Welches Buch lest ihr gerade? (II)

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
e-noon
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Do 14. Jul 2016, 20:48 - Beitrag #801

Aristoteles - nikomachische Ethik, fünftes Buch (für Klausur :shy: :knife: ).

Ipsissimus
Dämmerung
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Sa 3. Sep 2016, 22:53 - Beitrag #802

Alfred J. Noll
Der rechte Werkmeister
Martin Heidegger nach den »Schwarzen Heften«

PapyRossa-Verlag, Köln, 2016

Im März 2014 veröffentlichte Peter Trawny die sogenannten "Schwarzen Hefte", eine Art Denk-Tagebuch, das Heidegger in mehreren Bänden zwischen 1831 bis 1975 geführt hat. In den Jahrgängen zwischen 1938–1941 und 1941–1948 finden sich zahlreiche Bemerkungen Heideggers über "Judentum", "Judenschaft" und "Weltjudentum". Diese Bemerkungen feuerten die schon unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg begonnene Diskussion über Heidegger als von grundauf nationalsozialistisch gesonnener philosophischer Brandstifter, eine Diskussion, die mit aller Vehemenz aber bislang kaum unter Gesamtwürdigung der Schwarzen Hefte geführt wurde und wird.

Noll legt nun erstmals eine Gesamtanalyse der Schwarzen Hefte vor, die sehr ins Detail geht. Er weist nach, dass auf Grundlage von Heideggers Darlegungen in seinen Tagebüchern kaum noch eine andere Wahl bleibt als festzustellen, dass Heideggers Philosophie weder systematisch noch rational ist sondern sich wesentlich mystischen Einsichten in Anlehnung an den nationalsozialistischen Blut und Boden Kult verdankt. Noll zeigt, dass Heidegger nicht nur Nationalsozialist war und bis an sein Lebensende geblieben ist sondern gleichermaßen Antisemit und Faschist.

Sehr spannendes Buch für philosophisch Interessierte. Praktisch die völlige Demontage eines Philosophen, der bislang zu den größten Philosophen des 20. Jahrhunderts gezählt wurde, sich allerdings im Lichte seiner eigenen Äußerungen als kaum mehr als ein philosophierender Opportunist erweist, der im Prinzip auf einer Linie mit anderen nationalsozialistischen Staatsphilosophen liegt.

Freilich wird das bestritten. Ein erheblicher Teil von Nolls Analyse hängt wesentlich von der Wichtung der Einzelaussagen im Gesamtwerk Heideggers ab. Noll stellt daher den Aussagen in den Schwarzen Heften analoge Passagen aus Heideggers Gesamtwerk zur Seite, die zeigen, dass seine Schlussfolgerungen nicht auf der Grundlage isolierter Momentaufnahmen stehen sondern dass Heideggers manifester Antisemitismus und Nationalsozialismus sich im gesamten Werk wiederfinden.

Aber natürlich ist es kein mathematischer Beweis. Viele seiner Anhänger sehen in Heidegger den Guten, der in übler Zeit übel agierte, ohne dadurch sein Wesen zu wandeln. Wir dürfen weiter gespannt sein.

Ipsissimus
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So 18. Sep 2016, 16:26 - Beitrag #803

Han Kang
Die Vegetarierin

Ki-Hyang Lee, Übersetzer
Aufbau Digital, August 2016
gelesene Fassung: Kindle
191 Seiten

Es handelt sich um die Geschichte zweier Schwestern um die 25 bis 30, die in Südkorea ein unauffällig-angepasstes Leben führen, beide verheiratet, die eine mit Kind. Die Ehen gelten als mustergültig, da beide die strengen Verhaltenskodizes der südkoreanischen Gesellschaft vollendet erfüllen. Als die Schwester ohne Kind eines Tage beschließt, kein Fleisch mehr zu essen, kommen weder ihr Ehemann noch ihre Familie damit klar. Verschiedene Maßnahmen, sie zum Essen zu bewegen und auch zu zwingen, verschärfen die Entfremdung bis zum Selbstmordversuch und weiteren katastrophalen Zuspitzungen. So überredet ihr Schwager sie, sich für ein Kunstprojekt als Nacktmodel zur Verfügung zu stellen; während einer der Sitzungen kommt es zum sexuellen Austausch, an dem die Ehe ihrer Schwester zerbricht.

Ab dieser Stelle wandelt sich der Charakter der Geschichte, die man in europäischer Perspektive bin dahin als Emanzipationsgeschichte einer unterdrückten Frau lesen könnte. Im weiteren wird aber immer deutlicher, dass in der Situation der kinderlosen Schwester Zwangsvorstellungen eine starke und immer stärker werdende Rolle spielen. Sie identifiziert sich mit Blumen und Bäumen, glaubt irgendwann völlig auf Essen verzichten zu können, magert ab. In einer Spezialklinik wird die Kombination von Magersucht und Schizophrenie diagnostiziert. In einigen höllischen Szenen wird durchexerziert, was das konkret bedeuten kann, am Ende wird sie in ein normales Krankenhaus verlegt, weil sie nur noch durch eine Hohlnadel in der Halsaorta ernährt werden kann, sie wiegt keine 30 kg mehr und weigert sich nach wie vor, irgendeine Nahrung zu sich zu nehmen.

Die ursprüngliche Emanzipationsgeschichte wird jedoch von ihrer Schwester weitergetragen, die sich vor den Trümmern ihres bisherigen Lebens fragt, wie es zu all dem kommen konnte und langsam, Schritt für Schritt, bemerkt, dass der Schutzschild ihrer eisernen Beherrschung bröckelt, bis sie sich eingesteht, dass ihre Schwester an all dem stirbt, was auch sie selbst in den Klauen hält, die Konventionen der südkoreanischen Gesellschaft. Zuletzt funktioniert sie weiter, um ihres Kindes willen.

Ein betörender, leiser Roman, in dem das Grauen und die Exzesse leise bleiben, sich beinahe entschuldigend, dass sie stattfinden. Es ist auch vom Ende her betrachtet schwierig zu entscheiden, ob es sich um eine Krankengeschichte oder eine Emanzipationsgeschichte handelt, "irgendwo" beides, aber eine Emanzipation oder gar eine Befreiung findet nicht statt, bestenfalls wird eine vage Sehnsucht nach Emanzipation angedeutet. Die Geschichte taucht aus dem Rauschen auf und verschwindet wieder im Rauschen. Es ist schwierig, sich für die überlebende Schwester eine Perspektive für Glück vorzustellen.

Nachdrückliche Leseempfehlung.

Lykurg
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Di 20. Sep 2016, 03:53 - Beitrag #804

Ja, dazu hatte ich auch eine sehr gute Besprechung gehört. Faszinierend, danke! Mal sehen, wann für sowas wieder Zeit ist. :)

Spannend auch die Heidegger-Besprechung. Etwas gruslig vor diesem Hintergrund, als wie vorherrschend er vielfach - insbesondere z.B. auch in den USA - wahrgenommen wird. Da muß wohl noch so einiges entrümpelt werden in der Philosophiegeschichte.

Ipsissimus
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Sa 1. Okt 2016, 13:04 - Beitrag #805

Wolfgang Herrndorf
Tschick

Rowohlt Digitalbuch, 2011
254 Seiten
gelesene Version: Kindle

sowie

Wolfgang Herrndorf
Bilder deiner großen Liebe

Rowohlt E-Book, 2014
144 Seiten
gelesene Version: Kindle

Es gibt bekanntlich einen haarfeinen, aber rasiermesserscharfen Unterschied zwischen Seichtigkeit und Leichtigkeit, ein Unterschied, an dem mit einer Ausnahme alle mir bekannten deutschen Literaten der letzten 250 Jahre gescheitert sind, gescheitert sind, weil sie, so meine Mutmaßung, Schwere mit Tiefe verwechseln. Deutsche Literatur ist bierernst, und wo sie leicht sein will, wird sie seicht.

Keine Regel ohne Ausnahme, und diese eine ist bedeutend. Kurt Tucholskys Schloss Gripsholm wirkt in seiner nahezu unerträglichen lichtdurchfluteten Leichtigkeit beinahe wie ein Gauguinsches Südsee-Gemälde. Aber es blieb ein Solitaire, eine isolierte Einzelerscheinung, selbst innerhalb Tucholskys Werk. (Heinrich Heine wäre als mögliche zweite Ausnahme zu diskutieren.)

Und nun also Tschick, gleichermaßen eine coming in age Geschichte wie ein Roadmovie, von zwei 14jährigen jungen Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, es aber schaffen, sich in ein paar Tagen gemeinsam verbrachter Sommerferien in jede Menge Ärger zu verstricken, alles erzählt mit einer Leichtigkeit und Lakonie, die wundervoll sind. Und nirgends auch nur ein Anflug von erhobenem Zeigefinder oder wertvoller Pädagogik.

Bilder deiner großen Liebe ist ein unvollendet gebliebenes Fragment über eine Nebenfigur aus Tschick. Die Leichtigkeit und Lakonie von Tschick ist geblieben, hinzugetreten ist etwas, das gar nicht so einfach zu charakterisieren ist. Eine mystische Dimension vielleicht, aber nicht hervorgerufen durch eine Zusatzebene innerhalb der Handlung sondern als Resultat des Umstandes, dass die Ich-Erzählerin der Bilder die Dinge aus einer ver-rückten Perspektive schildert, die ihrer eigenen Verrücktheit entspricht. In den Bildern wird die Geschchte von Isa erzählt, ein 14jähriges, mutmaßlich an Schoziphrenie leidendes Mädchen, das aus der Anstalt geflohen ist, um sich auf den Weg zu ihrer Halbschwester zu machen, die sich später beiläufig als entfernte frühere Bekannte zu erkennen gibt, die keinerlei Bezug zu Isa mehr hat. Isa ist ver-rückt, aber (meistens) nicht irre, ihre Verrücktheit beschäftigt sich mit den Tiefendimensionen der Dinge, denen sie begegnet. Vieles bleibt, der fragmentarischen Natur des Romans entsprechend, reine Andeutung, und das ist gut so, vor allem der Umstand, dass der Roman keinen Schluss hat.

Beide Romane empfinde ich als Höhepunkte deutscher zeitgenössischer Literatur, atypische Höhepunkte, in ein paar Jahren werden sie Klassiker sein, Tschick eher als Bilder, weil Bilder deiner großen Liebe schon zu leicht ist, als dass es erträglich wäre, wohingegen Tschick noch einen Deutungsrahmen aufspannt, der es ermöglicht, sich damit auseinanderzusetzen, ohne sich auf das Abgründige darin einzulassen. Das Abgründige in Bilder deiner großen Liebe verweigert sich dieser Möglichkeit. Ich glaube, dass Herrndorf in diesem seinen letzten Werk keine Kompromisse mehr eingegangen ist und gerade deswegen bis beinahe zu seinem letzten Atemzug darum gekämpft hat, dem Fragment die Veröffentlichung zu sichern, die es verdient hat.

Wenn ich irgendwann mal zu Gefühlsüberschwang neigen sollte, würde ich sagen, dass ich Tschick für große Klasse, Bilder deiner großen Liebe aber für anbetungswürdig halte^^ und darin zumindest in Sichtweite von Schloss Gripsholm, was ich von keinem mir bekannten zweiten Werk deutscher Sprache sagen könnte.

Feuerkopf
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Sa 1. Okt 2016, 15:31 - Beitrag #806

"Tschick" habe ich im Urlaub als Taschenbuch gelesen. Sehr unterhaltsam, in einer Art Jugendsprache geschrieben, die sich nicht anbiedert. Wenn einem "The Catcher in the Rye" von Salinger im Original (die Übersetzung fand ich immer gruselig) oder "Crazy" gefallen hat, dann wird man dieses Buch mögen.
Leider wird es wohl als Schullektüre verwendet, was ich super schade finde. Solche Schätze sollten von einem derartigen Schicksal verschont bleiben.

Wo bleibt eigentlich das entsprechende Buch über Mädchen? Oder gibt es längst was Vergleichbares und es wird von der Kritik übersehen?

Ipsissimus
Dämmerung
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Sa 1. Okt 2016, 18:59 - Beitrag #807

Bilder deiner großen Liebe ist das entsprechende Buch für Mädchen^^

dein Bedauern hinsichtlich der Verwendung von Tschick als Schulbuch kann ich nachvollziehen, Feuerkopf, und teilen^^

Lykurg
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So 9. Okt 2016, 09:49 - Beitrag #808

Schade, mein längerer Beitrag ist grad verpufft... eigenes Ungeschick. Egal.

Habe Tschick sehr gern gelesen, obwohl ich den Catcher in the rye überhaupt nicht mochte. (Lustig, die Auto-Vervollständigung bot mir direkt nach "rye" "sehr gut" an, normalerweise schlägt sie nur ein Wort auf einmal vor, aber hier war sie sich offenbar sehr sicher...) - Und daß die Bilder noch einen veröffentlichungstauglichen Zustand erreichten, ist ein absoluter Glücksfall.

Sehr lohnend, wenn auch völlig anders, fand ich auch Herrndorfs "Sand", einen 1972 in der algerischen Wüste spielenden Agententhriller. Brutaler Text, dessen Hauptfigur ihr Gedächtnis verloren hat und mühsam ihre Identität zu rekonstruieren sucht. Hat absolut nicht die Leichtigkeit der beiden anderen, ist aber auch sehr dicht, vorzüglich geschrieben und fein beobachtet.

Milena
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Di 25. Okt 2016, 19:24 - Beitrag #809

Der Hahn ist tot...von Ingrid Noll...
habe es noch nicht durch, da es gerade etwas stockt, nachdem ich zu anfang sehr begeistert war,
auch dahingehend, dass ich nach mehr als etlichen jahren wieder ein buch(büchlein) begonnen habe zu lesen. eigentlich nur aus dem grunde heraus, da es ein geschenk war und es mir ein anliegen war, es wirklich anzunehmen^^.....
nun, die Noll gefällt mir sehr gut, eigentlich eher ihr schreibstil, aber als sie (es ist ein krimi^^) einer röchelnden ehefrau den erlösenden schuss in den kopf verabreichte, weil sie sich in dem daneben sitzenden ehemann verliebt hat, dem sie gerade mal dreimal begegnet ist und ihm somit aus der patsche helfen wollte, seit da, da tue ich mir dem gesamten büchlein etwas schwer...
aber weil ich es dennoch durchziehen möchte mit dem lesen, werde ich dranbleiben, weil wie gesagt, die Noll wirklich gut schreiben kann, obwohl ich manches ihr einfach nicht abnehmen kann...^^ :crazy: :D

Feuerkopf
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Di 25. Okt 2016, 22:59 - Beitrag #810

Habe "Bilder deiner großen Liebe" inzwischen gelesen. Es hat mir auch gefallen, es ist nicht störend, dass es nicht fertig wurde. Tolle Formulierungen.
Allerdings ist Herrndorf die Charakterisierung der Jungs besser gelungen als die des Mädchens, finde ich - als ehemaliges Mädchen. ;)

Milena
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Do 27. Okt 2016, 23:25 - Beitrag #811

lesen jetzt nicht direkt, aber hören^^..
hörbuch: Der Traum eines lächerlichen Menschen, von Fjodor M. Dostoijewskij
und Helle Nächte, ebenso von ihm....
er ist einfach mein lieblingsautor....ehrlich, schnörkelfrei, arm, ehrlich, einfühlsam....

Ipsissimus
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Fr 11. Nov 2016, 15:09 - Beitrag #812

David Monteagudo
Ende

Spanischer Originaltitel: Fin

Deutsche Übersetzung von Matthias Strobel
Rowohlt (16. Januar 2012)

gelesene Version: Kindle

Ein merkwürdiges Buch, das so wirkt, als habe sich der Autor bis zum letzten Satz nicht so richtig entscheiden können, ob er ein Apokalyptikum, ein Postapokalyptikum oder die Doku zu einer Gruppentherapie verfassen wollte. Das Ende, von dem der Titel spricht, ist das Ende der Menschheit; die Art, in der dieses Ende herbeigeführt wird, darf getrost als mysteriös und wenig spektakulär gelten.

Eine Gruppe von 8 früheren Freundinnen und Freunden hatte vor 25 Jahren anlässlich einer Party an einer entlegenen Burgruine irgendwo in Nordostspanien beschlossen, sich 25 Jahre später genau am gleichen Ort wieder zu treffen. Man lebt sein Leben, man verliert sich praktisch aus den Augen, aber nach 25 Jahren fühlt sich eine der Frauen doch motiviert, das damals vereinbarte Treffen zu organisieren, und so trudeln sie alle, mit einer Ausnahme, an der Burgruine ein. Man versteht sich eigentlich nicht mehr sonderlich und irgendwann nachts erlischt die Beleuchtung, Handys gehen nicht mehr, Autos springen nicht mehr an und die erste Person verschwindet. Panik wird mühsam unterdrückt, am nächsten Tag macht sich die Gruppe auf zu einem nahegelegenen Ort, auf dem Weg verschwindet die zweite Person. Der Ort ist menschenleer, zeigt aber alle Anzeichen, dass hier Menschen gelebt haben, die praktisch mitten in irgendeiner Handlung verschwunden sein müssen, angebissenes Brot liegt am Boden, halbvolle Teller und Gläser stehen auf Restauranttischen, dergleichen. Ein weiteres Mitglied der Gruppe verschwindet, plötzlich ist der Rest mit allerlei Tieren konfrontiert, die zunächst nur verstört wirken, im Laufe der Wanderung aber immer aggressiver werden. Man beschließt, Richtung Küste und Provinzhauptstadt zu wandern, ein paar Fahrräder werden gefunden, aber eine/r nach dem anderen verschwindet, die Landschaft bleibt menschenleer. Auf einer Autobahn, die ihr Weg kreuzt, Massenkarambolagen von Horizont zu Horizont, die Autos menschenleer. Die letzte Überlebende erreicht den Stadtrand der Provinzhauptstadt und verschwindet dort auch. Ende.

Eine Erklärung für das Geschehen wird nicht geboten, die Gruppe ergeht sich lediglich während der gesamten Wanderung in Mutmaßungen über alte und neue moralische Verfehlungen, die immer mehr den Charakter einer versuchten, aber missslingenden Gruppentherapie annehmen.

"Ende" war bei seinem Erscheinen ein großer internationaler Erfolg und wurde durch die gleichnahmige Verfilmung nochmals hochgehoben, aber ich vermag nicht zu erkennen, was die Kritiker an dem Roman fanden. Langweilig, aber vermutlich hohe Literatur.

Traitor
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Sa 12. Nov 2016, 00:50 - Beitrag #813

Viel zu wenig Lektüre im letzten halben Jahr, die kurze Liste müsste aber erst noch rekonstruiert werden.

Danke aber schonmal an die Runde für die Tschick-Empfehlung, tatsächlich hatte ich anlässlich des (nicht gesehen) Films so viel Gutes darüber gehört, aber eben auch jenen für mich extrem abschreckenden Crazy-Vergleich, dass ich schon seit einiger Zeit vorhatte, hier nach Erfahrungen damit nachzufragen. Feuerkopf erwähnt zwar leider auch Crazy, da aber sonst alles positiv klingt, kommt das Ding auf die Weihnachtsliste.

Milena
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Fr 18. Nov 2016, 18:06 - Beitrag #814

habe gestern das büchlein von Ingrid Noll..der Hahn ist tot....fertiggelesen...
ja, und was soll ich sagen, ich weiss gar nicht, was das jetzt war....vielleicht kann ich es unter ´Galgenhumor´so stehen lassen...aber ein krimi war das nicht in meinen augen...
da ich nun die hürde der lesehemmschwelle bewältigt habe, griff ich soeben in mein bücherregal und entnahm von
Thommie Bayer
Der Himmel fängt über dem Boden an
von Eichborn

blättere so die ersten Blätter und was soll ich sagen, steht da geschrieben:
The birds they sang at the break of day
Start again I heard them say
(L.Cohen)

Zu dem Buch kann ich jetzt selbst noch gar nichts sagen...später dann weiteres^^

Ipsissimus
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Fr 2. Dez 2016, 12:07 - Beitrag #815

Justin Cronin

Passage-Trilogie

bestehend aus den Bänden

Der Übergang (2010)
Die Zwölf (2013)
Die Spiegelstadt (2016)

Goldmann-Verlag
Übersetzer: Rainer Schmidt

gelesene Ausgaben: Kindle

Aus Anlass des Erscheinens des dritten Bandes habe ich die beiden ersten Bände gleich noch mal mit gelesen. Dabei bestätigte sich wieder und auch beim dritten und letzten Band, was mich schon früher irritiert hat: Wann immer ich einen der Bände zu lesen begann, wollte ich nach ein paar Seiten das Buch am liebsten zuklappen und wegwerfen (bzw. löschen), zu massiv erschienen amerikanischer Familienkitsch, religiöse Verklärung, Wildwest-Romantik und Durch die Nacht zum Licht Kitsch. Und wenn ich dann - wie jedesmal - die ersten 50 bis 100 Seiten durchgehalten hatte (jeder Band umfasst gut 1000 Seiten), wandelte sich der Charakter zu einer sehr soliden, gut strukturierten und durchaus originellen Postapokalypse, die mich immer stärker in ihren Bann zog. Aber die ersten 100 Seiten waren jedesmal eine Qual^^ vielleicht bin ich auch nur zu empfindlich, was speziell amerikanischen Familienkitsch betrifft^^

Der erste Band schildert, wie die Menschheit auf dem nordamerikanischen Kontinent praktisch ausgelöscht wurde, im zweiten Band war der Überlebenskamp der verbliebenen Reste gegen einen übermächtigen Gegner Thema. Im dritten Band wird ersichtlich, dass nicht nur der nordamerikanische Kontinent, sondern praktisch die gesamte Erde menschenfrei ist und Nordamerika insofern "Glück" hatte, als das Virus, das überall sonst die Menschen ohne Ausnahme getötet hat, in Nordamerika so mutiert war, dass es die besagten Überlebenden gab, insgesamt aber kaum mehr als ursprünglich ein paar tausend Personen. Der dritte Band spielt etwa 100 Jahre nach den Ereignissen des zweiten Bandes und schildert, wie der Wiederaufbau in einer Katastrophe endete, weil das Virus entgegen aller Prognosen mitnichten aufgrund von Wirtsmangel ausgestorben ist. Letztlich gelingt nur etwa 500 Personen die Flucht aus Nordamerika, mithilfe eines gestrandeten Dampfers, der in mühevoller Kleinarbeit erst wieder flott gemacht werden musste. Die Flucht endet letztlich auf einer Insel im Pazifik, die offenbar menschen- und virusleer ist und zur Keimzelle der neuen Menschheit wird.

Das wirklich Interessante am dritten Band ist aber die Lebensgeschichte von Zero, des Wissenschaftlers, der den Virus entdeckte und sich als erster damit infizierte. Diese Geschichte wird in Rückblicken parallel zur eigentlichen Handlung erzählt und ist faszinierend.

Leseempfehlung für Liebhaber postapokalyptischer Literatur, die mit der Passagetrilogie nichts falsch machen können, sofern sie eine Portion Kitsch verkraften.

Ipsissimus
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Di 7. Mär 2017, 18:08 - Beitrag #816

Mathias Enard
Kompass

432 Seiten
Hanser Berlin; Auflage: 2 (22. August 2016)

Ein Mann, Franz Ritter, Musikwissenschaftler mit einem Faible für den Vorderen Orient, steht abends am Fenster seiner Wohnung und schaut über die hell erleuchteten Gassen Wiens; später in der Nacht wird er nicht schlafen können und Musik im Rundfunk hören, Österreich 2, es gibt Beethoven und Mendelssohn. Der Mann hat am zurückliegenden Tag zwei Hobsbotschaften erhalten, sein Arzt hat ihm eine unheilbare, tödliche Krankheit mitgeteilt, die ihn in baldiges Siechtum stürzen wird, außerdem hat er einen Brief von Sarah erhalten, einer langjährigen Freundin.

Mehr passiert nicht in diesen 432 Seiten, nicht an äußerer Geschichte. Der Rest sind Erinnerungen eines Musikwissenschaftlers an seine Reisen durch Europa und den Vorderen Orient, viele davon zusammen mit Sarah, einer Orientalistin und Spezialistin für das Makabre und Morbide in der iranischen Liebeslyrik. Warum genau der Brief Sarahs eine Hiobsbotschaft ist, wird nur sehr langsam, sehr zögerlich im Laufe der Berichte über unzählige gemeinsame Reisen, Kongresse und kleinere und größere Abenteuer klar.

Und diese Reiseerinnerungen borden über vor Wissen, ins Detail gehend, in die Breite gehend, in die Tiefe gehend, aber immer die Bezüge verfolgend, die zwischen der vorderorientalischen und der europäischen Kultur in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten geknüpft wurden, abgehandelt an den Themen Musik, Literatur und bildende Kunst. Aus den Erzählungen wird allmählich der Umriss einer ungeheueren Interdependenz sichtbar, die klar macht, dass die europäische Kultur seit dem 17. Jahhundert gar nicht verstanden werden kann, wenn man die ungeheuere Faszination fast aller führenden Protagonisten ihrer Künste für die Kunst des Vorderen Orients übersieht. Enard lässt dies in den Gesprächen zwischen Franz und Sarah anklingen und vertieft es in den späteren Reflexionen von Franz am Fenster und im Bett mit einer beinahe erschöpfenden Umfassendheit.

Es wird ziemlich ersichtlich, dass vor dem Hintergrund dieser Bezüge die Idee einer europäischen und nationalen Kunst obsolet ist; der Vordere Orient steckt überall drin und meistens als Impulsgeber. Es wird auch ersichtlich, dass diese Verbindungen der Idee europäischer Nationalstaaten diametral entgegengesetzt sind, diese Idee somit als ideologisches Konstrukt entlarvend.

Ein Buch, das gewinnbringend alle lesen können, die sich den Lauf der europäischen Kultur der letzten zwei bis drei Jahrhunderte erklären wollen, mit vielfältigen Anspielungen aber auch auf aktuelle politische Entwicklungen und die Bezieung zwischen den Religionen. Und natürlich mit jeder Menge SPitzen gegen Musikwissenschaftler und Orientalisten. Das meiste Vergnügen werden aber Leute daran haben, die sich in diesen Kunstbereichen auskennen, die werden danach den entsprechenden Teil der Welt möglicherweise mit anderen Augen sehen, wenn diese Augen nicht schon vorher geöffnet waren.

Lykurg
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Sa 11. Mär 2017, 13:53 - Beitrag #817

Das klingt sehr spannend, Ipsissimus - habe ich auf meine Leseliste gesetzt!

Ipsissimus
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Di 25. Apr 2017, 15:38 - Beitrag #818

Denis Johnson
Ein gerader Rauch

Rowohlt E-Book, Mai 2014
Bettina Abarbanell (deutsche Übersetzung)

Das Buch erzählt die Geschichte von vier Männern und einer Frau über einen Zeitraum, der mit der Ermordung Kennedys beginnt und im Wesentlichen mit dem Ende des Vietnam-Krieges endet; ein kleiner Überhang erzählt, wie es nach dem Krieg weitergeht, aber nur noch in sehr knapper Form.

Die Männer sind im Umkreis der CIA beheimatet, mit einer Ausnahme allerdings in Positionen, die merkwürdig halbseiden wirken; der Roman hat nichts, aber auch gar nichts, was an einen Agententhriller gemahnen könnte. Johnson nimmt vielmehr die Idee des amerikanischen Helden aufs Korn und spießt sie auf. Es sind Feldagenten im Vietnamkrieg, die um ihren Einsatzleiter, den "Colonel", positioniert sind und von diesem dadurch geschützt werden, dass er sie mit unwichtiger und teilweise absurder Arbeit beauftragt, die die Männer weitab von allem Frontgeschehen halten soll, ein Plan, der weitgehend aufgeht, aber immer wieder durch die Ambitionen und die zunehmende Ratlosigkeit und Verstörtheit der Männer in Frage gestellt wird, ehe am Ende mehr oder weniger alles zusammenbricht. Die Frau ist eine Siebten-Tags-Adventistin, die im Laufe des Romans als Angehörige mehrerer Hilfsorganisationen die Hölle des Vietnamkrieges hautnah miterlebt und darüber ihren Glauben verliert.

Ein für sein Thema sehr leiser, aber um so nachdrücklicher Roman, der die großen Gräuel in Kontext der kleinen menschlichen Unzulänglichkeiten abhandelt, ein Roman, der zeigt, welche unwahrscheinlichen persönlichen Konstellationen sich im Krieg ergeben können und wie brüchig sie sind. Nobelpreisverdächtig.

Lykurg
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Fr 28. Apr 2017, 15:39 - Beitrag #819

Klingt faszinierend - und erinnert mich von der Beschreibung her ganz entfernt auch an Shibumi, das du ganz zu Anfang meiner Matrixzeit mal empfohlen hattest und ich inzwischen endlich lesen konnte - mehr noch an Don Winslows Satori, dessen Fortsetzung von fremder Hand (da Trevanian (=Rodney Whitaker) 2005 starb). Dort geht es am Rande auch um den Vietnamkrieg, in ähnlich bitterböser Weise das Wirken von Geheimdiensten und westlicher Politik beurteilend wie in Shibumi. Don Winslow hat Trevanians Ton sehr genau getroffen, und die Handlung fügt sich so genau in die Lücken ein, daß die beiden Romane weitgehend eine Einheit bilden, die es mir erschwert, sie wieder voneinander zu trennen... Falls du es nicht kennst, Ipsissimus, eine deutliche Empfehlung, wenn auch stellenweise sicher Nuancen unter der Vorlage - trotzdem ein starkes Buch.

Ipsissimus
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Mo 1. Mai 2017, 19:41 - Beitrag #820

"Satori" ist mir bekannt, Lykurg, es war iirc der erste Roman von Winslow, den ich überhaupt gelesen hatte, und ich teile deine Einschätzung. Obwohl als eigenständiger Roman völlig allein lebensfähig, ist Satori als Stilkopie fast unglaublich.

Aber "Ein gerader Rauch" hat wenig damit zu tun, außer vielleicht ein paar Locations. Shibumi und Satori sind beides Heldengeschichten, egal wie man diesen Helden bewerten will^^ der Rauch ist ... schwer zu sagen, was der Rauch ist^^ jedenfalls keine Heldengeschichte. Vielleicht eine Abrechnung mit der amerikanischen Seele, vorgeführt anhand der Verwüstungen in amerikanischen Psychen. Eher eine Art "Who is afraid of Virginia Woolfe", aber ohne die Klimax, die Verwüstungen sind schon zu groß, als dass sie das noch zulassen. Aber ich tue mir schwer mit einer wirklich angemessenen Charakterisierung, und vielleicht sage ich daher nur noch, dass es ein verdammt großartiger Roman ist, wenn man nicht in der Erwartung eines Thrillers daran geht, das ist er definitiv nicht.

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