Welches Buch lest ihr gerade? (II)

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
kaesehoch
Newbie
Newbie

 
Beiträge: 4
Registriert: 31.05.2017
Do 1. Jun 2017, 15:52 - Beitrag #821

Fettlogik überwinden von Nadja Hermann. Hört sich nach einem Marketing-Gag an ist aber echt toll geschrieben mit massig Informationen.

luftikus
Newbie
Newbie

 
Beiträge: 4
Registriert: 31.08.2017
Do 31. Aug 2017, 19:17 - Beitrag #822

Ich lese sehr gerne Biografien, aber zurzeit lese ich das Buch “ Der Junge der Träume schenkte“ von Luca di Fulvio, ist ein sehr schöner Roman, auch hat es mir das Buch “Jacob beschliesst zu lieben“ angetan und will es mir demnächst unbedingt zulegen.

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Do 16. Nov 2017, 10:05 - Beitrag #823

Über ein paar Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen und gut gefunden hab.

Für Fantasyinteressierte kann ich die Mistborn-Trilogie von Sanderson und die Bartimaeus-Trilogie von Stroud empfehlen. Letztere spielt in einem urbanen Setting in einem verzerrten 20. Jahrhundert: Magier beherrschen schon seit langem mittels Dämonen/Geistwesen die Welt. Die Kapitel sind (zunächst) immer abwechselnd aus Sicht des Dämons Bartimäus und seines Beschwörers, einem zu jungen Magier namens Nathaniel, geschrieben. Die Romane beschrieben eine dunkle und zynische Welt, was durch die Ironie und den Humor in Bartimäus' Sprache schön durchbrochen wird (und die mich wiederholt tatsächlich zum Lachen gebracht hat). Angesichts des Alters des nicht-dämonischen Protagonisten kann man die Reihe vielleicht als Young-Adult-Literatur einordnen, sie hat aber auch auf mich als 28jährigen einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Für Rom-Interessierte: Die Cicero-Trilogie (Imperium, Lustrum, Dictator) von Robert Harris und Augustus von Williams bilden eine sehr schöne Kombination, da letzteres Werk gerade ein wenig vor Ciceros Tod einsetzt (dem Schlusspunkt von Harris' Trilogie), die Ereignisse aber aus einer anderen Perspektive beschreibt. Harris schafft es auf verblüffende Weise eine im Grunde recht nüchtern und kunstlose Schilderung von Ciceros Leben (aus Sicht seines Sekretärs und Sklaven) über drei Bände äußerst spannend zu halten, ohne sich jemals weit von den bekannten Tatsachen zu entfernen. Williams geht etwas literarisch anspruchsvoller vor und wählt die Form eines Briefromans. Alle vier Romane hab ich als Hörbücher konsumiert und die Lesungen sind exzellent. Zu Cicero möchte ich noch sagen, dass er mich immer wieder an Thomas Jefferson erinnert hat, der in Charlottesville (wo ich mehr als zwei Jahre gewohnt hab) so omnipräsent war, dass man kaum umhin kaum, sich mit ihm auseinanderzusetzen; insbesondere die Kombination aus bewunderungswürdigen Eigenschaften und mehr oder minder subtiler Heuchelei, die mir nie erlaubt hat, einen der beiden sympathisch zu finden.

Geschichte in nicht Rom- oder Romanform findet man auch in Why the West Rules von Morris. Der Aufhänger hat etwas Polemisches, aber Morris benutzt diesen Aufhänger um durch die gesamte Geschichte der menschlichen Kultur, zumindest in den geographischen Regionen, die aus den Keimzellen von Hochkultur im nahen Osten und in China hervorgegangen sind. Besonders interessant ist seine generelle Darlegung der Prinzipien, wie Kulturen niedergehen, und wie er sie auf verschiedenste Beispiele durch die Geschichte anwendet. Es tut gut, geradezu die gesamte Geschichte von Westen und Osten in einer solchen Geschlossenheit dargestellt zu sehen. Schwachpunkte gibt es natürlich auch: Morris nimmt seinen Index zur Messung des Entwicklungsstands von Kulturen etwas zu ernst (auch wenn er als grober Indikator durchaus seine Berechtigung hat). Auch seltsam mutet an, dass er im Kapitel über die Zukunft zwar durchaus interessanten Spekulationen frönt, die aber fast keinerlei Zusammenhang zum restlichen Buch haben. Wofür ist all die Geschichte da, wenn nicht um daraus Lehren zu ziehen? Lohnenswert ist das Buch aber allemal.

Wo wir gerade bei Sachbüchern sind: Ich habe vor kurzem den philosophischen Autor Lee Braver für mich entdeckt, und von ihm Groundless Grounds gelesen und bin gerade mitten in seinem A thing of this world. Seine offene Mission ist es, die Schulen von kontinentaler Philosophie (Kant, Hegel, Husserl, Heidegger, Foucault, Derrida, ...) und analytischer Philosophie (Russell, Wittgenstein (?), Quine, Putnam, Davidson, ...) näher zu bringen. In 'Groundless Grounds' schreibt er hierzu über den späten Wittgenstein (mit seinem Hauptwerk, den 'Philosophischen Untersuchungen') und den frühen Heidegger (insbesondere 'Sein und Zeit') und stellt die erstaunlichen Gemeinsamkeiten heraus. Bravers große Stärke ist die Klarheit, mit der er schreibt; er versucht wirklich, die Schriften zu durchdenken und so verständlich wie möglich darzustellen (auch wenn er es mitunter fast schon in zu großer Breite tut). Es scheinen natürlich auch seine eigenen Ansichten durch, eine Art von Commonsense-Antirealismus in der Schnittmenge von Wittgenstein, Heidegger und manchen anderen Philosophen; insgesamt ist es eben nicht nur ein Werk über Philosophiegeschichte, sondern auch über Philosophie selbst. In 'A thing of this world' nimmt eben dieser Antirealismus die Hauptstelle ein und er verfolgt ihn durch die Geschichte mit Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger, Foucault und Derrida. Dazu kann ich später sicher mehr sagen, wenn ich das Werk fertig gelesen habe.
[Um auf einen früheren Beitrag von Ipsissimus Bezug zu nehmen: Sicher war Heidegger kein Demokrat und der Aufklärung konnte er wenig abgewinnen; auch ein Mystizismusvorwurf ist weder überraschend noch ganz unberechtigt. Wenn man ihn aber zu einer Art Staatsphilosophen der Nationalsozialisten machen will, liegt das vielleicht auch darin begründet, dass man findet, was man finden will. Wie das Auffinden neuer Hefte ein ganzes philosophisches Gesamtwerk nichtig machen können, ist mir unklar. Ich halte es für wichtig, gerade auch Denker, die weit wenig vom gewöhnlichen intellektuellen Einheitsdiskurs entfernt sind, den nötigen Ernst entgegenzubringen.]

Ich könnte noch einige Werke mehr nennen (beispielsweise Houellebecqs Unterwerfung fand ich sehr interessant). Auf jeden Fall möchte ich aber McEwan's Kindeswohl hervorheben; selten habe ich einen so rührenden Roman gelesen, selten einen so unaufdringlich-kunstvoll komponierten. Hauptgegenstand der Handlung ist ein Prozess darum, ob Eltern ihrem Kind eine Bluttransfusion aus religiösen Gründen verweigern können, erzählt aus der Sicht der Richterin, aber es ist keineswegs ein typischer Gerichtsroman. Allein schon, um das hervorzuheben, möchte ich gerade auf Leuten, die die emotionale Kraft von Musik zu würdigen wissen, diesen Roman ans Herz legen.

e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
Do 16. Nov 2017, 14:05 - Beitrag #824

Zitat von Padreic:Für Fantasyinteressierte kann ich die Mistborn-Trilogie von Sanderson und die Bartimaeus-Trilogie von Stroud empfehlen. Letztere spielt in einem urbanen Setting in einem verzerrten 20. Jahrhundert: Magier beherrschen schon seit langem mittels Dämonen/Geistwesen die Welt. Die Kapitel sind (zunächst) immer abwechselnd aus Sicht des Dämons Bartimäus und seines Beschwörers, einem zu jungen Magier namens Nathaniel, geschrieben. Die Romane beschrieben eine dunkle und zynische Welt, was durch die Ironie und den Humor in Bartimäus' Sprache schön durchbrochen wird (und die mich wiederholt tatsächlich zum Lachen gebracht hat). Angesichts des Alters des nicht-dämonischen Protagonisten kann man die Reihe vielleicht als Young-Adult-Literatur einordnen, sie hat aber auch auf mich als 28jährigen einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Die Mistborn-Trilogie habe ich auch zuletzt gelesen, fand aber jeweils die ersten 300 Seiten von jedem Band eher öde. Außerdem habe ich ein grundlegendes Problem mit Fantasy, seit ich "Der Name des Windes" gelesen habe: Die Sprache ist so klischeehaft. In "Der Name des Windes" sind viele Sätze lyrisch, wohldurchdacht, charakterisierend, ohne pauschal zu wirken (obwohl auch dort Klischees bedient werden, aber auf angenehme Weise); ein Großteil der restlichen Fantasy ist rein handlungsfixiert und innerhalb dessen oft auch noch rein hüpf-prügel-schlacht- und magiefixiert. Sehr repetitiv nach einer Weile.

Bartimäus war da tatsächlich eine angenehme Abwechslung! Habe ich zwar noch als Teenie gelesen, aber in guter Erinnerung (nicht herausragend allerdings).

Die letzte Fantasyserie, die es mir (nach einigen Dutzend Seiten) angetan hat, war "Das Lied des Blutes", der erste Band der Rabenschatten-Reihe (oder andersherum? egal).

Letztes Buch, das ich angefangen habe: Viet Thanh Nguyen - "Der Sympathisant". Für bildungsbeflissene Sprachliebhaber, die gerne mal den Vietnamkrieg aus Sicht eines kommunistischen Maulwurfs kennenlernen würden. Einiges ist fiktiv, aber die grundlegende Zerissenheit des namenlosen Protagonisten, der mal als Eurasier, mal als Amerasier, mal schlicht als Bastard bezeichnet wird.

Allerdings hatten nicht sie den Eurasier erfunden. Das können
die Engländer in Indien für sich beanspruchen, die es ebenfalls
nicht lassen konnten, an dunkler Schokolade zu knabbern.
Wie die tropenhelmbewehrten Anglos konnte auch das
Amerikanische Expeditionskorps im Pazifik den Versuchungen
der Einheimischen nicht widerstehen. Auch sie erfanden ein
Kofferwort, um meinesgleichen zu beschreiben, das des Amerasiers.
Obwohl in meinem Fall unzutreffend, konnte ich den
Amerikanern kaum vorwerfen, dass sie mich fälschlicherweise
für einen der Ihren hielten. Schließlich konnte man aus den
tropischen Nachkommen der amerikanischen GIs eine kleine
Nation gründen. GI stand für Government Issue, also »von der
Regierung ausgegeben«, und das sind die Amerasier ja schließ-
lich auch. Meine Landsleute zogen Euphemismen Akronymen
vor und nannten Menschen wie mich den Staub des Lebens.


Edit: Unbedingt auf Englisch lesen! Man merkt es hier schon (Government Issue - issued by the Government") - die Wortspiele und Vieldeutigkeiten gehen im Deutschen zwangsläufig verloren, die Übersetzung ist auch nicht so gut - insbesondere die Reflexionen auf das Wort "Mole" (Maulwurf/Spion und Muttermal) führen im Deutschen zu merkwürdigen Sprachverrenkungen.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Fr 17. Nov 2017, 22:02 - Beitrag #825

Haupt-Leseprojekt der letzten Monate, gattungsbedingt mit vielen, vielen Unterbrechungen: Harlan Ellison's SF-Anthologien "Dangerous Visions" und "Again, Dangerous Visions" (letzteres in 2 Bänden) von 1967 bzw. 1972. Der damalige Anspruch war, Geschichten erstzuveröffentlichen, die zu "gefährlich" für die Mainstream-Magazine und -Verlage waren, sei es durch Stil (manche durchaus konventionell, manche eher pseudoavantgardistischer Sondermüll, manche aber lesen sich auch heute noch ungewohnt frisch), Themen (von Drogen über ökologische Katastrophen, Frauenrechte, Homosexualität und Inzest bis zu grausigen Morden und Kommunismus) oder Person der Autoren. Am besten gehalten haben sich mit wenigen Ausnahmen aber vor allem die Geschichten, die nicht gewollt auf Tabuverletzungen aus sind, oder bei denen solche zwar vorkommen, die eigentlichen Stärken aber im literarischen Können der Autoren oder dem Worldbuilding liegen.
Die längsten Einzelstücke sind im Originalband PJ Farmers "Riders of the Purple Wage", eine konfuse Mischung aus Proto-Cyberpunk und, äh, "etwas, das im Wesentlichen", aber durchaus erinnerungswert; und in "Again" dann Ursula K. LeGuins "The Word for World is Forest" über die faschistische Kolonisierung eines Naturparadies-Planeten - etwas holzhammerig, aber großartig. Ansonsten am stärksten, neben einigen Kürzestform-Perlen, fand ich u.a.:
DV: "Faith of Our Fathers" von Philip K. Dick (cthulhoide Unterwanderung der weltweit herrschenden chinesischen KP) und "Eutopia" von Poul Anderson (saubere Parallelweltgeschichte, bei der der (für heute harmlose) Tabubruch zwar als großes Endwendungs-Gimmick herhalten muss und lange vorhersehbar ist, was dem Rest der Geschichte aber nicht schadet)
ADV1: "The Funeral" von Kate Wilhelm, extrem atmosphärestarke und mysteriöse Postapokalypse, "When It Changed" von Joanna Russ (hätte ein extrem peinliches feministisches Vehikel werden können, ist aber wirklich gut gemacht), "Stoned Counsel" von H.H. Hollis (Zukunft des Gerichtsprozesses als Cyber-Mind-Space-Battle drogenvollgepumpter Anwälte, grotesk).
ADV2: "And the Sea Like Mirrors" von Gregory Benford über eine ökologisch ungewöhnliche Alien-Invasion, bei der die "Dangerousness" aber eher im Verhältnis der menschlichen Figuren zueinander liegt; ansonsten noch ca 2/3 des Bandes übrig.

Die "ThirdFinal Dangerous Visions" sind wohl seit Jahrzehnten das große traditionelle "reden wir nicht darüber"-Thema der SF-Szene...

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Sa 18. Nov 2017, 11:35 - Beitrag #826

Klingt gut! Ich hatte kürzlich bei einer Freundin ebenfalls einen reizvollen SF-Sammelband unter den Fingern, in dem es um apokalyptische SF ging (und angesichts dieses quasi omnipräsenten Themas auch einen breiten Überblick bieten konnte). Genauere Titeldetails müßte ich nochmal recherchieren, hatte auch nur bedingt Zeit zur Lektüre.

Ein neugewonnener Liebling im letzten Jahr war wieder ein Parallelwelt/Fanfiction-Roman - und zwar
Eliezer Yudkowsky: Harry Potter and the Methods of Rationality
Ausgehend von ein paar grundlegenden Änderungen in der Geschichte - vor allem Harrys liebevolles und wissensenthusiastisches Elternhaus betreffend, aber auch einige andere Figuren interessant, durchaus im Sinne des Universums gebrochen - zeigt das Buch, was das Auftauchen von Wissenschaft in Hogwarts bewirken kann. Eingebettet in die Handlung sind eine Reihe von klassischen psychologischen Experimenten, wobei die Kapitelthemen teilweise bezogen auf eine ganze Reihe von Figuren erstaunlich gut funktionieren. Der Autor ist offensichtlich intensiver Kenner von tvtropes und spielt virtuos mit Erwartungen, die natürlich durch die Vorprägung der Originalserie noch einen zusätzlichen Boden gewinnen. Bei der erzählerischen Geraderückung einiger Ereignisse innerhalb der Serie ergeben sich ganz wundervoll ironische Randbemerkungen. Nebenbei wird fröhlich aus zeitgenössischer Literatur, vor allem SF, zitiert, insbesondere Ender's Game - ein bißchen überpräsent vielleicht, aber passend verwendet. Generell für mich ein Leseerlebnis, das weit über eine Neuvergegenwärtigung der Originalreihe hinausgeht...

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Sa 18. Nov 2017, 12:12 - Beitrag #827

Naja, so mittelgut, der "pseudoavantgardistische Sondermüll" füllt halt doch schon so die Hälfte der Bände. Die Gesamtlektüre ist eher nur aus historischem und genreanalytischem Interesse zu empfehlen, wenn du eine hohe gute-SF-pro-Seite-Quote anstrebst, such lieber die erwähnten Geschichten einzeln auf und/oder lies andere Sammlungen.

Den rationalen Potter hat iirc auch Kalessin gelesen.

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Sa 18. Nov 2017, 23:13 - Beitrag #828

@e-noon: 'Der Name des Windes' ist natürlich großartig erzählt und die Mistborn-Trilogie ist mir tatsächlich sprachlich nicht in Erinnerung geblieben. Wenn die Handlung und der Weltenbau gut genug sind, können sie aber für mich einen Roman völlig tragen (und der Langeweile entheben), wenn er zumindest flüssig und klar erzählt ist und die Charaktere glaubwürdig sind; viel leichter jedenfalls als die schönste Sprache einen Roman mit dürftiger Handlung. Ich stimme aber zu, dass zu viel Fantasy repititiv wirken kann und deswegen versuche ich auch die Genres beim Lesen gut rotieren zu lassen.

Die Qualität auch rotieren zu lassen, versuche ich normalerweise zu vermeiden, ist mir aber neulich mit "The Majesty's Dragon" von Novik geglückt (gepecht?) - ein gutes Beispiel, wo die Welt mir attraktiv erschien und es auch gut erzählt wurde, die Schablonenhaftigkeit von Charakteren und Handlung es mir aber gründlich vermiest haben.

Lykurg
[ohne Titel]
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 6865
Registriert: 02.09.2005
Sa 18. Nov 2017, 23:47 - Beitrag #829

Die Besprechung habe ich übrigens durchaus nicht übersehen - "Imperium" hatte ich eigentlich schon lange im Auge, "Augustus" klingt nach einer spannenden Ergänzung. Passend zum Umschalten von Luther auf Winckelmann...
Der Name des Windes läßt mich sehr zwiegespalten. Ich war fasziniert von der Erzählweise, teils sehr angesprochen von der sprachlichen Schönheit, aber teilweise wirken die Episoden auf mich nicht wirklich ausgeformt. Schwer zu sagen, wie sich das mit dem letzten Band erklären wird, ohnehin natürlich was die Erzählsituation angeht - scheint so, als wäre nach drei Vierteln des Textes höchstens die Hälfte der Geschichte erzählt. Ein Grund mehr, keine unabgeschlossenen Serien anzufangen... Habt ihr eigentlich die beiden Spinoffs gelesen? Das Buch über Auri soll ja auch sehr schön sein...

e-noon
Sterbliche
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4576
Registriert: 05.10.2004
So 19. Nov 2017, 20:44 - Beitrag #830

@Padreic: Ich bin froh, dass du das mit der Sprache auch so siehst :D Fandest du die Handlung denn dürftig?

@Lykurg: Das episodenhafte fiel mir eher im zweiten Band auf. Aber es stimmt schon.
Ich vermute, dass Rothfuss gemerkt hat, dass er noch drei Bände anhängen muss, wenn er im jetzt angekommen ist... und dass ihn das abschreckt :D

Der zweite Band ist ja nur in Deutschland in zwei Büchern erschienen, also haben wir in 2/3 erst die Hälfte der Geschichte erzählt bekommen.

Padreic
Lebende Legende
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4485
Registriert: 11.02.2001
Di 5. Dez 2017, 00:53 - Beitrag #831

@e-noon: Nein, die Handlung fand ich keineswegs dürftig. Das Konzept eines Âventiuren-basierten Bildungsroman hat mir gut gefallen und auch das Ineinandergreifen von Erzählung und Rahmenhandlung. Wie das alles zusammengeführt wird, bleibt für mich aber noch sehr offen. Ich hoffe, ich habe bis zum Erscheinen des dritten Bandes noch nicht die Lust daran verloren. Worauf man lange wartet, wird nicht immer besser. Die Spin-Offs habe ich mir nicht zu Gemüte geführt; ich fand aber auch Kvothe als Charakter interessanter als Auri.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Mi 6. Dez 2017, 22:06 - Beitrag #832

Inzwischen bin ich mit den Again-Visionen auch mal fertig. Nicht nur dem Titel, sondern auch dem Gesamtumfang nach am längsten im zweiten Band ist "With the Bentfin Boomer Boys on Little Old New Alabama" von Richard Lupoff, ein stilistisch chaotisches Episodenwerk über einen Rassenkrieg zwischen den Kolonieplaneten New Alabama und New Haiti. Der Alabama-Slang ist dabei anfangs kaum zu entziffern, man gewöhnt sich aber überraschend schnell dran, und die Gegenüberstellung mit der gewählten Diktion der Haitianer ist dann der stärkste Aspekt der Dekonstruktion üblicher Überlegenheitsgefühle. Wenn dann Voodoo auftaucht, ist aber nicht mehr klar, was Dekonstruktion und was Fortschreibung von Klischees ist. Erinnerungswürdig, aber anstrengend und letztlich schwer zu bewerten. ("Bentfin Boomer" aus dem Titel ist dabei der Slangausdruck, der sich mir am hartnäckigsten nicht erschließt. Anscheinend eine Art militärisches Abzeichen oder ein Uniformteil...?)
Ansonsten blieb der zweite Teilband eher schwach, immerhin habe ich aber Lust auf mehr Material von James Tiptree Jr bekommen, die die Sammlung mit einer erzählerisch etwas hingeschluderten, aber atmosphärisch verstörenden und vom Worldbuilding her vielversprechenden Geschichte abschließt. "Tiptree is the man to beat this year. Kate Wilhelm is the woman to beat this year, but Tiptree is the man." schrieb Ellison, die Geschichte sollte ihm Unrecht geben.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 12. Dez 2017, 14:06 - Beitrag #833

Andreas Pflüger
Endgültig

Suhrkamp Verlag, 2017

Der Suhrkamp-Verlag veröffentlicht einen Krimi. Das war über Jahrzehnte hinweg so undenkbar wie Pornographie im Herder-Verlag, endsprechend hoch waren meine Erwartungen an das Buch. Pflüger hat diese Erwartungen mühelos übertroffen. Es ist schlicht der intelligenteste Krimi, den ich je gelesen habe. Und gehört sicher zu den Top 3 der spannendsten Krimis, die ich kenne.

Es mag sich vielleicht jemand am fraglichen Realismus der Geschichte stören. Die Protagonistin, Jennifer Aaron, ist eine blinde Polizistin, Angehörige einer geheimen Sondereinheit der deutschen Bundesinnenminister-Konferenz, deren Fähigkeiten einen James Bond vor existentielle Probleme stellen würden. Aber wie das verpackt ist, und wie das Duell mit ihrem dunklen Zwilling sich immer mehr von Äußerlichkeiten in den Kern einer Problematik hineingräbt, in der körperliche und intellektuelle Fähigkeiten nur noch reine Beigabe sind und stattdessen die Frage immer wichtiger wird, was für ein Mensch ist Jenny, was für ein Mensch ist Holm, ihr Widerpart, und was für Menschen sind die anderen Leute aus der Sondereinheit, das ist irre.

Leseempfehlung, aber nehmt euch nichts vor, wenn ihr begonnen habt zu lesen^^

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Mi 20. Dez 2017, 20:16 - Beitrag #834

Zitat von Ipsissimus:so weit ich weiß ist derzeit nichts von Fortsetzungen bekannt; dass 2034 ein eigentliches Ende habe, lässt sich aber genausowenig sagen wie bei 2033. Die jeweiligen Enden sind jedenfalls so konzipiert, dass mühelos beliebig viele weitere Romane drangehängt werden können. Von daher, möglich ist alles^^

Der Umstand, dass ich mich durch den 2ten Band auch noch durchgequält habe, ist wahrscheinlich nur auf ein irregeleitetes Gefühl von Interesse an dem Szenario zurückzuführen^^ ich liebe apokalyptische Szenarien, aber zumindest haben mich die beiden Bände gelehrt, dass ein Szenario noch keine Erzählung ist^^


lalallallalalalalaaaaa

ohne mich^^

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
So 20. Mai 2018, 18:36 - Beitrag #835

Nach den hier zuletzt vermerkten Gefährlichen Visionen:

Guy Delisle - Burma Chronicles
Weitere Expat-Comic-Episoden des Autors von "Pyongyang" und "Shenzhen" über den Alltag in einem weitgehend abgeschotteten Land. Wieder atmosphärisch stark, mit vielen amüsant abstrusen Szenen, und mit mehr interessanten politischen Schlaglichtern als in China aber weniger als in Nordkorea. Viele Rezensenten werfen ihm hier wieder neokolonialistische Blasiertheit und Ignoranz den Einheimischen gegenüber vor, aber ich bin inzwischen ziemlich überzeugt, dass er genau diese Makel bei sich selbst wie bei seinen Expat-"Schicksalsgenossen" sehr bewusst wahrgenommen hat und durch ihre quasi-dokumentarische Darstellung zu ihrer kritischen Verarbeitung anregen will, ohne sich selbst in ein künstlich gutes Licht zu rücken.

Kelly&Zach Weinersmith - Soonish: Ten Emerging Technologies That'll Improve and/or Ruin Everything
Biologin und Web-Cartoonist schreiben populärwissenschaftliches Buch über Zukunftstechnologien. Leider nicht ganz so lustig, wie zu erhoffen war, oder wie es Kollege Munroe mit "What If?" geschafft hat; und mit einer nicht immer gelungenen Balance aus Verständlichkeit und Detailtiefe. Aber nette Episodenlektüre insegsamt.

Wolfgang Herrndorf - Tschick
Auf Empfehlung von iirc Feuerkopf+X hier. Natürlich merkt man der Sprache deutlich an, dass ein zu alter Autor sie in mühevoller Kleinarbeit auf moderne Jugend getrimmt hat, so richtig glaubwürdig ist sie letztlich einfach nicht. Aber auch beileibe nicht so bemüht peinlich, wie man es hätte befürchten können, und letztlich durchaus brauchbar. Und natürlich ist die Handlung nach dem Baukastenprinzip aus Versatzstücken anderer Jugendliteratur und -filme zusammengebaut. Aber Tschick ist eine herrliche Figur und das Gesamtprodukt liest sich flott und abwechslungsreich genug.

Lao She - Cat Country
Chinesische "Science Fiction" von 1932, de factor vor allem politische und soziale Satire. Aus dem prosperierenden China der Zukunft reist der Erzähler zum Mars, wo er eine verfallende Gesellschaft von Katzenmenschen vorfindet, die in vielem dem alten schlechten China gleicht. Das Erzählformat ist das einer klassischen "planetary romance" mit mäßig motiverter Reise kreuz und quer durchs fremde Land und allmähliches Kennenlernen der lokalen Unsitten, dadurch nicht sonderlich spannend oder gar mitreißend zu lesen. Aber die Absurdidät der kreuzdämlichen Katzen-Traditionen und Verhaltensweisen ist herrlich, und auch ohne allzu tiefe Kenntnisse des realen Chinas ist leicht zu erkennen, wie böse und treffend all das war und teilweise noch immer ist. Die englische Übersetzung, obwohl anscheinend von einem sehr renommierten Sinologen fabriziert, gereicht dabei der sprachlichen Qualität des Originals mutmaßlich nicht zur vollen Ehre, hat teilweise doch etwas sehr seltsame Wortvorlieben und gestelzte Passagen. Ob es eine gute deutsche Fassung gibt, weiß ich nicht. Ach ja, und Katzenliebhaber sollten von vornherein zur Dissoziation bereit sein, diese Katzenmarsianer als außer in Faulheit, Selbstsucht und Gemeinheit in keinster Weise mit echten Katzen vergleichbar zu deklarieren.

Philipp José Farmer - Prometheus
(Kurzgeschichtensammlung, gelesen deutsche Fassung Goldmann 1977, Original "Down in the Black Gang" (1971)). Sehr schwankende Qualität, und nachdem ich von Farmer zuletzt das äußerst avantgardistische "Riders of the Purple Wage" in "Dangerous Visions" gelesen hatte, ein massiver Qualitäts- und Innovativitäts-Abfall demgegenüber. Manches davon mag aber auch der für diese Zeit leider so typischen Hölzernheit der deutschen Übersetzung geschuldet sein.
Zu den Geschichten: "Prometheus" ist eine geradezu schockierend altmodische und naive Erstkontakt-Geschichte (mit intelligenten Laufvögeln), bei der ich nur hoffen kann, dass der Übersetzer einen parodistischen Subtext völlig verpennt hat. "Programmierte Ausweglosigkeit" ("Down in the black gang") über das gesamte Universum als ein durch psychische Energie angetriebenes Schiff hat wenigstens die avantgardistischen Anklänge wie "Purple Wage", ist aber narrativ öde und sprachlich zumindest auf Deutsch auch eher doof-seltsam als großartig-seltsam. "Die Gotteslästerer" ("The Blasphemers") ist die beste Geschichte des Bandes, über die Kollision von Weltraum-Expansionismus, Clan-Traditionen und Teenager-Ennui in einer Alien-Gesellschaft. "Außerhalb von Raum und Zeit" ("The Shadow of Space") ist wieder sehr bemüht avantgardistisch, über einen Raumflug außerhalb von Raum und Zeit; leidet aber unter völlig platten Figuren und übelstem Misogynismus. "Eine Schüssel, größer als die Erde" ("A Bowl Bigger than Earth") war wohl publizistisch die Proto-Riverworld; somit vom Rahmen her interessant, ist aber wiederum narrativ so unterentwickelt, dass es alleinstehend nicht viel mehr hergibt, als eine reine Zusammenfassung des Gedankenexperiments an sich es täte.

AfroSF: Science Fiction by African Writers
Kurzgeschichtensammlung mit dem Anspruch, als "first pan-African collection" eine ungewöhnliche Perspektive ins Genre zu bringen. Leider ist Südafrika massiv überrepräsentiert, wodurch die Stimmenvielfalt doch zu wünschen übrig lässt, aber ja, es kommen durchaus ungewohnte Ideen auf. Die Qualität schwankt stark, auch da viele Beiträge Erstlingswerke der jeweiligen Autoren sind, aber ingesamt durchaus einen Blick wert.

Mary Shelley - Frankenstein
Klassiker des Horror-Genres? Ich denke, die Literaturkritik und -geschichtswissenschaft haben diesem Werk stets Unrecht getan, indem sie seine herausragenden Qualitäten als Reiseführer und Werbebroschüre für den Genfer See und Umgebung nicht genug würdigten!
Ansonsten eine Kombination der schlimmsten und besten Aspekte der Romantik und verwandter Stil- und Denkrichtungen, ähnlich wie im Deutschen viele Frühwerke von Goethe und Schiller: Victor F. selbst ist oft ein so unerträglich gefühliger Schwafler, dass er sich bestens mit Werther oder den Emos der 2000er Jahre verstanden hätte, und die Dialoge sind meist peinlich gestelzt und unglaubwürdig. Aber andererseits ist Shelleys blumige, emotionale und doch stets klare und kohärente Sprache auch immer wieder großartig darin, Beschreibungen nicht nur von Landschaften, sondern auch von Schicksal, Schuld und eben Emotionen auf eine gewisse Erhabenheit zu hieven.

Feuerkopf
Moderatorin
Moderatorin

Benutzeravatar
 
Beiträge: 5707
Registriert: 30.12.2000
Di 22. Mai 2018, 11:38 - Beitrag #836

"Die Lange Erde" von Terry Pratchett und Stephen Baker.

Die Menschen stellen plötzlich fest, dass es neben der Erde (später "Datum" genannt) noch unendlich viele Parallel-Erden gibt, die sich - je weiter man "nach außen" geht, deutlich von der uns bekannten Erde unterscheiden. Im ersten Band ist der Pratchett-Anteil noch spürbar, ein schräger Humor zieht sich durch die Dialoge und Charaktere.
Im zweiten Band "Der Lange Krieg", einige Zeit nach Band 1 angesiedelt, werden die Nachbar-Erden weiter erkundet, das Personal wird erweitert und es entstehen neue Handlungsstränge. Der Ton ist ernster; herrschte zu Anfang der Geschichte Aufbruchstimmung, so geht es nun in Richtung Dystopie.

Mir gefällt die Idee des Multiversums und ich bin begeistert von den Figuren und Geschichten. Und es gibt jede Menge starke Frauenfiguren, was in diesem Genre nicht unbedingt selbstverständlich ist.

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Di 22. Mai 2018, 21:46 - Beitrag #837

Die beiden Bände habe ich vor längerem auf Englisch gelesen, fand den ersten noch nett aber nicht genug aus dem Thema herausholend, den zweiten dann noch deutlich abfallend, die restlichen 2 (mittlerweile noch mehr...?) Bände habe ich mir dann gespart.

Zitat von Feuerkopf:Und es gibt jede Menge starke Frauenfiguren, was in diesem Genre nicht unbedingt selbstverständlich ist.
Hm, ich erinnere mich nur noch vage an eine, die Springerin, die dem Hauptcharakter überlegen zu sein scheint...? Ach nein, da war auch noch eine Nonne...?

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Sa 10. Nov 2018, 22:33 - Beitrag #838

Terry Pratchett - The Last Continent
Wie ich es noch von der deutschen Version vor Ewigkeiten in Erinnerung hatte: einer der lustigsten Scheibenwelt-Bände, aber auch einer der handlungsschwächsten. Im Nachhinein ist mir jetzt auch klar, wie es zum "Gelehrten der Scheibenwelt"/"Science of Discworld"-Spinoff kam: das hier hätte eigentlich ein klassischer Rincewind-Band werden sollen, dem Autor fiel aber mittendrin ein, dass dessen Themen auserzählt waren, und die Zauberer-Kollegium-und-Gott-der-Evolution-Nebenhandlung eskalierte immer mehr, bis sie eher das Hauptthema hätte werden können.

Janna Levin - Black Hole Blues and Other Songs from Outer Space
Im Stil einer überdehnten Zeitungsreportage geschriebene Geschichte der Gravitationswellenforschung mit vielen interessanten, amüsanten und selbst für einen Insider teils überraschenden Anekdoten. Der Reportagenstil ist zu gewollt und auf Dauer ermüdend. Aber trotzdem für Laien wie Experten lesenswert.

Charles Stross - Wireless
Kurzgeschichtensammlung eines Autors, der wohl vor allem für seine "Laundry Files"-Reihe humoristischer paranormaler Agentengeschichten bekannt ist. Welche ich allerdings weder kenne noch nach dieser Lektüre unbedingt kennen lernen möchte. Denn Stross hat durchaus Schreibtalent und großen Ideenreichtum, aber leider auch einen massiven Agenten-Fetisch, der in diesem Band mehrere eigentlich hochinteressante Geschichten durch einen Fokus auf langweilige Agentenfiguren und ausgelatschte Agenten-Tropes massiv herunterzieht. Trotzdem sind die Parallelweltgeschichten über Kalten Krieg auf einer Scheibenwelt, auf die die Erdbevölkerung und -oberfläche plötzlich transplantiert werden, und über Kalten Krieg mit Cthulhu durchaus interessant. Nett auch das Schottland nach Globaler Erwärmung (und Lokaler Erkaltung) und die abschließende Novelette, die als Klischee-Zeitpatrouillen-Operette beginnt, dann das Genre immer mehr dekonstruiert, um sich dann aber zu kosmohistorischen Ambitionen a la Stapledon aufzuschwingen.

Sofia Samatar - A Stranger in Olondria
Reise- und Lesegeschichte aus einer Fantasywelt. Ein junger Händlerssohn von einer entlegenen tropischen Pfefferinsel lernt von einem Exilanten aus der fernen olondrischen Hochkultur die dunkle Kunst des Lesens und verzehrt sich von nun an in Sehnsucht nach dem Land der Bücher, bis sich ihm tatsächlich die Gelegenheit ergibt, dorthin zu reisen. Doch bald wird er von Erscheinungen eines Geistermädchens um den Schlaf gebracht, das von ihm verlangt, seine Geschichte aufzuschreiben. Und da der Kontakt mit Geistern in Olondria Kern der alten, im Volk noch immer beliebten Religion war, aber von der seit erst 2 Generationen herrschenden Staatsreligion verteufelt wird, findet er sich bald als Spielball der Mächtigen wieder.
Samatar wird sowohl für ihren poetischen Stil als auch für die überzeugende Darstellung einer nicht-eurotypischen Fantasywelt gefeiert. Der Stil ist manchmal etwas ausufernd, aber gekonnt und wunderschön; die Welt verzückend. Die Handlung schleppt sich, ist es aber wert. Magische Literatur über die Magie der Literatur, und des sinnlichen Erfahrens der Welt um einen herum.

Margaret Atwood - The Handmaid's Tale
Ein gewisser Ipsissimus hat es hier iirc mal als eines der "einflussreichsten SF-Bücher" vorgeschlagen, und auch sonst besteht wohl breite Einigkeit, dass man es mal gelesen haben sollte. Vom Worldbuilding hatte ich mir vielleicht etwas mehr versprochen, und atmosphärisch fand ich das ähnlich angelegte "The Funeral" von Kate Wilhelm in "Again, Dangerous Visions" stärker. Aber Atwood arbeitet die beschränkte Perspektive der Erzählerinnenfigur ebenfalls perfekt aus und schafft es immer wieder, "alltägliche" Vorgänge in dieser üblen Welt in ihrer psychischen Wirkgewalt wirklich eingängig darzustellen, ohne dafür die Sprache unnötig emotionalisieren zu müssen. Nach ca. 2/3 bin ich mir noch immer nicht ganz sicher, wie schlüssig ich das Schwanken der Erzählerin zwischen sehr beschränkt-naivem Denken und aus der Vergangenheit hochkochendem eigentlich sehr viel tieferem Zusammenhangsverständnis finden soll - falls das nur eine Notlösung der Autorin ist, um dem Leser genug Hintergrundmaterial zu vermitteln, wäre es eine Schwäche; aber es gibt durchaus genug Andeutungen, dass es bewusste Darstellung eines compartmentalized brain (äh, deutsches Wort...? :wzg:) ist, und wenn sich das bestätigt, ist es wiederum sehr gelungen.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Sa 10. Nov 2018, 23:35 - Beitrag #839

Zitat von Traitor:compartmentalized brain (äh, deutsches Wort...? :wzg:)


ehm, Dissoziation :cool:

Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Sa 10. Nov 2018, 23:58 - Beitrag #840

Hm, trifft es nicht ganz. Dissoziation ist einerseits stärker (die Betroffenen nehmen im dissoziativen Modus bestimmte Umgebungsreize oder Erinnerungen im Extremfall gar nicht mehr wahr) und andererseits passiver, unbewusster. Compartmentalization soll laut enWP zwar auch primär "subconcious" sein, erhält aber stärker die volle kognitive Funktionsfähigkeit der verschiedenen Modi, und wird meines Erachtens im Allgemeinsprachgebrauch sogar auch für bewusst herbeigeführte Aufspaltungen verwendet, z.B. wenn die in öffentlicher Selbstdarstellung und im Privatleben geübten moralischen Kategorien einander völlig diametral gegenüberstehen, oder eine Sucht oder ein Trauma bewusst in eine kleine Nische des eigenen Lebens und Denkens geschoben wird, um den Rest funktional zu halten. "Schubladendenken" wäre beinahe eine schöne Übertragung, wenn das Wort nicht schon besetzt wäre.

Der englische Artikel hat übrigens interessanterweise Interwiki-Links auf (ausschließlich) Arabisch, Bulgarisch, Indonesisch, Russisch und Ukrainisch. Ob das Phänomen in der islamischen und slawischen Welt besonders verbreitet ist...? ;)

Die Übersetzung könnte übrigens ganz einfach "Kompartmentalisierung" lauten: Quelle1, Quelle2. Wobei ich beide unter starken Anglizismusverdacht stellen würde. Q1 entspricht dabei meinem Verständnis, während Q2 Kompartmentalisierung und Dissoziation als mehr oder weniger das gleiche, oder zumindest eng miteinander verwandt, ansieht. Und ok, eng verwandt sind sie sicher auch. Einen qualitativen Unterschied sehe ich trotzdem noch.

VorherigeNächste

Zurück zu Literatur

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast