Gemeinsam-Lesen-Projekt, die Erste: Stefan Zweigs "Schachnovelle"

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Fargo
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Di 26. Nov 2002, 21:31 - Beitrag #21

@Thod

Warum sollte Zweig den Authismus nicht kennen?


In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat die Literatur psychische Krankheit selten als klinisches Fallbild betrachtet, sondern meist als individuelle (sozusagen 'kreative') Abirrung in ein Reich jenseits des Erfassbaren. Auch die Fachmedizin hatte noch viel gröbere Kategorien für die diversen Störungen als heute.

Im Fall des Autismus bin ich mir deshalb recht sicher, weil die "Schachnovelle" aus dem Jahr 1941 stammt, der Psychiater Leo Kanner aber erst in den vierziger Jahren in Fachpublikationen dieses Krankheitsbild als ein eigenes beschrieben hat. Vorher gab es diese Benennung nicht. Und auch später war sie kein Allgemeingut. Erst Barry Levinsons Film "Rain Man" hat sie ins Refugium der Allgemeinbildung überführt.

Er hat im Hause seines Pfarrers alle möglichen Aufgaben zur Zufriedenheit gelöst.


Ich sprach ja auch von einem Grenzfall von Autismus. Czentovic hat in simpelsten Verhältnissen schlichte Aufgaben - Wasserholen, Holzhacken, etc. - im immer gleichen Rhythmus ländlich-häuslichen Lebens erfüllt und dabei vermutlich nur wenige Ansprechpersonen gehabt. In der Schule hat er schon gänzlich versagt. Selbst der häusliche Schreibunterricht durch den Pfarrer war zuviel für ihn.

Fargo

Thod
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Di 26. Nov 2002, 23:24 - Beitrag #22

nun, es ging mir auch nicht um den Namen Autismus, sondern um das Phänomen. Dieses dürfte doch wohl schon seit menschengedenken beobachtet worden sein.

In dem zweiten von dir zitierten Absatz bezog ich mich auf diese Ausage:
auf andere Bereiche des Lebens angewandt, beginnt er zu blockieren.

Dies scheint mir eigentlich nicht der Fall, wie man am Beispiel der häuslichen Aufgaben sieht. Wie einfach diese Tätigkeiten waren, ist dabei wohl eher Nebensache, immerhin zeigt dieser Verweis, dass er Dinge tat. Er zeigt imho sogar noch mehr, nämlich wie er diese Dinge tat. Somit ist seine Arbeits- und Denkweise nämlich nicht auf das Schach begrenzt, sondern eine generelle Charaktereigenschaft, die er auch beim Schach anwendet, und die dort zu mehr Erfolg führt, als bei anderen Tätigkeiten.

Mir ist diese Frage darum aufgestossen, weil ich nämlich nicht denke, das Zweig dieses Verhalten, und die Frage, warum Schach so gut dazu passt, ausreichend herleitet.
Hier wird ein Mensch gezeigt, der möglicherweise so nicht sein kann, bzw. es wird eine ziemliche Absonderlichkeit gezeigt, ohne zu erklären, was es mit ihr auf sich hat. Der Gedanke ist mir aufgekommen, dass dies kein natürliches Verhalten einer Person ist, und auch keine dem Schach imanente Eigenschaft, sondern dass dieser Charakter konstruiert ist, um eine andere Aussage zu tätigen.
Zwar bin ich mir hierüber nicht im klaren, wenn es aber sowäre, würde mich das doch stark befremden, weil sowas als Mittel in meinen Augen nicht ehrlich ist. Zweig würde nämlich auf diese Weise unbewusst beim Leser das Menschenbild formen, welches dieser ja als mögliche Variante in seinen Erfahrungsschatz einbinden könnte.

Gruss,
Thod

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Di 26. Nov 2002, 23:32 - Beitrag #23

Ich persönlich bin für ein anderes Buch. :D Während meiner Schulzeit habe ich das Buch zweimal durcharbeiten müssen! :(


In diesem Sinne....
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Fargo
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Mi 27. Nov 2002, 02:50 - Beitrag #24

@Thod

nun, es ging mir auch nicht um den Namen Autismus, sondern um das Phänomen. Dieses dürfte doch wohl schon seit menschengedenken beobachtet worden sein.


Vorsicht: es ist keineswegs so, dass wir immer schon alles gewusst oder erkannt haben, und nur ab und an die Namen austauschen oder neu erfinden. Die Namensgebung einer Krankheit ist Teil eines komplizierten (und gerade im Fall vom psychischen Krankheiten: versuchsweisen) Eingrenzungs- und Definitionsprozesses. Wir wissen oft nicht, was wir vor Augen haben, und unser Nichtwissen führt wiederum zu unschärferer Wahrnehmung.

Psychische Krankheiten sind lange als Besessenheit, Blödheit oder Irresein gedeutet worden - und fertig. Das differenzierende Hinschauen ist dadurch erschwert worden, dass man schon Bescheid zu wissen glaubte.

Die Schizophrenie zum Beispiel ist erst 1908 vom Nervenarzt Eugen Bleuler, einem der großen Widersacher Sigmund Freuds, benannt und 'begriffen' worden. Wobei das, was er 'erforscht' hat, einigen modernen Ärzten wiederum als weitgehendes Missverständnis erscheint. Das tut aber nichts zur Sache: damals war es wissenschaftliche Avantgarde.

Der Autismus als Phänomenbündel war ihm aufgefallen, aber er nannte es nicht so und ordnete es anders zu: als schlichten Bestandteil der Schizophrenie. Erst Kanner ging dann, wie erwähnt, in den Vierzigern einen großen Schritt weiter.

Es kann also keine Rede davon sein, dass Autismus zwar nicht als Wort, wohl aber als umgrenztes Phänomen im Bewusstsein vorangegangener Generationen war. Es gibt eben auch wenig klinisch richtige Beschreibungen von Geisteskrankheiten in der Literatur der vorigen Jahrhunderte: man sieht nur, was man weiß, könnte man da wieder mal anführen.

Hätte Zweig gewusst, was Autismus ist, und hätte er Czentovic als Grenzfall darstellen wollen, hätte er kaum geschrieben: " auch für die simpelsten Unterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbeitenden Gehirne jede festhaltende Kraft ." Da hätte er wohl eine andere Formulierung gewählt.

Dass der Sonderling Czentovic in Richtung Autismus tendiert, ist ja nur meine Interpretation. Dass eine gewisse persönliche Anschauung psychisch Kranker hinter Zweigs Beschreibung steckt, ist aber durchaus möglich. Die Außensicht des jungen Mirko - des sturen Herumstierens, der völligen Antriebsarmut, des Rückzugs in sich selbst - ist lehrbuchhafter als die Innensicht.

Dies scheint mir eigentlich nicht der Fall, wie man am Beispiel der häuslichen Aufgaben sieht. Wie einfach diese Tätigkeiten waren, ist dabei wohl eher Nebensache, immerhin zeigt dieser Verweis, dass er Dinge tat. Er zeigt imho sogar noch mehr, nämlich wie er diese Dinge tat. Somit ist seine Arbeits- und Denkweise nämlich nicht auf das Schach begrenzt, sondern eine generelle Charaktereigenschaft, die er auch beim Schach anwendet, und die dort zu mehr Erfolg führt, als bei anderen Tätigkeiten.


Wie einfach die Tätigkeiten waren, ist eben keine Nebensache. Darin liegt ja eben der Witz: dass Czentovic nur einfachste Dinge bewältigt, das, was man früher eben als Arbeit den Dorftrotteln, wie sie ja sprichwörtlich hießen, auftrug. Dass er bei allem Höheren versagt. Nur eben bei Schach nicht. Was hat das komplizierte Schachspiel mit simplen Haushaltstätigkeiten gemein, und was unterscheidet beide von beispielsweise sozialen Interaktionen, zu denen Mirko keine Neigung zeigt? Die Ordnung, die Logik, das Strenge, Begrenzte, Regelhafte.

Dieser Schachmeister ist für mich also durchaus in sich stimmig. Du kannst das sicher anders empfinden, aber mit Deinem Vorwurf an Zweig habe ich ein wenig Schwierigkeiten.

wenn es aber so wäre, würde mich das doch stark befremden, weil so was als Mittel in meinen Augen nicht ehrlich ist. Zweig würde nämlich auf diese Weise unbewusst beim Leser das Menschenbild formen, welches dieser ja als mögliche Variante in seinen Erfahrungsschatz einbinden könnte.



Literatur entwirft immer mittels diverser Verzerrungen, Verkürzungen, Übertreibungen etc. Kunstfiguren, die anders sind als die Leute, die uns das Leben über den Weg treibt. Gerade in dieser Fremdheit aber liegt dann die Möglichkeit der Erkenntnis, die Chance, dass uns etwas wie Schuppen von den Augen fällt - weil sich hier im besten Fall eine 'Wahrheit' mal in anderem Gewande präsentiert als jenem, in dem sie schon ein paar Mal in der Realität unerkannt an uns vorübergewandelt sein mag.

Literatur formt immer unseren Erfahrungsschatz mit. Wenn man sie so eindeutig machen will, dass keine Gefahr mehr besteht, dass sie uns 'falsche' Informationen übermittelt, dann ist sie keine Literatur mehr (die ist nämlich immer vieldeutig), sondern eine Slogansammlung oder ein Taschentransparent.

Wobei ich mir im Falle Czentovic zwar sehr verschiedene Sichtweisen halbwegs vorstellen kann, aber keine, die nun abspeichert, dass es erlaubt sei, psychisch stark Andersartige auszunutzen, weil Zweig eine solche Figur zu bestimmten erzählerischen Zwecken ökonomisch einsetzt. Charaktere in Fiktionen sind immer auch Rädchen der Maschinerie Buch, also funktionalisiert. Wenn das Buch gut ist, dann sind sie das auch, sind aber auf jeden Fall noch etwas darüber hinaus. Wenn das Buch schlecht ist, sind sie oft nur Rädchen.

Zweigs Novelle geht darüber in meinen Augen weit hinaus. Ich fände es aber interessant, wenn Du Deinen Verdacht unangemessener Funktionalisierung näher begründen könntest.

Fargo

Thod
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Mi 27. Nov 2002, 17:13 - Beitrag #25

Vorsicht: es ist keineswegs so, dass wir immer schon alles gewusst oder erkannt haben, und nur ab und an die Namen austauschen oder neu erfinden.

Auch wenn das vom Thema etwas abweicht: Das Phänomen als solches gab es wohl immer. Natürlich werden Erkenntnisse durch Benennung schärfer, aber gerade heute übertreiben wir es damit auch oft, indem wir für alles tolle moderne neue Namen finden, welche im grunde nur Worthülsen sind. Im konkreten Fall spielt das aber keine Rolle, da es sich hier, wie du selber sagtest um einen Grenzfall handelt. Solche Leute müssten dann auch vor einer Namensgebung durch des Autismusses bekannt gewesen sein.
Ich würde übrigends in dem Zusammenhang einmal einen Blick z.B. auf mittelalterliche Mystiker werfen, die mit anderen Namen psychologische Details beschrieben haben, so dass man den Eindruck haben könnte, sie kennen uns und unser Umfeld persönlich.
Psychische Krankheiten sind lange als Besessenheit, Blödheit oder Irresein gedeutet worden

Vor allem wurde sowas gerne im Nachhinein unterschoben, um eine gewisse Epoche oder deren Leistungen zu diskreditieren. Die verschiedenen Geisteszustände und deren Beschreibungen durch die Jahrhunderte, sowei der Umgang mit ihnen, fürht mir allerdings zu hier zu weit, nur soviel: deine Ausführungen, besonders im Bezug auf Autismus, überzeugen mich da nicht.
Hätte Zweig gewusst, was Autismus ist, und hätte er Czentovic als Grenzfall darstellen wollen, hätte er kaum geschrieben: " auch für die simpelsten Unterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbeitenden Gehirne jede festhaltende Kraft ." Da hätte er wohl eine andere Formulierung gewählt.

Ich habe nicht gesagt, dass Zweig einen Authismus beschreiben wollte, das war ja eher deine Interpretation, sondern dass Zweig Czentovic Charaktereigenschaften zuschreibt, die meiner Ansicht nach, nicht ganz stimmig sind, und dass ein Hinweis auf den Autismus da imho nicht weiterführt.
Wie einfach die Tätigkeiten waren, ist eben keine Nebensache. Darin liegt ja eben der Witz

Wer kann schon beschreiben, was einfach ist, was nicht. Das hängt wohl vom Talent ab. Ich würde halt eher feststellen, dass im Bildungsbereich etwas vorhanden ist, was Czentovic nicht lag. Im Häuslichen allerdings schon. Somit legt Zweig nahe, dass das Schachspiel mit den Fähigkeiten, die der Hausarbeit entsprechen, eher verwandt ist. (was hier auch schon mit "durchrechnen der Zugvarianten" erwähnt wurde). Ich sehe da auch nicht so sehr den Widerspruch zu deinen Ausführungen, denn "Die Ordnung, die Logik, das Strenge, Begrenzte, Regelhafte", sind IMHO durchaus Dinge, mit denen sich viele schwer tun, die aber häufig zu grosser Entfaltung gebracht werden können.

Was meinen Vorwurf an Zweig angeht:
Du schreibst selber:
"Literatur formt immer unseren Erfahrungsschatz mit"
Diesem stimme ich durchaus zu. Ich unterscheide nun das, was ich gute oder schlechte Kunst nenne dadurch, wie sehr es Wirklichkeit transparent macht. Man könnte auch sagen, Kunst muss wahr sein, und im Gegenzug wäre dann die Lüge Kitsch.
Wenn also jemand eine Figur zeichnet, braucht sie eine innere Stimmigkeit. In einem Märchen kann die Fee einiges, was der Bauer nicht kann, und das ist vom Plot her stimmig. In einer Erzählung wie der von Zweig, sind alle diese Elemente unserem täglichen Erfahrungsschatz entnomme, es ist also keine Phantasiewelt, oder änliches, sondern die Geschichte spielt in einem unserem Alltag vergleichbaren Szenario. Dadurch kann man sich als Leser auch imho darauf verlassen, dass die Ebene, in der Personen beschrieben werden, eine unserer Erfahrungen ist, und dass ein Protagonist keine grüne Haut hat, oder auf einmal Fliegt.
Wie ich schon sagte, ich bin mir bei Czentovic nicht so sicher, aber ich habe den Verdacht, dass hier eine Person mit eigenschaften vorgeführt wird, die es eben nicht gibt. Das hat nichts mit der unterschiedlichen Entfaltung der Persönlichkeiten zu tun, sondern ich denke, hier wird etwas kreiert, um einem Formalismus zu entsprechen, was so nicht plausibel ist. Mein Verdacht ist der, das Czentovic nicht in erster Linie so wie er ist gewachsen ist, sondern quasi passend zur Hauptperson, quasi als ergenzendes Gegenstück zu Dr. B modeliert worden ist.
Dies mag spitzfindig klingen, da die Modelierung sicher nicht allzu stark ist, aber sie ist so stark, dass sie mir beim Lesen negativ aufgestossen ist.

Gruss,
Thod

Fargo
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Mi 27. Nov 2002, 23:21 - Beitrag #26

@ Thod

Wenn wir das hier nicht in eine Debatte über die Geschichte der Psychiatrie verwandeln wollen, sollten wir wirklich umschwenken. Obwohl ich neugierig wäre, was Dich an meinen Bemerkungen zum Autismus nicht überzeugt.

Nur so viel noch: dass es eine Verbindung zwischen Mystizismus und psychischen Auffälligkeiten gibt, darin stimmen wir überein. Ich habe allerdings den Verdacht, dass wir die Natur dieser Beziehung sehr unterschiedlich einschätzen. Die Offenbarung des Johannes beispielsweise halte ich für das Musterzeugnis einer schizophrenen Störung. Die Spur der Geisteskrankheiten in der älteren Literatur findet sich nicht in der distanzierten und bewussten Beschreibung der Phänomene von außen durch die Autoren - sondern durch die Einprägung des Krankheitsbildes bestimmter Autoren in den Text selbst.

Aber mal näher zu Zweig. Mit einer Deiner Prämissen habe ich keine Schwierigkeiten. Ein Text muss eine innere Stimmigkeit haben, wie Du sagst - gewiss. Ob er Wirklichkeit transparent machen muss - daran habe ich schon meine Zweifel. Es gibt auch noch andere Literaturformen - Sprachspielereien können durchaus große Schönheit aufweisen, ohne viel zur Erhellung der Wirklichkeit beizutragen.

Dein Versuch, das maßstabgetreue Abbild der Wirklichkeit zur Plficht zumindest für den mit Elementen der Wirklichkeit arbeitenden Roman zu machen, stößt aber auf meinen entschiedenen Widerspruch.

In einer Erzählung wie der von Zweig, sind alle diese Elemente unserem täglichen Erfahrungsschatz entnomme, es ist also keine Phantasiewelt, oder änliches, sondern die Geschichte spielt in einem unserem Alltag vergleichbaren Szenario. Dadurch kann man sich als Leser auch imho darauf verlassen, dass die Ebene, in der Personen beschrieben werden, eine unserer Erfahrungen ist,


Mit diesem Anspruch verbannst Du schon mal ganze Abteilungen der Weltliteratur ins Reich des Kitsches - den magischen Realismus etwa. Ganz zu schweigen von der Tradition fantastischer Literatur im maroden Österreich-Ungarn, Kafka, Perutz und Konsorten - die alle sehr viele Elemente dem prosaischen Alltag entnehmen, um sie dann mit ganz und gar fantastischen, bizarren, surrealen Elementen zu koppeln.

Nein, Aufgabe der Literatur ist nicht die Welterhellung - was ja schon ein wenig nach Lesererziehung und Weltverbesserung klingt. Ihre Aufgabe ist erst einmal das Spiel, ein Auslauffeld für den homo ludens zu sein, der sich hier von der Wirklichkeit freimacht. Literatur ist oft der Versuch des Autors, mit etwas fertig zu werden, was er im Leben nicht bewältigen kann - es eitert als Text aus ihm heraus.

Je deutlicher der Charakter des Eiterns, des Getriebenen, der Qual, desto ernster und beim großen Publikum unbeliebter werden die Texte. Je mehr diese Natur der Literatur in den Hintergrund tritt, je stärker das Element vordergründiger Unterhaltung, kontrollierten Kunstweltbaus, desto beliebter sind die Texte. Ich will jetzt gar nicht zwischen den beiden Extremen werten.

Zweigs Text ist in vielem ein extrem künstlicher - die Sprache der Haftschilderung habe ich oben schon erwähnt. Dass die Geschichte auf einem Ozeandampfer spielt, ist einerseits realistisch - die dicken Pötte waren ein reales Transportmittel. Andererseits ist es symbolisch - das Schiff fährt hinaus aus der vertrauten Realität, und bevor die Reisenden in einer anderen Realität wieder ankommen, befinden sie sich in einem seltsamen Zwischenreich - in dem die Grenze zwischen Ordnung (Bordleben) und Chaos (das Meer) dünn geworden ist und die Relationen zwischen beiden bedrohlich geworden sind.

Das Hafterlebnis des Kopfschachspielers ist ebenfalls zweideutig. Einerseits geht es um eine reale Folter. Andererseits um das Abgeschnittenwerden von aller vertrauten Wirklichkeit - auch das ist symbolisch lesbar.

ich denke, hier wird etwas kreiert, um einem Formalismus zu entsprechen, was so nicht plausibel ist. Mein Verdacht ist der, das Czentovic nicht in erster Linie so wie er ist gewachsen ist, sondern quasi passend zur Hauptperson, quasi als ergenzendes Gegenstück zu Dr. B modeliert worden ist.


Ja und nein. Ja, Czentovic ist als passender Widerpart zu B. erfunden, ja, er ist eine Kunstfigur. Aber nein, das macht ihn noch nicht unglaubwürdig, das erst macht ihn zum funktionierenden Teil der Erzählung.

Ein Zahnrad ist ja auch kein Musikinstrument. Aber innerhalb einer Spieluhr kann es dafür verantwortlich sein, dass Musik entsteht - während Du an ihrer Stelle des Räderwerks mit einer Miniaturtrompete gar nichts anfangen könntest.

Fargo

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Do 28. Nov 2002, 20:29 - Beitrag #27

Hallo Fargo,
dies scheint sich langsam zu einem Zwiegespräch zu entwickeln, ich schlage darum vor, möglichst bald wieder im Text voranzugehen.

Was mich an deinen Ausführungen des Autismusses nicht überzeugt ist kurz gesagt, dass mir der Akzent, den du auf die Forumlierungen durch die modernen Wissenschaften legst, zu stark ist. Aber dazu vielleicht doch besser an anderer Stelle mehr.

Unter mittelalterlichen Mystikern verstehen wir anscheinend auch nicht das selbe, darum kruz: um das, was du Mystizismus nennst, geht es mir nicht. Ich dachte auch nicht an die Offenbarung d. Joh., die gehört nicht mal ins Mittelalter, sondren eher an Autoren wie Bonaventura, B. v. Clairvaux o.a.
Ein typisches Phänomen der neuzeit ist es z.b. dem Menschen einen grundsätlichen Normalitätsstatus unterzuschieben, den es nicht gibt. Dann werde alle möglichen Spezifikationen als Krankheitsbilder benannt, die von diesem fiktiven Bild abweichen. Fakt ist aber, dass somit jeder mehr oder weniger krank ist, und da man viele benannte Sympthome auch an sich erkennt, ist eine gewisse Art von Psycho-hypochondrie Folge incl. den damit verbundenen Depressionen wohl nicht selten; ja, wird wohl auch nicht selten durch diese hervorgerufen.
Früher legte man, kurz gesagt, eher Wert darauf, Persönlichkeit zu entwickeln, und dazu gehört auch, vermeintliche Krankheitsbilder nicht einfach abzuschalten wie bei einer Maschine (dass sowas ginge, davon versucht uns die moderne Wissenschaft ja immer wieder mehr oder weniger erfolglos zu überzeugen), sondern zu lernen mit ihnen zu leben und zu reifen.

Aber mal näher zu Zweig.

genau :)

Es gibt auch noch andere Literaturformen - Sprachspielereien können durchaus große Schönheit aufweisen, ohne viel zur Erhellung der Wirklichkeit beizutragen.

Da ist wohl mein Wirklichkeitsbegriff weiter. Wenn etwas schön ist, von sich aus gefällt, gehort es nämlich imho durchaus zur Wirklichkeit. Ich meine nicht den modernen Realitätsbegriff, wie ihn z.B. die Realisten vertreten, sondern mehr im traditionell christlichen Sinne, das Gute, das Wahre, mit all seinen Facetten.
Dein Versuch, das maßstabgetreue Abbild der Wirklichkeit zur Plficht zumindest für den mit Elementen der Wirklichkeit arbeitenden Roman zu machen, stößt aber auf meinen entschiedenen Widerspruch.

Das mag wie gesagt daran liegen, dass du mir einen anderen Wirklichkeitsbegriff unterlegst, als ich es intendiere.
Mit diesem Anspruch verbannst Du schon mal ganze Abteilungen der Weltliteratur ins Reich des Kitsches - den magischen Realismus etwa. Ganz zu schweigen von der Tradition fantastischer Literatur im maroden Österreich-Ungarn, Kafka, Perutz und Konsorten - die alle sehr viele Elemente dem prosaischen Alltag entnehmen, um sie dann mit ganz und gar fantastischen, bizarren, surrealen Elementen zu koppeln.

Das tu ich ganz gewiss nicht. Vielleicht könnte man an Beispielen erläutren, was ich meine. Innerhalb seiner gesetzten Rahmenbedingungen plausibel kann wie ich schon gesagt habe, durchaus ein Märchen sein. Kafka, den du genannt hast, mag ich z.B. sehr und seine düstere Stimmungen, die er beschreibt, sind für mich oft genug mehr als Wirklich. Auch die Art, wie seine Personen handeln, sind imho sehr überzeugend in dem vom ihn gesetzten Kontext eingebunden. Auch bin ich ein grosser Freund der phantastischen Literatur, wie Poe, oder E.T.A. Hoffman...
Was ich hingegen überhaupt nicht mag, sind so sachen, wie "Die unendliche Geschichte" von Ende oder "Stein und Flöte" von Bemmann. Hier wird permanet aus dem grundsätzlichen Plot ausgegriffen. Bei Bemman merkt man es schon an den Namen, dem "Beherzten Flötenspieler", z.B. (was ist das überhaupt für ein Name) oder bei Ende, wenn er eine Schlucht beschreibt, es aber geographisch klar ist, dass diese nur da ist, um psychologisch etwas über den, der auf sie zurennt, auszudrücken. Wäre der Läufer in einer anderen Situation, hätte die Schlucht keinen Sinn, und wäre auch nicht da.
Bei Zweig ist das längst nicht so offensichtlich konstruiert, darum sagte ich auch, dass ich mir dort mit meiner Kritik nicht sooo sicher sei. Aber es hat starke Anklänge, zumindest beim Lesen bei mir erweckt, und somit hat mich das aufgeschreckt.
Nein, Aufgabe der Literatur ist nicht die Welterhellung - was ja schon ein wenig nach Lesererziehung und Weltverbesserung klingt.

Das habe ich auch nicht gesagt. Kunst ist imho etwsa, was auf eine spezifische Art etwas über die Welt aussagt. Und zwar auf eine Art, wie es die Wissenschaft nicht kann. Man könnte vielleicht sagen, mehr emotional, aber das trifft es auch nicht. Es ist eine Art, sich dem Weltverständniss zu nähern, ohne es in die Schranken der Wort-Sprache drängen zu müssen. Darum ist es in einigen Gebieten einfacher, durch ein Kunstwerk Verständnis zu bekommen, und in anderen schwerer. Auch das Spiel, was du anführst, ist nicht Sinn, sondern Art. Kunst kann sowas spielend bewerkstelligen, aber das Spiel ist nicht der Selbstzweck.
Somit stelle ich auch nicht die Forderung, Literatur solle im wissenschaftlichen Sinne ernsthafter werden. Dennoch: die innere Plausibilität ist wichtig. Genauso würde es z.B. aus Zweigs Erzählung negativ auffallen, wenn dort mir Euro bezahlt würde. Dies hat mit der Tiefe, der Ernsthaftigkeit nicht unbedingt was zu tun.
Zweigs Text ist in vielem ein extrem künstlicher - die Sprache der Haftschilderung habe ich oben schon erwähnt. Dass die Geschichte auf einem Ozeandampfer spielt, ist einerseits realistisch - die dicken Pötte waren ein reales Transportmittel. Andererseits ist es symbolisch - das Schiff fährt hinaus aus der vertrauten Realität, und bevor die Reisenden in einer anderen Realität wieder ankommen, befinden sie sich in einem seltsamen Zwischenreich - in dem die Grenze zwischen Ordnung (Bordleben) und Chaos (das Meer) dünn geworden ist und die Relationen zwischen beiden bedrohlich geworden sind.

Natürlich sollte Stilmittel, Formales und Inhalt zusammenpassen, und gerade in der Lyrik, z.B. bei Sonetten kann man das ja gut sehen, wie mathematisch diese Dinge durchkomponiert sind, und dennoch oder gerade deshalb auch inhaltlich passen. Das Genie bringt diese Aspekte übereinander. Wie aber schon gesagt: im Charakter des Schachweltmeisters scheint mir das nicht gelungen. Gegen die anderen Bilder habe ich eigentlich nichts.
Ja, Czentovic ist als passender Widerpart zu B. erfunden, ja, er ist eine Kunstfigur. Aber nein, das macht ihn noch nicht unglaubwürdig, das erst macht ihn zum funktionierenden Teil der Erzählung.

Nun gut, da teilen sich halt unsere Eindrücke.

Gruss,
Thod

Fargo
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Do 28. Nov 2002, 21:00 - Beitrag #28

Ganz genau, Thod,

es ist ein Zwiegespräch geworden, worüber ich so verdutzt bin wie Du.

Wo unsere Ansichten auseinander gehen, wo sie näher beieinander liegen als anfangs gedacht, ist jetzt etwas deutlicher. Die Frage nach dem wissenschaftlichem und dem, ich nenne es jetzt mal, ganzheitlichen Menschenbild wäre gewiss Thema für einen eigenen Thread.

Zum Komplex der Wahrhaftigkeit sollten wir hier allerdings noch einmal reden. Zch schlage aber vor, wir tun das gegen Ende, im Rückblick auf den ganzen Text. In hoffentlich wieder größerer Runde.

Jetzt scheint mir die Frage wichtig: Ihr anderen, wo seid Ihr abgeblieben?

Fargo

Padreic
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Do 28. Nov 2002, 22:54 - Beitrag #29

Lauschend, denke ich, haben sie sich erst einmal zurückgezogen, da ihr beiden so schön diskutiertet. Wenn ihr aber euer (sehr lesenswertes) Zwiegespräch nicht mehr fortsetzen wollt bzw. in einen anderen Thread verschieben wollt, würde ich auch vorschlagen, mit dem Text weiterzugehen. Da ich den Text nicht hier habe, bitte ich doch jemand anderen, den nächsten Abschnitt zu markieren.

Padreic

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Fr 29. Nov 2002, 10:23 - Beitrag #30

Ich bin die letzten Tage nicht dazu gekommen, weiterzulesen (Zeit hätte ich gehabt, aber eine andere "Literaturarbeit" nimmt mich vollends in Beschlag). Jetzt am WE werd ich weiterlesen und mich auch wieder an der Diskussion beteiligen!

Gruss,
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Traitor
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Sa 30. Nov 2002, 23:47 - Beitrag #31

Als letzten Abschnitt habe ich den kompletten Rest gelesen, da wiederum zwanzig Seiten einen unschön kleinen Rest von weniger als zehn Seiten ergeben hätten. Wir können also von mir aus zu den letzten Szenen kommen, und dann zu einem Gesamtrückblick.
Die Schilderung von Bs Nervenfieber passte gut zur vorhergehenden Haft - so absurd, wie die Geschichte auch klingen mag, was er ja auch erwähnt, in diesem Kontext kann man sich soetwas durchaus vorstellen.
Beim Spiel zwischen B und Czentovic fiel mir seltsam auf, dass letzterer plötzlich zu psychologischem Vorgehen fähig ist, wenn er ("anscheinend") absichtlich das Spiel verzögert, um die an B entdeckte Ungeduld auszunutzen. Das passt nicht zum tumben Eindruck zuvor: wer zwischenmenschlich völlig unbegabt ist, sollte doch zu solchen Dingen nicht fähig sein?
Das Ende fand ich etwas unbefriedigend, da es für mich zu klar feststellt, dass B seine Krankheit überwunden hat. Ein ungewisserer Ausblick, dass er vielleicht weiter damit zu kämpfen haben wird, hätte mehr Nachdenkenswertes geliefert.

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So 1. Dez 2002, 16:07 - Beitrag #32

Ich schließe mich Traitors Aussagen an. Woher die plötzliche Wandlung Czentovics? Ok, er sieht, dass sein Gegenüber unruhiger wird und reagiert darauf - ist aber nicht gerade fair ...

Gruss,
Seeker

Fargo
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Mo 2. Dez 2002, 18:13 - Beitrag #33

Die Arbeit sitzt mit im Nacken, ein langes Posting ist nicht drin. Aber schnell mal als Einwand: Czentovic ist ja nicht debil. Er kann in gewissen Grenzen seine Umgebung durchaus einschätzen. Ihm fehlen dann die Mechanismen und Anlagen für komplexere soziale Interaktion, aber hier spürt er - und wohlgemerkt, es kann sowieso nur alles Interpretation des Beobachters sein -, dass das, was er sowieso macht, den anderen verunsichert.

Er neigt ja zum Klotzigen und Verschlossenen - das muss er einfach nur versträrken, indem er da hockt, stiert und wartet. Das ist etwas radikal anderes, als wenn er aus sich herausgehen oder sich schnell etwas Neues aneignen und das geschickt einsetzen müsste. Er muss nur einfach das Gleiche wie immer langsamer tun - kann also das, was ihm früher wahrscheinlich vorgeworfen wurde, zu träge und lahm zu sein, endlich mal zu seinem Vorteil einsetzen.

Für mich ist die Frage eher, ob die Konversation am Ende zu ihm passt, ob er Spiel und Gegner so (oder überhaupt) kommentieren würde. Aber dazu später mehr.


Fargo

Traitor
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So 15. Dez 2002, 13:12 - Beitrag #34

Das Projekt ist ja völlig im Sande verlaufen. Sollen wir mal an eine Abschlussbesprechung des Buches gehen?

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So 15. Dez 2002, 14:14 - Beitrag #35

Halte ich für sinnvoll. Bin gespannt, wer sich alles zu Wort meldet. Ich setz mich die Woche hin und setz meine Meinung in die Matrix.

Gruss,
Seeker

Thod
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Do 19. Dez 2002, 14:39 - Beitrag #36

Nun, dann melde ich mich doch einfach mal kurz zu Wort.

Meine Kritik an der Hauptperson bin ich schon losgeworden, die Episode mit der Gefangenschaft fand ich eher banal, und insgesamt würde ich sagen, war das Buch für mich eine nette Lektüre für zwischendurch. Nicht dass ich es besonders schlecht finde, aber beeindruckt hat es mich auch nicht.
Mein letztlich doch eher positives Fazit liegt sicher auch darin begründet, dass es recht kurz ist, somit schnell wieder weggelegt werden konnte.

Gruss,
Thod

Seeker
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Fr 20. Dez 2002, 10:57 - Beitrag #37

Original geschrieben von Thod
... die Episode mit der Gefangenschaft fand ich eher banal...


Gerade das hat mich an diesem Buch fasziniert! Isoliert von der Außenwelt und auf ein Spiel konzentriert, dass ihn in ein Nervenfieber treibt! Ohne diese Geschichte wäre die gesamte Schachnovelle langweilig und sinnlos! Oder beziehst Du Dich mehr auf die schreibtechnische Umsetzung dieses Abschnitts?

Gruss,
Seeker

Traitor
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Fr 20. Dez 2002, 13:21 - Beitrag #38

Ich bin ebenfalls der Meinung, dass das Buch von diesem Element ist, und es ist auch das, was mich daran etwas zum Nachdenken brachte.
Insgesamt würde ich bewertend nicht sagen, dass es eines der besten Bücher ist, die ich kenne, aber es ist allemal sehr lesenswert und man kann einige interessante Anregungen darausbeziehen, wie man auch in dieser Diskussion gesehen hat. Also eine uneingeschränkte Leseempfehlung, zumal die Kürze natürlich positiv ist.

Thod
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Fr 20. Dez 2002, 14:02 - Beitrag #39

ich meinte mit banal doch eher den Inhalt. Der Schreibstil ist ja recht flüssig.
Mir kommt das halt alles was konstruiert vor.

Gruss,
Thod

Fargo
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So 22. Dez 2002, 03:21 - Beitrag #40

So, jetzt bleibt mir, mitten in der Nacht, mal ein wenig Zeit für ein paar zusammenhängende Sätze zur "Schachnovelle".

Die Gefangenschaft des Dr.B. finde ich sehr eindringlich geschildert - und doch kann ich Thods Urteil >konstruiert< beipflichten. Nur ist das für mich kein Schimpfwort, sondern ein Lob: sehr gut konstruiert.

Zweig erzählt hier nicht von einem spezifischen Unglücksraben, Sonderling, Spinner gar. Er erzählt vom Leben unter der Diktatur, von Phantom der 'inneren Emigration'.

Eine Diktatur setzt ihre Bürger gefangen, sie droht mit Repressalien, sie erpresst von jenen, die nicht eins sind mit ihrer Ideologie oder ihrer pragmatischen Machtausübung, den Verrat - an den eigenen Überzeugungen, den alten Freunden, den gewachsenen Loyalitäten.

Dr.B. gerät in eine sehr konkrete Gefangenschaft, die Drohung gegen ihn und die Forderung nach Verrat sind sehr eindeutig. Es war immer eine Idee der Konservativen, man müsse (und könne/dürfe) in solch einer Situation nicht die offene Rebellion wagen, man müsse sich nach innen zurückziehen. Unser Gefangener - der nun wirklich aus einem konservativen Milieu kommt - versucht das mit dem Schachspiel.

Zweig verurteilt das nicht, er verwirft es nicht. Er zeigt es als letzte und einzige Chance. Aber er zeigt auch, dass es nicht wie gewünscht funktioniert. Bei ihm führt es in den Wahn, ins Fieber, in den Wirklichkeitsverlust - also weg von einer Gefahr, um den Preis, sich einer anderen auszuliefern. Das scheiternde Schachspiel, das Sich-Überlagern der diversen Partien, zeigt, dass der Wiedereintritt in die Realität, in die Normalität, nicht möglich ist, dass der Geist in der inneren Emigration verharren wird.

Das finde ich sehr überzeugend. Zweig hat hier nicht abstrakt theoretisiert, er hat über die eigenen Lebenssituation geschrieben. Er war selbst auf der Flucht vor den Nazis, und er hat sich aus Verzweiflung über den Zusammenbruch seiner alten Welt umgebracht.

Erzähltechnisch problematisch ist für mich der Schlussschlenker, die "großmütige" Bemerkung von Czentovic: "Schade...Der Angriff war gar nicht so übel disponiert. Für einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt."

Das ist einerseits natürlich ein Stoß mit dem Florett. Nun kann der plumpe, extrem einseitig begabte Dilettant Czentovic dem anderen die eigene Rolle zuschieben, kann einen Platztausch vornehmen.

Andererseits ist das ein Schlag mit dem Knüppel ins Leere. Könnte Czentovic so etwas sagen, besäße er die soziale Instinkte, die Raffinesse, die geschliffene Bösartigkeit für solch eine - sagen wir's mit einem Schachbegriff, denn daran hat auch Zweig bestimmt gedacht - Rochade?

Für meine Lesart der Figur gilt: ganz entschieden ‚Nein’. Hier bricht Zweig für eine Pointe den Charakter. Rückwärts blickend sind wir nun bei einer sowieso schwierigen Gestalt vollends im Unklaren, wen oder was wir da vor uns hatten.

Weiterempfehlen werde ich die "Schachnovelle" aber trotzdem: als sehr eindringliches Planspiel zur Frage, ob und wie man sich in den eigenen Kopf zurückziehen kann.

Fargo

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