Interpretationsfragen zu Heinrich Heine

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
BEN2506
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Di 9. Jan 2007, 17:14 - Beitrag #1

heinrich heine

Hi leute, ich soll in der schule eine frage beantworten. könnt ihr mir bitte schnell eine antwort darauf geben? Das ist der text dazu:

(z):"Während aber die große menge verdutzt und betäubt die äußere erscheinung der großen bewegungsmächte anstarrt, erfasst den denker ein unheimliches grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das ungeheuerste, das unerhörteste geschieht, dessen folgen unabsehbar und unberechenbar sind. (...) So muss unseren Vätern zumute gewesen sein, als amerika entdeckt wurde, als die erfindung des pulvers sich durch ihre ersten schüsse ankündigte, als die buchdruckerei die ersten aushängebogen des göttlichen wortes in die welt schickte. die eisenbahnen sind wieder ein solches profvidenzielles ereignis, dass der menschheit einen neuen umschwung gibt, dass die farbe und gestalt des lebens verändert; es beginnt ein neuer abschnitt in der weltgeschichte."

Warum verbindet heinrich heine, das aufkommen der eisenbahn mit lang zurückliegenden vorgängen?

zit. nach: Heine, Heinrich; Lutetia; in: Wazel, Oskar (Hrsg.), Heines Werke in 10 Bändern, Leipzig 1910, Bd. 6, s. 219 ff. (insel verlag)


Danke im Voraus!

janw
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Di 9. Jan 2007, 17:47 - Beitrag #2

Weil das Aufkommen der Eisenbahn damals ein als epochal empfundenes (und rückblickend auch seiendes) Ereignis war, das Heine als Muster dient um zu beschreiben, wie verschiedene Menschengruppen auf solche Ereignisse reagieren.
Damit nicht irgendjemand dies nur mit der Eisenbahn in Verbindung bringt, sondern um die gewisse aus seiner Sicht Gemeingültigkeit dieser Reaktionsweisen zu betonen, und um überhaupt die Bedeutung des Ereignisses herauszustreichen, stellt Heine es in eine Reihe mit anderen epochalen Ereignissen.

Lykurg
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Di 9. Jan 2007, 18:14 - Beitrag #3

Der Volltext findet sich hier, im dritten Absatz.

Heine stellt fest, daß die Einführung der Eisenbahnen einen Abschnitt der Weltgeschichte bedeutet, und vergleicht das mit anderen Erfindungen und Entdeckungen, die ebenfalls von großer historischer Bedeutung waren. - Es ist für Zeitgenossen oft schwierig, die epochale Bedeutung von Entwicklungen wahrzunehmen. Für die Eisenbahn war dies aber in besonderem Maße möglich - wer die ersten Eisenbahnen sah, war (meist) fasziniert von ihrer Masse, der (relativen^^) Geschwindigkeit, vom gebotenen Reisekomfort...

Heine war ein Mensch, der ziemlich viel reiste - im ersten Gedicht von "Deutschland, ein Wintermärchen", das Heine ein Jahr nach dem "Lutetia"-Artikel verfaßte, heißt es:
Im traurigen Monat November war's,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.
Und als ich an die Grenze kam,
Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen
In meiner Brust, ich glaube sogar
Die Augen begunnen zu tropfen.
Ein stärkeres Klopfen - stärker als zuvor, oder stärker als das Klopfen der Eisenbahn, mit der er möglicherweise bis zur Grenze fuhr?

Manche seiner Zeitgenossen waren diesem Fortschritt gegenüber sehr viel kritischer als er. Es gab heftige Diskussionen darüber, ob die hohen Geschwindigkeiten (~30 km/h!) gesundheitsschädlich seien, weil der Mensch dafür nicht geschaffen sei. Auch solchen Einwänden könnte seine Gegenüberstellung begegnen, große Erfindungen der Vergangenheit seien "in ihren Folgen unabsehbar und unberechenbar" gewesen, aber aus der Gegenwart eben nicht mehr wegzudenken.

Im Fortgang des Artikels äußert er sich übrigens ziemlich bissig über den Finanzier der Eisenbahn, Baron Rothschild, und über die weiteren Subskribenten und Planer des Eisenbahnbaus... Er ist insofern nicht völlig euphorisch.

BEN2506
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Di 9. Jan 2007, 18:54 - Beitrag #4

heinrich heine die 2te

Folgende Frage sollten wir außerdem beantworten: :confused:


"durch die Eisenbahn wir der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir Geld genung, um auch letztere anständig zu töten!" Diskutieren sie diesen Satz vor dem Hintergrund gegenwärtiger technisch-ökonomischer Entwicklungen.

Hoffentlich könnt ihr mir wieder so toll helfen.

Lykurg
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Di 9. Jan 2007, 19:09 - Beitrag #5

Schöne Frage! :D

Wenn Heine sagt, daß der Raum getötet wird, meint er, daß durch die neuen Reisegeschwindigkeiten (hinderliche) Entfernungen praktisch keine Rolle mehr spielen - als ob die Orte direkt aneinanderrückten. Wenn er nun wünscht, wir hätten auch Geld genug, die Zeit zu töten, meint er damit möglicherweise [Vorsicht: unsicher!] den Wunsch, es solle nicht mehr notwendig sein, (lästige) Arbeit zu verrichten.

Hinsichtlich der heutigen Technik ist das allerdings leicht und anders zu beantworten - Fernsehen, Spielekonsolen etc. sind letztlich technische Modernisierungen zum Töten von Zeit...

Geld genug, die Zeit zu töten, ist dagegen noch immer ein gewisses Problem. Allerdings haben einige von denjenigen, die nicht viel Geld haben, insbesondere dafür genug, ihre Zeit verläßlich zu töten.
Ein Freund von mir, Referendar, staunte auf einer Klassenreise darüber, daß die Kinder aus den schwierigsten sozialen Verhältnissen die besten Konsolen mitgenommen hatten... Insofern ist das wohl eher eine Frage der Prioritätensetzung. Ob Heine das geahnt hätte?

Traitor
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Di 9. Jan 2007, 20:43 - Beitrag #6

Man könnte es auch allgemeiner interpretieren. So, dass Heine glaubte, die Raumtötung per Eisenbahn und andere Fortschritte benötigten allein eine kritische Menge eingesetzten Geldes, und somit könnte genug Geld auch soviel Fortschritt bringen, dass die Zeit getötet würde, also alle zeitfressenden Aktivitäten von diesem Makel weitgehend befreit würden.

Um diese Interpretation gegen deine abzuwägen, müsste man wissen, wie fortschrittsgläubig und/oder wie arbeitsbezogen Heine dachte.

Zur heutigen Entwicklung würde ich sagen: die Zeittötung ist weit vorangeschritten, als die zwei entscheidenden Innovationen dazu könnte man Fließbandarbeit und Computer anführen. Kaum eine Aufgabe braucht heute noch soviel Zeitaufwand wie im 19. Jahrhundert, oder zumindest nicht so viele Mannzeit.

Allerdings würde ich klar zwischen Heines Zeittötung und dem umgangssprachlichen Zeittotschlagen unterscheiden: Letzteres, wozu Fernsehen und Spielekonsolen gehören, entwickelte sich, um die nach der Zeittötung freie Zeit irgendwie zu verwenden. Klingt paradox, genaugenommen will Heine meines Erachtens aber nicht die Zeit selbst töten, sondern den Zeitbedarf, so wie nicht der Raum, sondern die Barrierehaftigkeit des Raumes getötet wurde und der Raum dadurch ganz anders genutzt werden konnte.

janw
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Di 9. Jan 2007, 20:48 - Beitrag #7

Mit dem "Geld genu(n)g"[interessanter altertümlicher Wortgebrauch, wenn kein Tippfehler!] rekurriert Heine IMHO auf den hohen Geldeinsatz, der von seiten der Finanziers u.a. Rothschild für den Eisenbahnbau getätigt wurde - dafür war Geld genug da.
Dadurch wurde nun auch mehr Zeit gewonnen, die nicht für das Reisen aufgewandt werden musste, die damit für andere Dinge zur Verfügung stand. Durch die Mechanisierung in allen Bereichen entstand so zum ersten Mal "Freizeit".

Heute sprechen manche von einer "Freizeitgesellschaft", und manchen fällt es schwer, diese Zeit sinnvoll zu nutzen - wie etwa dem Autor dieses Beitrages, der auch ein Buch lesen könnte jetzt... :D

Allerdings würde mir Heine etwas prophetisch erscheinen, wenn er auf diese Entwicklung bezug genommen hätte, denn der Freiezitgewinn damals war noch immer allzu bescheiden und sozial sehr ungleich verteilt, ganz abgesehen davon, daß noch immer die Sonne den Tag und die Nacht bestimmte, ohne Strom...

Lykurg
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Mi 10. Jan 2007, 02:53 - Beitrag #8

Traitor, unsere Positionen sind mE nahe beisammen, auch wenn deine scharfe Gegensatzbildung zwischen Tötung und Totschlag bei mir mit dem Wort "anders" leicht unterrepräsentiert ist^^ - allerdings hakt es in der Gegenüberstellung von Zeitbedarf und - 'Raumbedarf', daher suche ich eigentlich noch nach einer unproblematischeren Lösung. :confused:

janw, leider handelte es sich [mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit] um einen Tippfehler, siehe mein Link.^^

janw
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Mi 10. Jan 2007, 03:49 - Beitrag #9

Das wäre dann aber ein sehr reizvoller Tippfehler^^

Lykurg, ich denke, man kann die Sache mit Zeit und Raum aus der Perspektive des Menschen betrachten, der Zeitmangel verhindert dessen Fortkommen, die Erledigung vieler erstrebter Dinge, wie das Übermaß an Raum eine Barriere darstellt.

Die Gleichsetzung "Zeit ist Geld" kommt denke ich noch nicht so in Betracht, das ist letztlich eine amerikanische Fiktion, welche iirc so von Henry Ford formuliert wurde.

Nebenbei ist der sog. Raumwiderstand ein wichtiger Begriff aus der heutigen Verbreitungsbiologie, insbesondere für weniger mobile Kleintiere von Bedeutung. Daß es den auch für den Menschen gab, ist völlig in Vergessenheit geraten.

Lykurg
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Mi 10. Jan 2007, 16:08 - Beitrag #10

Raumwiderstand ist mir klar - die Bedeutung der Eisenbahn ohne ihn wäre eben längst nicht so groß gewesen. Aber die logische Entsprechung zu "Zeitbedarf" wäre "Raumbedarf" - und das paßt eben nicht.


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