Ich will mal den Anfang mit "Sachliche Romanze" von Erich Kästner machen. Zuerst das Gedicht:
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut.
Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.
Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.
Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.
Ich hoffe, es stört sich niemand daran, dass ich nicht die Formalia, die man in der Schule bezüglich einer Gedichtanalyse lernt, anwende, sondern das Ganze etwas freier mache und mich mehr auf die Interpretation als auf die Analyse konzentriere, auch wenn es auf einer Klausur aufbaut.
Ein paar erste rein auf dem Inhalt aufbauende Deutungen:
Daran, dass das Paar nicht über den Wegfall seiner Liebe sprechen kann, sieht man, dass durch diesen die distanz zwischen den beiden trotz räumlicher Nähe und sogar Küssen sehr groß geworden ist. Deshalb gehen sie auch in das kleinste Café der Stadt, weil sie dort (vergeblich) die Geborgenheit suchen, die ihre Beziehung mit der Liebe verloren hat. Der Eindruck der Distanz vergrößert sich noch dadurch, dass der Mann die Frau nicht trösten kann, als sie weint. Auch setzen sie die leer gewordene Routine des Kaffetrinkens fort, obwohl keine Substanz mehr in der Beziehung ist. Auffällig ist nur, dass die Routine hier doch brüchig wird, indem sie bis Abend im Cafe saßen.
Das scheinbar zusammenhanglos eingebrachte Klavierspiel im Nebenraum könnte man dahingehend deuten, dass diese für die beiden so dramatische Situation "dort draußen" im Leben niemanden kümmert oder das Leben anderer Menschen weitergeht, selbst das derjenigen, die nebenan wohnen. Man könnte den entsprechenden Satz auch noch weiter aufdröseln, indem man eine stärkere Betonung auf das 'üben' legt. Wenn man übt, baut man einen musikalischen Vortrag auf, und das geschieht hier, während die Beziehung des Paares im Niedergang ist, was man als Kontrast zwecks der Betonung des eben Gesagten sehen. Noch tiefer (oder überinterpretierter) gesehen, kann man auch sagen, dass das 'üben' etwas sachliches ist, während das Klavierspiel etwas romantisches ist. Eine Art von Kombination von Sachlichkeit und Romantik ist also an anderen Stellen vielleicht möglich, aber in der Liebe nie.
Interessant ist auch die (wieder scheinbar zusammenhanglose) Erwähnung von Schiffen in Vers 9. Dieses könnten bedeuten, dass das Motiv, dass Schiffe nie lange in einem Hafen bleiben, auf das Paar übertragen wird, womit ausgesagt werden soll, dass es auch für sie Zeit ist, nicht länger in diesem Hafen der Beziehung zu verweilen.
Form:
Das Reimschema ist recht regelmäßig, während die Verslänge und das Metrum variieren. Die ersten drei Strophen haben das Reimschema eines Kreuzreims, während die letzte keinen reinen Kreuzreim hat, da ein Vers, der auf den ersten reimt, eingefügt wurde. Die Beibehaltung des Versmaßes in den ersten drei Strophen könnte man dahingehend deuten, dass die Routine beibehalten wird, die Veränderung in der letzten aber, dass sie hier aufbricht. Den eingefügten Vers kann man in dem dritten der letzten Strophe sehen, der dieses Herausfallen aus der Routine ja kennzeichnet.
Sprachliche Besonderheiten:
Die Sprache ist nicht im herkömmlichen Sinne sehr lyrisch, sondern ist eher an die Prosasprache angenähert, weshalb es nicht allzu viel sprachlich Besonderes gibt (oder ich bin sehr blind
). Ein bisschen was kann man aber doch finden:
In Vers 4 findet sich ein Vergleich des Verlorengehens der Liebe mit dem Verlorengehen eines Stocks oder eines Huts. Sowohl Stock als auch Hut sind Sicherungen beim Gehen, der Stock als Stütze, der Hut als Schutz vor dem Wetter. Ähnlich kann man auch die Liebe sehen: Sie stützt und sichert sowohl die Beziehung als auch die beiden Liebenden. Desweiteren sind Stock und Hut (siehe auch "Hänschenklein") Symbole für Aufbruch, was wieder in die Richtung der Beendigung der Beziehung gedeutet werden kann.
Eine weitere Besonderheit ist der Konjunktiv II in Vers 10. Normalerweise gibt man die indirekte Rede ja mit dem Konjunktiv I wieder. Vielleicht soll hiermit die Irrealität dieser Begründung ausgedrückt werden. Wo die Liebe vorbei ist, macht diese Begründung, die auf der Routine basiert, keinen Sinn mehr.
Deutungsmöglichkeiten:
Eine Deutungsmöglichkeit des Textes ist, dass dargestellt wird, dass eine Bezihung ohne Liebe keinen Sinn macht und eine "sachliche Romanze", wie es der Titel nennt, nicht möglich ist und dieser Begriff ein Oxymoron bildet. Die Beziehung ist ohne Stütze, die beiden können sich nicht mehr verstehen, ihre emotionale Distanz ist groß und die ganze Routine ist nur noch Fassade (und selbst die bricht auseinander), womit die Beziehung völlig ohne Substanz ist.
Weitergehend könnte man noch sagen, dass dargestellt werden soll, dass in jeder Beziehung die Stütze der Liebe wegfallen kann und alles vorherige Verstehen dann auch nichts mehr bringt und man die Beziehung, die ohnehin nur noch Fassade ist, dann beenden und weiterziehen soll.
Kritik und besonders Ergänzungen sind sehr erwünscht. Bei diesem Gedicht kann ich übrigens auch sagen, dass es sich mir erst durch Analyse und Interpretation seine Qualität erst erschlossen haben.
Padreic