oje, schon einen Monat her... Nachträge - in dieser Reihenfolge: Michail Bulgakow: Aufzeichnungen eines Toten (1936/37) Ähnlich wie 'Meister und Margarita', aber weitgehend ohne surreale Elemente, dafür mindestens so überspitzte Personendarstellungen. Das Buch reflektiert eigene Erfahrungen des Autors, genauer seinen Versuch, in der Moskauer Theaterwelt Fuß zu fassen, und die grotesk-unübersehbaren Hindernisse, auf die er dabei stößt (etwa altgediente Diven, denen man aufgrund ihrer Macht unmöglich abschlagen kann, im Stück das junge Mädchen zu spielen; ein Intendant, dessen Auffassung vom Stück der des Autors diametral entgegensteht - und das Stück lieber absetzen als nach dem Willen des Autors spielen lassen will). - Daß der Roman Fragment blieb, ist letztlich ein Glück: Da sich die geschilderten Probleme für Bulgakow lösten, hatte er zuviel zu tun, um den (im Vorwort erwähnten) Selbstmord seines so selbstähnlichen Protagonisten abschließend zu motivieren. Max Kretzer: Meister Timpe (1887) Naturalistischer Roman im Berliner Handwerkermilieu der Gründerjahre: Meister Timpe, ein ehrbarer Drechslermeister, will, daß sein Sohn 'mehr' erreicht und ein Kaufmann wird, vernachlässigt aber dessen moralische Erziehung - was sich für ihn selbst bitter rächt. Grandios ist die Schlußszene, die den Triumph des Fortschritts in Form der fertiggestellten Stadtbahn feiert, die den gleichzeitigen Untergang der Tradition und Rechtschaffenheit vor der Allgemeinheit verbirgt. Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung (1943-45) Nachgelassene Schriften, Briefe und Gedichte aus der Haft, postum (in Auswahl und gekürzt) herausgegeben von einem langjährigen Mitarbeiter Bonhoeffers. - Starke und abgründige Texte darunter. Hätte ich mehr Zeit, würde mich die vergleichende Biographie Bonhoeffer-Camus interessieren, die ich gerade in der Hand hatte... Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle (1883/84) Nach realen Vorbildern seiner Zeit gestalteter Roman mit dem erstaunlichen Thema Umweltverschmutzung: Ein Mühlbach wird durch die chemischen Abwässer einer nahen Zuckerfabrik vergiftet, was letztlich zur Aufgabe der Mühle führt, obwohl ein Gericht dem Müller Recht gibt; erzählt aus der rückblickenden Sicht des Erben. - Rahmen- und Binnenhandlung sind dicht ineinander verschränkt und wechseln sehr unvermittelt; teilweise mit witzigem Effekt. Ohnehin könnte ich mich an Raabes feinen Humor gewöhnen... Der Roman bezieht interessanterweise (mE) nicht Stellung zwischen Nostalgie und Fortschrittsglauben; beide Positionen bleiben nebeneinander bestehen. Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund (1957) Überschaubarer Roman um Flucht und Verantwortung, Liebe und Vernunft, Infragestellung moralischer, religiöser und ideologischer Prinzipien zur Rettung des Individuums - im Mittelpunkt eine Skulptur von Barlach, die als Sinnbild kritischen Bewußtseins zu einem Banner der Humanität wird, unter dessen Schutz die stark entgegengesetzten Figuren zusammenfinden können. Alle Wege laufen wieder auseinander, und doch hat es eine Berührung gegeben, deren Wirkung anhalten könnte.
|