Kafka: Eine kleine Frau

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Maglor
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Di 5. Jul 2011, 21:33 - Beitrag #1

Kafka: Eine kleine Frau

Schon einmal kam ich auf Kafkas kurze Erzählung "Eine kleine Frau" zu sprechen.
Es ist schon eine merkwürdige Geschichte, dabei gehts es nur um einen Ich-Erzähler und eine kleine Frau.
Die Perspektive ist eher einseitig, wechselt aber gelegentlich zwischen Selbsttäuschung und Offenbarung. Die Form ihrer Wangen, die Art ihrer Bewegungen, selbst der Stil ihrer Kleidung derlei Oberfläche sind bis ins Detail beschrieben.
Rätselhaft bleibt jedoch die Beziehung, die zwischen dem männlichen Erzähler und der kleinen Frau besteht.
Wer ist hier der Stalker?

Zitat von Milena:...als ich das so las, da fiel mir wieder ein, warum ich Kafka so liebe. Er beschreibt die dinge, so wie sie sind, ich sie immer schon so gewusst habe und mir anders gar nie vorstellen konnte.....
mittlerweile denke ich, dass ein jeder mensch irgendwo ein singledasein lebt. der mensch ist an für sich alleine. egal, wo er hingeht, er nimmt sich stets mit. egal mit wem, unter wem, auf wem.
Wird eine liebesbeziehung eingegangen, dann mit der hoffnung endlich mal wieder liebe zu spüren. doch was heisst schon liebe. vielleicht bedeutet es getragen zu werden, gestreichelt, verstanden und umarmt zu werden.
...

Kafka beschreibt die Dinge so wie sie sind - besser wie sie sein könnten oder welchen Möglichkeiten der einzelne vorzugeben wünscht.

Lykurg
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Di 5. Jul 2011, 23:35 - Beitrag #2

Eines hast du vernachlässigt - es geht dem Ich-Erzähler wesentlich auch um das Bild, das er (und sekundär auch das Verhältnis der beiden zueinander) in der 'Öffentlichkeit' abgibt. Weitere Nebenfiguren, soweit ich sehe, ihre Angehörigen und sein Freund, der ihm rät, zu verreisen. Interessant am Verhältnis zur Öffentlichkeit ist, daß (in seinem Gedankengang, eine andere Sicht auf sie haben wir ja nicht, entsprechend ist Unzuverlässiges Erzählen vorprogrammiert) zunächst deren Eingreifen zu ihren Gunsten erwogen wird ("das Gericht der Öffentlichkeit", "ein großer öffentlicher Ärger"), in der Folge und besonders am Ende aber der Ich-Erzähler sich der Zustimmung der Öffentlichkeit sehr sicher ist ("vertrauensvoll und vertrauenerweckend", ja sogar "achtungswertes Mitglied"), was ich für Kafka recht ungewöhnlich finde.

Der Ärger der Frau über den Ich-Erzähler hat die typischen Züge einer unhinterfragbaren Justiz, sie wird ja auch einmal direkt als Richterin bezeichnet (S. 26), aber gerade in dem Zusammenhang als schwach beschrieben; es sei keine Entscheidung zu erwarten. Währenddessen urteilt er ständig über sie, bis hin zum Erkennen als "Klette", die ein anderer vielleicht längst unter seinem Stiefel zertreten hätte.

Vollends rätselhaft finde ich im Schlußsatz "diese kleine Sache", das läßt viele Interpretationen zu, wäre als generelle Bezeichnung ihres Wechselverhältnisses immerhin im Einklang mit Anmerkungen am Anfang; denkbar sonst aber auch sexuelle oder aber metatextuelle Referenz.
Interessant ist jedenfalls auch die starke Beschleunigung im vorletzten Absatz, die mich ein bißchen an die Jugend/Altersspielereien im "Urteil" oder in "Vor dem Gesetz" erinnert.

Ipsissimus
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Mi 6. Jul 2011, 11:41 - Beitrag #3

eindeutig kein Text für die Textinterpretation eines Deutsch-Abiturs^^

es handelt sich meiner Ansicht nach um die perspektivisch einseitige Sicht auf zwei Obsessionen, zum einen die Obsession der Frau hinsichtlich des Ich-Erzählers, zum anderen die Obsession des Ich-Erzählers hinsichtlich der Obsession der Frau - denn für ihn gilt der Rat ja genau so, den er wohl der Frau einmal erteilte: er könnte sie als Fremde auffassen, deren emotionalen und sonstigen Wechselfälle noch nicht einmal bemerkt werden müssten.

Aber offenbar sind sie beide nicht belanglos füreinander, wenn auch der Belang teilweise auf unterschiedlichen Ebenen angelegt ist.

Insofern lese ich diesen Text auch als Text einer Selbsttäuschung. Und Stalker sind beide.

Maglor
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So 10. Jul 2011, 16:51 - Beitrag #4

Ein psychotisches Trauerspiel wird hier beschrieben: Beziehungsideen, Doppelbindung, Sebstmordgedanken
Ein Mann, der sich aus seltsamer Rücksichtsnahme selbst quält.

Maglor
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Mo 18. Feb 2013, 20:44 - Beitrag #5

Zur der Zeit, als die Erzählung entstand, lebte Kafka in Berlin mit Dora Diamant in "wilder Ehe", was damals wohl als sehr ungehörig galt. Eine Eheschließung stand die ablehnde Haltung der Familie Diamant gegenüber Kafkas gegenüber. Dies würde auch die hohe Bedeutung dessen erklären, was die Leute oder "Aufpasser" über ihn und die kleine Frau denken.
Sie lebten ungefähr ein Jahr zusammen, bis Kafka nach langer Krankheit verstarb. Die Erzählung wurde 1924 - d. h. gerade noch zu Lebzeiten veröffentlicht.
Wobei ist die Lesart, der Erzähler und die kleine Frau lebten in wilder Ehe, doch für eher gewagt halt. An Uneindeutigkeiten herrscht zumindest kein Mangel.

Das Thema der unverfüllten Liebe findet sich auch in dem Frühwerk "Die Abweisung", hier auch in der interessanten Spiegelung von Mann und Frau, die sich in ihrer gegenseitigen Enttäuschung und ihrem Narzissmus gleichen, am Schluss steht allerdings ein leicht als Täuschung durchschaubarer Vergleich, der wahrscheinlich eine endgültige Trennung bedeutet: "Ja, wir haben beide recht und, um uns dessen nicht unwiderlediglich bewusst zu werden, wollen wir, nicht wahr, lieber jeder allein nach Hause gehen."

Traitor
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So 3. Mär 2013, 13:35 - Beitrag #6

Biographische Inspirationen gibt es immer, eine direkte Abbildung steht hier aber weitgehend außer Frage, dann wäre der Erzähler nicht nur unzuverlässig, sondern ein reiner Lügner.
Ganz so wenig miteinander zu tun, wie er lange den Eindruck erweckt (er träfe die Frau nur morgens vor der Haustür), scheinen sie aber doch auch nicht miteinander zu tun zu haben, nachher fällt ihm dann doch noch ein, dass er sie schonmal in einen Sessel sinken sah.

Großartig finde ich diesen Satz:
Darin waren die Bemerkungen des Freundes doch nicht ohne Nutzen, sie haben mich nichts Neues gelehrt, aber mich in meiner Grundansicht bestärkt.
Offensichtlicher kann er das Desinteresse an einer Problemlösung nicht machen.


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