Kafkas "Der Prozess"

Die Faszination des geschriebenen Wortes - Romane, Stories, Gedichte und Dramatisches. Auch mit Platz für Selbstverfasstes.
Seeker
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Mi 29. Mai 2002, 07:50 - Beitrag #1

Kafkas "Der Prozess"

Hy Leute!

Ich habe mich vor zwei Monaten durch Kafka´s Prozess gekämpft! Ich muß gestehen, fasziniert hat er mich schon, aber leider muß ich sagen, daß ich wohl nicht alles verstanden habe...
Einige Betrachtungsweisen finde ich sehr interessant (z.B. das Gespräch von K. mit dem Priester), andere kamen bei mir nicht richtig an.
Als ich dann noch gelesen habe, daß Kafka eigentlich keine Veröffentlichung wollte, immer sagte, daß der Prozess noch nicht fertig sei, war die Verwirrung komplett.
Wie soll man da was richtig herauslesen, wenn der Autor selbst noch nicht ganz zufrieden mit seinem Werk ist?
Es gibt jede Menge Interpretationen zu diesem Buch. Gelesen hab ich noch keine. Würde mich interessieren, wie ihr die Sache seht. Vielleicht kann mich ja jemand aufklären, weswegen K. am Ende so übel mitgespielt wird...

Gruss,
Seeker

Thod
Harfner des Erhabenen
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Mi 29. Mai 2002, 15:11 - Beitrag #2

Hallo seeker,
viele gute Autoren sind mit ihren Werken nicht richtig zufrieden...
Daraus würde ich mir nicht viel machen.
Wenn jemand etwas liest, dann ist das in einem gewissen Sinne eine Interaktion zwischen dem Kunstwerk (in diesem Sinne das Buch) und dem Betrachtenden. Beim Lesen interpretiert der Leser, und schafft somit zu einem gewissen Teil selber mit. Somit kann durchaus anderes, oder auch mehr im Werk gefunden werden, als der Künster intendiert hat.
Konkret zeichnen sich gerade Bücher auch dadurch aus, dass man bei mehrmaligem lesen immer neue Facetten erblickt, und man sozusagen mit dem Buch wachsen kann.
Wenn dir also einige Stellen (noch) nicht so viel sagen, so sollte dich das nicht beunruhigen. Vielleicht war einfach noch nicht die Zeit für sie da.

Gruß,
Orald

Seeker
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Do 30. Mai 2002, 17:23 - Beitrag #3

Hy Orald!

Danke für die Antwort.
Ich glaube zu verstehen, was Du meinst. Allerdings habe ich noch nie ein Buch mehr als zweimal gelesen.
Ich werde den Prozess wohl irgendwann mal wieder aus dem Regal ziehen...
Aber weil Du die Thematik "Man wächst mit dem Buch" angeschnitten hast, hätte ich eine Frage an Dich und möchte wissen, was Du davon hälst:

Es ist jetzt mindestens fünf Jahre her, da kaufte ich mir ein Buch, von dem ich irgendwie angezogen wurde. Es ist seltsam, manchmal finden uns die Bücher und nicht umgekehrt. Ich setzte mich also hin und begann zu lesen. Es war ein SF-Roman von Greg Bear. Die Geschichte hat mich von Anfang an gefesselt und ich war eigentlich gut dabei.
Plötzlich kam mir etwas dazwischen und ich vergaß es von heute auf morgen! (Daß dies einfach so geht finde ich schon seltsam!)
Jedenfalls ein Jahr später fand ich es wieder - verstaubt in einer Kiste auf dem Dachboden (wie es dahin gekommen ist, weiß ich nicht - vielleicht war meine Mutter zugange...).
Ich begann von Neuem es zu lesen, kam auch über die alte Stelle hinaus und war erneut fasziniert von seinen Gedanken und Ideen. Aber wie es wohl so kommen wollte, landete es wieder irgendwo und ich vergaß es zum zweiten Male!
Vor einer Woche begannen meine Freundin und ich unsere Bücherregale in der neuen Wohnung (wir wohnen zwar schon über ein Jahr hier, aber es wird immer noch hin und her geräumt) von einem Zimmer ins Andere zu packen. Dabei fiel es mir wieder in die Hände - und die alte Faszination war wieder da. Dennoch steht es jetzt immer noch da und ich habe das Gefühl, das ich noch etwas warten sollte, bis ich es lese...
Ich kann keinen Zusammenhang zwischen Buch und persönlicher Entwicklung machen, aber vielleicht übt dieses Buch eine besondere Faszination auf mich aus, weil ich damals - aus mir einem heute unbekanntem Grunde - irgendetwas erlebt habe, was die Umstände veränderte.
Das ist jetzt so daher gesagt. Einfach eine Vermutung.

Andersrum ist es mir schon passiert, daß ich während einer ziemlich üblen Zeit (es ging mir geradezu besch...) über ein Buch gestolpert bin, das mir neuen Mut gegeben hat.
Manchmal finden sie eben uns.

Kannst Du diese Beobachtung bestätigen? Oder hast Du noch etwas anderes im Umgang mit Büchern erlebt, was einem manchmal eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken laufen läßt?

Gruss,
Seeker

Thod
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Do 30. Mai 2002, 17:29 - Beitrag #4

mein leben läuft da, glaube ich, profaner ab. :D

aber nachvollziehen kann ich das schon. Bücher, und Kunstwerke überhaupt, besitzen sicherlich ein gewisses Eigenleben...
Sie sind Welten, in denen man eintauchen kann, und in denen man vieles auch unerwartete findet. Warum soll diese Dynamik nicht auch in unser tägliches Leben greifen? Immerhin sind sie Teil unseres Lebens.

Gruß,
Orald

Seeker
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Di 4. Jun 2002, 08:56 - Beitrag #5

Hm... was mich jetzt noch interesserieren würde:

Orald, hast Du Kafka´s Prozess gelesen?

Gruss,
Seeker

Thod
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Di 4. Jun 2002, 09:41 - Beitrag #6

ja, sogar schon mehrmals.

gruss,
Orald

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Di 4. Jun 2002, 10:09 - Beitrag #7

Frustriert es Dich nicht, nicht zu wissen, warum er verurteilt wurde?

Thod
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Di 4. Jun 2002, 15:30 - Beitrag #8

Gute Frage.
Ich denke, Frustration ist nicht das, was ich dabei empfinde. Eher vielleicht Nachdenklichkeit.

Es ist sehr schwer für mich, diese näher zu beschreiben. Wenn ich sie mit einer konkreten Interpretation fülle, schränkt diese ein. Du machst dir sicher deine Gedanken, vor allem auch im Zusammenhang mit der Welt, in der du lebst. Wenn ich nun z.B. antworten würde, dass wir auch nicht wissen, warum wir sterben, und wir dennoch dazu verurteilt sind, würde das auf dein Textverständnis sicher auch eine einschränkende Wirkung haben, da diese Überlegungen ja aus meiner Welt stammen...

Zu guter letzt kann ich wohl nur sagen, dass ich es an Literatur gerade mag, wenn sie genügend Freiraum lässt, um seinen eigenen Gedanken ihren lauf zu lassen.

Gruss,
Orald

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Mi 5. Jun 2002, 09:49 - Beitrag #9

Wenn Dir das so liegt, dann habe ich einen Buchtipp für Dich:

Harry Mulisch "Die Prozedur"
Es handelt von einem Wissenschaftler, der Leben aus toter Materie erschaffen hat. Und um einen Golem. Vielleicht kennst Du es ja sogar.
Hier ging es mir ähnlich dem Prozess, nur daß es Kafka geschafft hat, daß ich mich verwirrter fühlte, als ich das letzte Kapitel gelesen hatte.

Ich fand es sehr gut geschrieben, mit einigem Humor, aber auch sehr nachdenklichen Seiten. Offen hat es mich auch zurückgelassen und ich muß sagen, daß ich öfters an dieses Buch denken muß. Öfter zumindest als an "normale", abgeschlossene Bücher. Nun, es mag sein, daß es nicht viele Bücher dieser Art (Prozess, Prozedur - ob da ein Zusammenhang besteht? ;) ) gibt.

Welches Buch fällt Dir spontan ein, wenn Du an ein Buch denkst, daß dich irgendwie "offen" zurückgelassen hat? Würde mich interessieren.

Gruss,
Seeker

Thod
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Mi 5. Jun 2002, 14:29 - Beitrag #10

"Die Prozedur" habe ich nicht gelesen. Werde sie aber wenn möglich, auf die Liste setzen :-)

Hm. Welche Bücher haben mich "offen" zurückgelassen? Ich würde fragen, welche haben mich zum Nachdenken (oder auch Träumen?) angeregt? Da würde mir eher was einfallen.

Ich würde da z.B. "Blatt von Tüftler", von Tolkien nennen, oder diverse alte Mythen (bzw. Ausschnitte daraus). Diese Literatur spricht mich am meisten an. Auch einige moderne Romane, wie z.B. "Der Roman Wintermärchen" von Marc Helprin.
Als weiteres auch manchmal simple Geschichtsbücher. Dort findet man Teilweise Gedanken, Äusserungen, Zitate, Inschriften, Grabsteine oder anderes alter Persönlichkeiten, die in aller Kürze auch einen solchen Eindruck hinterlassen können.

Unter den Typischen deutschen Schriftstellern, die sich u.a. gerne in der Schullektüre tümmeln würde mir da ausser Kafka eigentlich nur Wolfgang Borchert einfallen.

Gruss,
Orald

Traitor
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Do 26. Jul 2007, 14:12 - Beitrag #11

So sehr ich mich im allgemeinen Kafka-Thread vor 2 Jahren gegen "geschlossene Interpretationen" verwehrt habe, so unausweichlich erscheint sie mir leider beim Prozess.
Dieser erscheint mir als Darstellung einer Geisteskrankheit. Die Hinweise hierauf sind manche überabsurde Elemente und der immer wieder betonte Selbstbezug des Prozesses.

Betrachtet man die Ereignisse als real, ist natürlich ein enormes Maß an Absurdität offenbar intendiert. Einiges ist für mich aber mit der Realität völlig unvereinbar. Dies sind insbesondere der Prügler, den K. an zwei Tagen in der gleichen Besenkammer findet - eine eindeutige Halluzination - und die Überpräsenz der Dachboden-Kanzleien. Im Haus des Malers findet K. eine zweite, und angeblich finden sie sich quasi in der gesamten Stadt (ist es eigentlich Prag oder Wien?). Dies wirkt so übertrieben, dass es auf mich den klaren Eindruck eines seine Wahnvorstellung ins Unendliche ausdehnenden Geistes macht.
Dazu kommt wie gesagt die ewige Betonung, dass K. sich den Prozess eigentlich selbst macht und aussteigen könnte. Wirklich explizit macht es der Geistliche: "Das Gericht nimmt dich auf, wenn du kommst und entlässt dich, wenn du gehst" K. hat sich selbsttätig geistig in diesen Prozess / diese Krankheit begeben, und wäre er noch stark/gesund genug, könnte er sie auch überwinden.

Natürlich wirft diese Interpretation interessante Fragen auf - welche Personen und Ereignisse sind real, welche bildet sich K. nur ein? Oder sind sie alle real, und er bildet sich nur andere Worte ein? Aber im wesentlichen bleibt eine derartige Interpretation langweiliger als eine realistische. Kann mich also vielleicht doch jemand von letzterer überzeugen? Lasse ich mich nicht genug darauf ein, dass Kafka die Welt nicht als logisch ansieht und die absurden Ereignisse tatsächlich für prinzipiell möglich?

Lykurg
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Do 26. Jul 2007, 18:30 - Beitrag #12

Fuer deine Interpretation, Traitor, sprechen tatsaechlich gewichtige Gruende, allerdings halte ich sie nicht fuer unausweichlich, allumfassend und voellig ueberzeugend. Erstens finden sich in Kafkas Erzaehlungen staendig voellig unrealistische Schauplaetze und Handlungen - etwa die der in die Erzaehlung des Geistlichen eingelagerte Tuerhueterparabel Vor dem Gesetz - oder auch die ganz kurzen Texte, die etwa in nur einem Satz den Ritt auf einem Pferd beschreiben, das am Ende des Satzes nicht (mehr) existent ist... Oder auch die bizarren Widersprueche in der Figur des Vaters bzw. des Freundes im Urteil...

Ueberabsurditaet und Unvereinbarkeit mit der Realitaet koennen also kaum als Hinweis auf das Thema Geisteskrankheit gedeutet werden - denn dies auf das halbe Werk anzuwenden, scheint mir ein aeusserst fragwuerdiger Ansatz. Die im anderen Thread geaeusserte Interpretation von SnakeCharmers Dozenten, es handle sich um eine Auseinandersetzung mit dem Schuldbewusstsein, halte ich dagegen fuer naheliegender, auch mit Kafkas Werk und geistiger Entwicklung leichter verknuepfbar. Unter Zugrundelegung dieser Deutung muesste wohl jede Person imaginiert sein, wobei sie ja auch Vorlagen in der (dann nicht erzaehlten) 'Lebenswirklichkeit' K.s haben koennten.

Ich selbst las Kafkas Texte - jedenfalls Schloss, Urteil, Process und bedingt Verwandlung - eher als Schreckensvisionen einer papierenen Welt, in der das, was Kafka mE als hohen Wert einstuft, naemlich Ordnung und Rechtschaffenheit, in einem unertraeglichen Mass gesellschaftlich verabsolutiert wird. Ich fuehlte mich bei seinen Erzaehlungen teilweise vage an Gemaelde von Hieronymus Bosch erinnert, genaugenommen an die gelegentlich auftauchenden lesenden Daemonen in den Hoellenszenen, wobei Kafka natuerlich eine veraenderte Welt mit anderen Mitteln beschreibt.

Die Selbstaussagen Kafkas (etwa die Tagebuchnotiz nach Niederschrift des Urteils: "Gedanken an Freud natuerlich.") legen eine Psychologisierung iSv 'Schuld' naeher, entsprechendes zum Process kenne ich aber nicht. Bei Gelegenheit sollte ich mal einen Blick in die Sekundaerliteratur dazu werfen.

Kafkas Texte spielen mit wenigen Ausnahmen immer in Prag.

Traitor
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Do 26. Jul 2007, 18:58 - Beitrag #13

Prag ist natürlich naheliegender, Wien kam mir nur wegen eines gelegentlichen "die Hauptstadt" in den Sinn. Auf einer niedrigeren Ebene war Prag das aber natürlich auch.

So groß ist der Unterschied zwischen einem expliziten "Geisteskrankheit" und einem Schuldgefühl, das so stark ist, dass es das ganze Leben dominiert und zu eingebildeten Personen und Ereignissen führt, doch nicht, oder? Und zwischen dem Realitätsbruch in einer ansonsten in einer realistischen Welt angesiedelten Erzählung wie dem Prozess und einer offensichtlich phantastischen Parabel sehe ich auch einen gewichtigen Unterschied. Auch die Verwandlung erscheint mir anders gelagert, da sie sofort mit dem größtmöglichen Realitätsbruch beginnt und somit gar keinen Zweifel an der Ansiedlungsebene der Handlung aufkommen lässt.

janw
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Do 26. Jul 2007, 22:11 - Beitrag #14

Zitat von Traitor:So groß ist der Unterschied zwischen einem expliziten "Geisteskrankheit" und einem Schuldgefühl, das so stark ist, dass es das ganze Leben dominiert und zu eingebildeten Personen und Ereignissen führt, doch nicht, oder?

Es kommt darauf an, wie weit man den Begriff der "Geisteskrankheit" fasst.
Abgesehen davon, daß "Krankheit" immer ein von außen an einen Menschen herangetragenes Attribut ist mit all den Problemen, die solch willkürbehafteten Setzungen eigen sind und mit all den Eingriffen in die persönliche Lebensgestaltungsfreiheit, die die mit der Krankhaitsattribuierung verbunden sind - besonders im Bereich der neuro- und psychologischen Erkrankungen - (Ipsi könnte da mehr zu sagen), kann ein Trauma sehr tiefgreifende Wirkungen für den Betroffenen entfalten. Vorstellungen möglicher Wirkungen oder Geschehnisse sind da nicht unbedingt selten, und letztlich ist es rational angesichts der tatsächlich unzähligen diskreten Prozesse, denen wir in unserer komplexen Gesellschaft ausgesetzt sind, auch schwer zu entscheiden, wo die Grenze zwischen dem Möglichen und dem völlig Unwahrscheinlichen verläuft. Paranoia wird so zu einem Extremfall der Haltung "Vorsicht ist die Mutter..."

Ob Kafka selbst außerhalb des psychologischen Mainstreamzustandes stand...nun, in einer Biographie wird er als "psychisch isoliert" dargestellt, vielleicht eine Beschreibung eine gewissen Kontaktscheu.
Ich denke eher, daß man die "Welten" seiner Bücher von seinem eigenen Sosein trennen muss, daß in diesen "Welten" etwas Denkbares beschrieben wird, etwas, das zu seiner Zeit auch nach seiner Einsicht nicht gegeben war, aber leicht aus den bestehenden Verwaltungsapparaten werden konnte, eine mögliche Erweiterung des Bestehenden also.

Ipsissimus
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Sa 28. Jul 2007, 11:28 - Beitrag #15

ich denke, das dies eine allgemeine Fragestellung ist, die bei surrealistischer Kunst immer gestellt werden kann. Für mich hat Kafkas Werk unendlich viel mit den Bildern von Dali (und auch mit denen von Hieronimus Bosch als fernem Vorläufer) und anderen modernen Malern gemeinsam. Man wird diesen Künstlern Unrecht tun, wenn man annimmt, daß sie die Welt mit den Augen normaler Menschen sehen; man wird ihnen aber auch Unrecht tun, wenn man annimmt, daß sie die Welt mit den Augen von Geisteskranken sehen. Kafka war ein "Hochsensibelchen". Er wird also Empfindungen, Eindrücken, welche andere, normal empfindende Menschen vielleicht auch anfliegen mögen, die aber mit einem Atemzug drüber hinweggehen, eine viel größere Aufmerksamkeit und Relevanz zubilligen. Die Einreihung von Kafkas Werk in surrealistische Kunst vermeidet imo sowohl die Versuchung, ihn mit platten Realismus-Kriterien, als auch mit platten psychologischen Kriterien klein zu bekommen. Sein Werk hat etwas zutiefst Verstörendes, und das deswegen, weil es Visionen, angesiedelt an den Grenzen der Ahnung und der Aufmerksamkeit, in den Bereich des anscheinend Normalen einbindet, diesen Bereich dadurch gründlich infrage stellend, da seine Abgründigkeit bloßlegend.

henryN
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Mo 30. Jul 2007, 22:10 - Beitrag #16

Zitat von Traitor:So groß ist der Unterschied zwischen einem expliziten "Geisteskrankheit" und einem Schuldgefühl, das so stark ist, dass es das ganze Leben dominiert und zu eingebildeten Personen und Ereignissen führt, doch nicht, oder?


"Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern"

dazu einfach nur dieses Zitat. Weiß nich wieviele Millionen Menschen diesen Satz schon gesagt haben.......

Kafkas "Imaginationen" sind für mich genauso real, wie der Mensch der einen anderen Menschen anbrüllte oder gar umbrachte. Es war die Angst. Vor dem Nichts, vor dem Ausgeliefertsein...etc. und schafft leider jeden Tag Realitäten mit denen wir uns auseinanderzusetzen pflegen.......

Nun ich gebe zu, dass mich auf gewisse Art auch die Angst vor der Psychose beim Lesen plagte. Eine unsichtbare Schwelle, aber auch ein Hinweis. Kafka kann soetwas wie eine innere Hölle sein, vor der man lieber die Tür verschliesst, nach innen wie nach außen, bis man sie "erforscht" und verstanden hat, als unbedacht und selbstbezüglich in die Welt zu treten.......

Gibt es ein objekthaftes Schuldbewußtsein? Oder ist dieses nicht auch nur Resonanz zu einer dualistischen Weltsicht?

Traitor
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Mo 6. Aug 2007, 12:31 - Beitrag #17

Psychose trifft es vielleicht besser als Geisteskrankheit, wirkt es doch weniger wertend und mehr Spielraum der Ausgeprägtheit lassend. Auch möchte ich, da es den Antworten nach vielleicht falsch aufgefasst wurde, klarstellen, dass ich mich auf eine Geisteskrankheit/Psychose von "K.", nicht von Kafka, beziehe. Gegen Interpretationen, die mehr den Autor als das Buch interpretieren, bin ich weiterhin, und somit beziehe ich mich zuallererst auf die präsentierte Handlung und die Hauptfigur.

Henry, kannst du deinen letzten Absatz ausführen? Was hat der Dualismus hiermit zu tun, bzw. was für einen Dualismus meinst du?

henryN
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Do 16. Aug 2007, 03:06 - Beitrag #18

nähmen wir an die Katze wäre gleichzeitig die eigene Maus. Oder könnte soetwas in ihrem Bewußtsein reflektieren. Sie könnte nicht mehr einfach nur auf die Jagd gehen wie sie es immer tun würde. Einfach so, weil sie Hunger hat und Essen muß. Sie würde entweder versuchen Spinnen zu fangen, oder ein Maschinengewehr erfinden, weil sich damit vortrefflicher Beute machen ließe.
Oder halt wie Kafka, versuchen, den eigenen Ereignishorizont zu überschreiten und nicht mehr Katze zu sein. Aus Angst vor der Schuld. Oder die Grenzen ihres Ausgeliefertseins ergründen.......

Etwas was mit sich eins ist, quasi in reinster Form lebt und athmet, somit nichts braucht um das "Selbst" in irgendeiner Form zu verstärken und selbst zu bestätigen, lebendig ist und gleichzeitig tod sein könnte, vielleicht auch ohne dass es etwas davon weiß oder wissen könnte:
Hätte es einen Grund? Hätte es einen Willen, schuldig zu sein?

Das Drama beginnt mit der Geburt. Gerade im Mutterleib wohlig warm herangereift, wird es schrecklich kalt da draussen. Da kann man eigentlich nur lauthals schreien, und nicht mal selbst für warme Kleidung sorgen.....

Aus der Leere entzweit, aus ihr herausgefallen, ohne Willen oder selbst gewählten Grund.

Hatte Hitler Schuld, oder ist es nur eine von vornherein angelegte mögliche Variante der "Wiedervereinigung" die man einfach nur tunlichst vermeiden bzw. verhindern sollte?

Ich für meinen Fall, würde eine heftige Depression oder den auf dem Rücken liegenden Käfer, der nicht mehr aufstehen kann, vorziehen, als
Vollstrecker der eigenen Parallelwelt zu sein.

Der Dualismus beginnt für mich bei dem Wort "Ich". Aber es ist vielleicht doch nur die Summe der Zeit und Wahrnehmungen, die es durchdringt. Also an und für sich Nichts.

Maglor
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Mo 6. Apr 2015, 12:09 - Beitrag #19

Kafkas Schreckensvision geht über die gerichtliche Dystopie hinaus. Bisher nicht erwähnt wurden hier die bedrohlich lüsternen Frauenfiguren, insbesondere die Sekretärin des Advokaten und schlimmer noch die Mädchen, die die "Wohnung" des Malers belagern. Die Frage ist doch eher die, ob es noch Elemente der Handlung gibt, die nicht absurd oder psychotisch sind. Es gibt eben keine realistischen Elemente.
Die Hauptfigur K. leistet keinen Widerstand und ergibt sich den Stimmen.

Die Vorstellungen einer verborgenen Wirklichkeit in Besenschränken und auf Dachboden ist keineswegs unbekannt und ein häufiger Tops in Alpträumen und Ammenmärchen. Sie sind Tore in eine Anderswelt.

Da das Werk ja auch nur unvollendet vorliegt, bleibt bei dem Leser noch manches Rätsel und er kann sich einmilden, der Autor selbst habe noch manche Auflösung geplant. In Kenntnis der anderen Werke Kafkas, will ich das aber eher verneinen.

Starbuck
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Sa 25. Jul 2015, 20:30 - Beitrag #20

Es geht um einen sozial nicht integrierten, beruflich aber erfolgreichen Mann. Ich denke hier liegt das Spannungsfeld. Einerseits jemand, der auf seinem Weg zum Prokuristen wieder und wieder die Wirkmacht der Kategorien "Richtig und Falsch" und "Eindeutigkeit" erlebt hat und jetzt meint, dass ist, wie die Welt funktioniert. Andererseits jemand, ohne sozialen Halt, der jetzt am Ende seiner Adoleszenz anfängt, sich als Erwachsener in der sozialen Wirklichkeit zurecht finden zu müssen und plötzlich damit konfrontiert wird, ständig überall jedermanns Urteil ausgesetzt zu sein. Er begreift seine Situation als ein Gericht, eine Prüfungssituation, die man meistern, in der man aber auch versagen kann, so wie er es eben gewöhnt ist aus seiner Ausbildung.

Summa summarum glaube ich, die Moral dahinter ist relativ simpel: K. scheitert grandios dabei, es jedermann recht machen zu wollen und verzweifelt daran. Verstärkt wird sein Leiden wahrscheinlich durch den fehlenden sozialen Halt, da er fern seiner Familie lebt.

Ich bin der Auffassung, dass es sich bei den Absurditäten in der Geschichte nicht um eine psychopathologisierung des K geht, sondern lediglich ein Stilmittel Kafkas sind, um dem Leser nochmal zu vermitteln, wie absurd das Überleben in der Gesellschaft eigentlich ist. Vorallem jemand mit einer kaufmännisch- mathematischen Bildung dürfte die Wankelmütigkeit und Unbegründetheit von Meinungen wie intellektueller Treibsand erscheinen. Erst recht, wenn man bisher mit Tugenden wie Disziplin, Fleiß und Berechenbarkeit geglänzt hat, dürfte einen die Willkür, mit der Fremde über Fremde urteilen, umhauen, oder wenigstens die Tatsache, dass man mit diesen Tugenden in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zwingend punktet.
Die Tragik sehe ich vorallem darin, dass er einerseits nicht in der Lage ist, zu begreifen wie Nichtig das Urteil seiner Mitmenschen ist: Hierbei denke ich vorallem an die Stelle, in der es um die Instanzen des Gerichtes geht, und das es eine höchste Instanz gibt, die sich um nichts von dem schert, was die geringeren verzapft haben und zu der auch kein Mensch Zugang hat, bis zu dem Zeitpunkt, in dem sie ihr Urteil über diesen einen verkündet. Wer diese Instanz sei, sei mal dahingestellt, aber auf jeden fall irgendetwas, was die Gesellschaft transzendiert. Andererseits kann er sich dann aber auch nicht an seinem beruflichen Erfolg oder seinen Bettgeschichten hochziehen. Er sucht nach der Mastertugend, die er nicht finden wird, statt, und hier lehne ich mich mal ganz weit aus dem Fenster, die Kontrolle abzugeben und sich ein mit einer eigenen Familie ein stabiles Fundament für seine Seele zu bauen.


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