Hermann Hesse

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Traitor
Administrator
Administrator

Benutzeravatar
 
Beiträge: 17500
Registriert: 26.05.2001
Mo 3. Sep 2012, 21:06 - Beitrag #81

@e-noon: Der Regenmacher hat Frau, Kind und Sinn aber nur, damit ein halbwegs glaubwürdiger Rahmen für die Lehrer-Schüler-Geschichte da ist, den man im Steinzeit-Setting nicht so elegant weglassen kann wie in der Eremiten-Wüste. Knecht dagegen hat vielleicht wenig äußere Einbindung, aber dafür innere Antriebe, Ziele und Zweifel, die ihn mir durchaus menschlich und zugänglich erscheinen ließen.

Zu Demian, Morgenland, Siddharta und co kann ich halt leider nichts sagen, daher hänge ich uns lieber weiter an den Glasperlen auf. ;) Du kannst aber gerne Empfehlungen für die Drittlektüre abgeben - bisher ist die einerseits nicht kurzfristig geplant, andererseits führt aufgrund der allgemeinen Bekanntheit der Steppenwolf.

@Maglor: Da müsste man jetzt mal das ganze Werk durchgehen und Erwähnungen der Einzeldisziplinen auszählen, denn ich habe im Gegensatz zu dir durchaus den Eindruck zurückbehalten, dass die Mathematik nach der Musik als wichtigstes Element dargestellt wurde. Deren Einheit ist ja (wenn auch nur auf prämodernem und somit eigentlich subkastalischem Niveau) auch die einzige interdisziplinäre Fusion, die auch als einigermaßen einleuchtend erscheint. "Kunst" im engeren Sinne hat das Glasperlenspiel der offiziellen kastalischen Lesart nach eher überflüssig gemacht als in sich integriert. Und der Einbau der Philosophie ist offenkundig mangelhaft, zwar mögen deren theoretischere Disziplinen verarbeitet sein, an klassischer Weisheit und Alltagsphilosophie scheint es den Kastaliern, mit Ausnahmen wie dem "Chinesen", aber eher zu fehlen.

Knechts Schwermut ist ein typisches Luxusproblem, er ist über die echten Problemen längst erhaben und zerbricht sich seine Harmonie an überhöhtem Streben.

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
Mi 12. Sep 2012, 22:17 - Beitrag #82

Anlässlich des 50. Todestages des Autors hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen eine Dokumentation zu Hesses Leben und seiner Wirkung herausgebracht.
Hermann Hesse Superstar
Besonders interessant erscheint der offensichtliche Widerspruch zwischen Hesses Lebensstil und seiner Wirkung als Hippie-Idol. Insbesondere der Steppenwolf handelt von Wahn, Drogen und Selbstmord. Seine Bücher beschäftigen sich mit Aufbruch, Rebellion und Abbruch. Er selbst trug jedoch meist Anzug und Krawatte, lebte im Alter zurückgezogen auf dem Lande und pflegte akribisch seine Rosen.

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
So 23. Feb 2014, 23:13 - Beitrag #83

Durch die TV-Dokumentation "Hermann Hesse. Der Weg nach innen" wurde ich auf diesen Brief des 15-jährigen Hermanns an seinen Vater aufmerksam:

Sehr geehrter Herr!

Da Sie sich so auffällig opferwillig zeigen, darf ich Sie vielleicht um 7 M[ark] oder gleich um den Revolver bitten. Nachdem Sie mich zur Verzweiflung gebracht, sind Sie doch wohl bereit, mich dieser und sich meiner rasch zu entledigen. Eigentlich hätte ich ja schon im Juni krepieren sollen. ...


Da wurde mir klar, dass die verlorene Kindheit, wie er sie in "Unterm Rad" beschrieb, nur eine zensierte Version der eigenen Kindheit war, wobei der Tod des Protagonisten, anders als Hesse gescheiterter Versuch mit der Pistole eventuell noch als Happy End zu verstehen ist.

Geradezu spiegelverkehrt wird die gleiche Geschichte in "Das Glasperlenspiel" erzählt. Wieder befindet sich der Protagonist im Eliteinternat, auch dort bewohnt er das Zimmer "Hellas". Der Unterschied ist nur der, dass der Protagonist Knecht anders als Hesse und Giebenrath die Schule nicht vorzeitig abreicht, sondern zum "Magister ludi" ausgebildet wird. Am Ende scheint aber Josef Knecht im hohen Alter auch das Schicksal seiner pubertären Vorgänger zu ereilen. Er läuft fort und verlässt die Enge des Kloster und findet - je nach Lesart - auch die gleiche Weise den Tod.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Mi 26. Feb 2014, 12:22 - Beitrag #84

Finde ich ein bisschen problematisch, Joseph Knecht auf Hans Giebenrath abzubilden. Giebenrath leidet an der ihm auferlegten Vergeistigung, Knecht sucht sie. Vielleicht könnte man sagen, in Knecht und Giebenrath thematisiert Hesse zwei unterschiedliche Versionen seiner selbst. Es gibt da einen Text von ihm:

Ich habe das Unglück, daß ich mir selber stets widerspreche. Die Wirklichkeit tut das immer, bloß der Geist tut es nicht und die Tugend nicht. Zum Beispiel nach einem scharfen Marsch im Sommer kann ich vom Verlangen nach einem Becher voll Wasser völlig besessen sein und Wasser für das wunderbarste Ding in der Welt erklären. Eine Viertelstunde später, wenn ich getrunken habe, ist nichts auf Erden mir so uninteressant wie Wasser und Trinken. Ebenso halte ich es mit dem Essen, mit dem Schlafen, mit dem Denken. Mein Verhältnis zum sogenannten >Geist< zum Beispiel ist genau dasselbe wie das zum Essen oder Trinken. Manchmal gibt es nichts in der Welt, was mich so heftig anzieht und mir so unentbehrlich scheint wie der Geist, wie die Möglichkeit der Abstraktion, der Logik, der Idee. Dann wieder, wenn ich davon satt bin und das Gegenteil brauche und begehre, ekelt aller Geist mich an wie ein verdorbenes Essen. Ich weiß aus Erfahrung, daß dies Verhalten für willkürlich und charakterlos, ja für unerlaubt gilt, doch habe ich nie verstehen können, warum? Denn ebenso wie ich zwischen Essen und Fasten, Schlafen und Wachen beständig abwechseln muß, muß ich auch zwischen Natürlichkeit und Geistigkeit, zwischen Erfahrung und Platonismus, zwischen Ordnung und Revolution, zwischen Katholizismus und Reformationsgeist beständig hin und her pendeln. Daß ein Mensch sein Leben lang immer und immer den Geist verehren und die Natur verachten kann, immer Revolutionär und niemals Konservativer sein kann oder umgekehrt, das scheint mir zwar sehr tugendhaft, charaktervoll und standhaft, aber es scheint mir auch ebenso fatal, widerlich und verrückt, als wenn einer immerdar essen oder immerdar nur schlafen wollte. Und doch beruhen alle Parteien, politische und geistige, religiöse und wissenschaftliche, auf der Voraussetzung, ein so verrücktes Verhalten sei möglich, sei natürlich.

Hermann Hesse, Kurgast
zitiert nach: Volker Michels (Hrsg.), Hermann Hesse. Lektüre für Minuten,
Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1982, Seite 193-194

Ich denke, daraus wird klar, dass Hesses Charakter als Äquivalent einer Art Vexierbild aufgefasst werden kann. Weder Giebenrath noch Knecht sind Hesse, aber sie sind Pole seines Geistes, der sich nur in der Möglichkeit permanenten Wechseln wirklich wohl fühlt. Diese Doppelbödigkeit kommt ja auch in anderen Figurenkonstellationen immer wieder zum Tragen, Narziß und Goldmund als bekannteste.


Er selbst trug jedoch meist Anzug und Krawatte, lebte im Alter zurückgezogen auf dem Lande und pflegte akribisch seine Rosen.

und soff sich zu Tode^^ Anzug und Krawatte tun da nichts zur Sache^^

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
Di 4. Mär 2014, 22:57 - Beitrag #85

Zitat von Ipsissimus:Weder Giebenrath noch Knecht sind Hesse, aber sie sind Pole seines Geistes, der sich nur in der Möglichkeit permanenten Wechseln wirklich wohl fühlt.

Sie alle sind Hesse und wirklich wohl fühlt sich keiner.
Niemand ist ganz Mensch, niemand ganz Wolf.

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
Mo 29. Jun 2015, 14:01 - Beitrag #86

Zitat von Ipsissimus vom 24.01.2008:abv, das Hesse-Gedicht gefällt mir auch, obwohl Hesse für meinen Geschmack insgesamt viel zu lebensbejahend eingestellt ist, zumindest in seinem Werk, mit Ausnahme von Klingsors letzter Sommer. In seiner eigenen Lebenspraxis stimmte das dann aber auch schon nicht mehr^^

Ich habe jetzt auch "Klingsors letzter Sommer" gelesen. Der Proolog deutet schon auf einen weiteren Lebenslauf Josef Knechts hin. Im weiteren Verlauf liest es sich mehr wie eine Drogenphantasie, wobei die Motive - wie so oft - aus anderen Werken Hessen bekannt sind, etwa die Untergangsphantasie, die große Mutter, der Sperber usw. Der Schreibstil ist recht eigenwillig, insbesondere wegen der Farben.

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
So 22. Jan 2017, 17:53 - Beitrag #87

Zitat von Klingsors letzter Sommer:"Jeder hat seine Sterne", sagte Klingsor langsam, "jeder hat seinen Glauben. Ich glaube an den Untergang. Wir fahren in einem Wagen überm Abgrund, und die Pferde sind scheu geworden. Wir stehen im Untergang, wir alle, wir müssen sterben, wir müssen wieder geboren werden, die große Wende ist für uns gekommen. Es ist überall das gleiche: der große Krieg, die große Wandlung in der Kunst, der große Zusammenbruch der Staaten des Westens. Bei uns im alten Europa ist alles das gestorben, was bei uns gut und unser eigen war; unsere schöne Vernunft ist Irrsinn geworden, unser Geld ist Papier, unsere Maschinen können bloß noch schießen und explodieren, unsre Kunst ist Selbstmord. Wir gehen unter, Freunde, so ist es uns bestimmt, die Tonart Tsing Tse ist angestimmt."

Abseits von der mutmaßlichen heutigen Aktualität des Thema stellt sich bei "Klingsors letzter Sommer" (1920) auch die Frage nach der damaligen Aktualität. Der Sinnzusammenhang mit dem 1. Weltkrieg als vorläufig schlimmste Katastrophe Europas ist offensichtlich.

Mein besonderes Interesse hat der armenische Sterndeuter geweckt, der den Untergang Europas prophezeit. Repräsentiert der Armenier Europa oder Asien und warum prophezeit Klingsor ausgerechnet dem Armenier den Untergang Europas? Gibt es einen Zusammenhang zum sogenannten Völkermord an den Armeniern?

Der Name Klingsor geht auf einen Zauberer des mittelalterlichen Artusromans zurück bzw. der darauf basierenden Wagner-Oper Parsifal zurück.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 24. Jan 2017, 15:58 - Beitrag #88

In dem Kontext ist auch Demian zu erwähnen, beide Erzählungen sind ja zeitnah 1919 entstanden bzw. veröffentlicht worden. Im Demian ist der Bezug zum ersten Weltkrieg sogar explizit. Und auch der Steppenwolf enthält Anklänge.

Der "armenische Sterndeuter" könnte eine Reminiszenz an Gurdjieff sein, der damals sehr en vogue war.

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
Sa 28. Jan 2017, 14:42 - Beitrag #89

Gegen Gurdjeff spricht, dass er erst im Dezember 1920 nach Deutschland gelangte. Seine Wirkungsgeschichte in Westeuropa beginnt erst danach. Hesse schrieb Klingsors letzter Sommer jedoch bereits 1919.

Der Armenier und Klingsor sind Seelenverwandte, eine in Hesses Romanen omnipräsente Konstellation. Der Armenier hat wie Klingsor Kenntnisse chinesischer Dichtung, was eventuell auch einen Übereinstimmung mit Gurdjeff ist, auf jeden Fall aber eine mit Hesse. Klingsor bezeichnet sich vor dem Armenier als Sterndeuter.

Der Armenier kann meiner Meinung nach vor allem als Mittler zwischen Asien und Europa verstanden werden. Unter Asien versteht Klingsor vor allem Indien und China. Armenien gilt jedoch als Teil des Morgenlandes, als Orient oder Vorderasien.

Wichtig ist hier sicherlich auch die Bedeutung Klingsors als Zauberer im Parsifal. Noch wichtiger ist sicherlich der Klingsor in "Die Morgenlandfahrer" - ein Buch das ich noch unbedingt lesen muss.

Ipsissimus
Dämmerung
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 10251
Registriert: 29.10.2004
Di 31. Jan 2017, 13:27 - Beitrag #90

Viel Spaß mit den Morgenlandfahrern^^ ein Buch, an dem man irre werden kann^^

Maglor
Karteizombie
Lebende Legende

Benutzeravatar
 
Beiträge: 4280
Registriert: 25.12.2001
Fr 17. Nov 2017, 22:49 - Beitrag #91

Vor kurzem habe ich endlich "Die Morgenlandfahrt" gelesen, ein kleines Büchlein voller intertextueller und autobiografischer Anspielungen.
Die Lektüre der zeugmatischen Bildsprache hat mich gut unterhalten und auch viel zum Verständnis oder Missverständnis des Gesamtwerkes beigetragen. Den Klingsor hat er mir nicht so sehr erhellt, eher den Glasperlenspieler.
Der Traum vom Orient ist der Traum vom friedlichen Kreuzzug, vom Dritten Reich des Geistes, eine Reise ins Innere.

Ansonsten bin ich inzwischen davon überzeugt, dass die Bedeutung der Schüler-Meister-Beziehungen in Hesse's Erzählungen in der Lebensreform zu suchen ist. Ich vermute es handelt sich um Idealdarstellungen des pädagogischen Eros.

Vorherige

Zurück zu Literatur

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 5 Gäste