglicherweise nur hinauszuzögern. Man sieht, dass es sich um einen routinemäßigen Gewohnheitsbesuch eines Cafés handelt, weil er zeitlich festgelegt ist. Für den Mann soll womöglich die Beziehung nach alter Manier weiterlaufen, weil er das Café trotz der zerrütteten Umstände unbeeindruckt mit seiner Frau aufsuchen möchte. Der Klavierspieler verleiht dem nüchternen Gedicht etwas an Emotionalität. Man könnte vermuten, dass der Klavierspieler ein sensibler und musischer Mensch ist, der im Kontrast steht zu den beiden „Sachlichen“ der „Sachlichen Romanze“.

In der vierten Strophe wird die Blickführung wieder enger. Der Schauplatz ist das kleinste Café am Ort. Obwohl das kleine Café als Ort für ein klärendes Gespräch ideal erscheint, wird die Lage von einer schweren tiefmütigen Simmung verdeckt, welche man zum einen an einem fehlenden Dialog, der Einsamkeit und zum anderen an der Fassungslosigkeit der beiden Protagonisten sieht. Die beiden Menschen sitzen zwar zusammen an einem Tisch, fühlen sich aber trotzdem allein und verlassen. Innerlich scheinen sie schon Abschied genommen zu haben, sie trauen sich nur noch nicht zu es laut auszusprechen, weil sie ihre auswegslose und lähmende Situation („nicht fassen“ Vers 17) können. Die Passivität und Wortkargkeit beider Figuren im Gedicht ist ein Beweis für Fassungslosigkeit.




Das besondere an dem Gedicht ist für mich, dass man als Außenstehender beobachten kann, wie sich zwei Menschen gegenseitig emotional ersticken. Man sieht dies sehr gut an der Tauer, die in dem Gedicht vorherrscht und sich entwickelt. Die Trauer zwischen den beiden Menschen äußert sich in Betäubung, Schock, Nicht-wahr-haben-wollen und Empfindungslosigkeit. Zuerst wirken die beiden Menschen im Gedicht acht Jahre lang betäubt, dann kommt der plötzliche Schock der plötzlich abhanden gekommenen Liebe, gefolgt von dem Nicht-wahr-haben-wollen, was sich in dem flüchtigen Austausch von Küssen äußert. Dieser Prozess endet in einer stumpfen Unempfindlichkeit, was man an der Sachlichkeit und Kälte der Romanze sehen kann. Der nächste Schritt, der in dem Gedicht nicht mehr thematisiert ist, wäre möglicherweise ein Aufbruch der äußerlichen Passivität. Der Abschied könnte dann auch außerhalb der Köpfe der beiden Menschen stattfinden und verbal formuliert werden. Die fehlende Kommunikation und das Fehlen von Körperkontakt deuten auf ein Ende der Beziehung hin, der Dicher lässt aber das Ende offen. Es ist denkbar, dass das Paar wieder nach Hause geht und der Ohnmacht weiterlebt. Vielleicht erlauben es nicht die sozialen Umstände, dass sich die beiden Menschen trennen, weil Kinder aus der Romanze entstanden sind.
Der Druck der Gesellschaft auf das Paar wäre somit zu groß und die Folge einer sozialen Ächtung durchaus in den 20er des 20. Jahrhunderts denkbar. Die miserablen Lebensbedingungen nach der Weimarer Republik erlaubten keine emanzipierte und selbstbestimmte Liebe, somit erscheint die „Sachliche Romanze“ aus diesem Blickwinkel nachvollziehbar. Das Frauenbild ließ in den 20er des 20. Jahrhunderts keinen Spielraum für Verwirklichung einer leidenschaftlichen Liebe zu. Die Motive für Beziehungen und Ehen waren eher wirtschaftliche und soziale Aspekte, die die Hörigkeit der Frau vom Mann unterstrichen. In dem vorliegenden Gedicht sieht man die übergeordnete Stellung des Mannes über der Frau daran, als der Mann darauf drängt ins Café zu gehen, wodrauf die Frau ungefragt scheinbar einwilligen muss. Ein weiterer erschreckender Aspekt in dem Gedicht ist das Fehlen von zwischenmenschlicher verbaler Kommunikation, die zwar in einem Gedicht nicht unbedingt notwendig ist, weil man die inneren Zustände der Menschen auch von ihrem Verhalten her ableiten könnte, aber es ist frustrierend zu beobachten, wie sich die beiden Menschen unbewusst schädigen, indem sie schweigen.

Der Schlüssel zum Verständnis des Gedichtes liegt meiner Meinung nach in der Überschrift des Gedichtes „Sachliche Romanze“. Dieses Oxymoron veranschaulicht eine mögliche folgende Intention des Dichters.

„Liebe ist in der Realität selten die schwindelerregende Romanze, als die sie immer wieder gern dargestellt wird. Die Evolution hat dem Homo Sapiens eine starke Bereitschaft eingepflanzt, sich Hals über Kopf und verhältnismäßig unselektiv zu verlieben. Das ist nötig, damit zwischen Wildfremden eine starke Bindung entstehen kann, die schnell zur Zeugung von Nachkommen führen soll.“ („Unromantische Erkenntnisse über die Liebe“ Quelle: FAZ 1.12.1993 )

Dieser hermeneutische Interpretationsansatz käme einer „Sachlichen Romanze“ nahe. Die Natur zwingt den Menschen sich möglichst schnell zu verlieben, ohne überhaupt die Chance zu haben, zu prüfen, ob der Partner zu einem selbst passt. Dies alles dient dazu möglichst schnell Nachwuchs zu zeugen.

Aus heutiger Sicht wirkt diese Aussage für mich lächerlich. Menschen kommen nicht in erste Linie zusammen, um Nachwuchs zu produzieren, sie kommen zusammen, weil sie etwas füreinander empfinden. In den 20er des 20. Jahrhunderts war es aber durchaus nichts unübliches, wenn man früh heiratete und auch viele Kinder bekam. Die Liebe stand hierbei mehr im Hintergrund, es zählte mehr die Anzahl der geborenen gesunden Kindern, die auch eine Art Rentenversicherung fürs Alter darstellten.

Erschreckend ist das Verständnis von Liebe für mich an den Punkten in dem Gedicht, wo sich die beiden Menschen unbewusst Schaden zufügen, indem sie wegen ihrer Kälte nicht im Stande sind miteinander zu reden.


Zurück zu Literatur

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 5 Gäste