Nürnberger Schaumküsse. Ein Bericht
Auch eine Fahrt, die zur alltäglichen Gewohnheit wurde, trägt von Zeit zu Zeit Eindrücke heran, die den Rahmen des bereits Erlebten durchbrechen und mit ihren darüber hinausgreifenden Mustern im Kleinen nachzeichnen, was die Welt bieten mag. Sitzt doch dort einer, zwei Tage ist es vor dem großen Spiel der weißen Trikots gegen die Schwarzen in Rotgelb, und schimpft vor sich hin. Schimpft ohne Gegenüber, großenteils unverständlich, obwohl zusehends lauter, die Leute gucken schon: ob er wohl getrunken hat oder irre ist? Ein leicht untersetztes Ehepaar schaut verwirrt drein, als es kurzzeitig zum Monologpartner wird, denn in die Tirade mischen sich "Nazi" und mehrfach "Nürnberger Gesetze", das Ehepaar unterhält sich lebhaft auf Russisch. Einen Geradenochpunk mit natürlich blondem, fast verwachsenem Irokesenschnitt trifft anschließend eine ähnliche Wortwahl, er verläßt den Zug an der nächsten Station.
Mehrere junge Männer stellen sich auf, weiße Trikots könnten sie tragen oder mittelmeerrote, und machen den Rotgelben darauf aufmerksam, er mache den anwesenden Kindern Angst und solle es bleibenlassen. Er läßt nicht und findet endlich einen Gleichgesinnten: Ein Kerl, dessen Mähne sich dank fleißigen Nikotinkonsums noch ein wenig Farbe bewahren konnte, und wahrscheinlich voll des herben Biers, alle Menschen werden Brüder, bricht in die Welt des anderen ein: er lasse sich hier in Deutschland von einem Afrikaner nicht beleidigen, der solle zurück nach Afrika gehen. Das Duett steigert sich zum Geschrei, wird aber nicht kohärenter, weitere Reisende in Sachen Pluralismus betreten die Mitte der Bühne, mühen sich, Tätlichkeiten zu verhindern, und der Rotgelbe steigt aus, zur Enttäuschung des Vergilbten, der endlich Gelegenheit bekommt, laut zu sagen, was ihm bislang verwehrt blieb. Folgerichtig von den Umstehenden als Nazi bezeichnet, hält er endlich wunschgemäß die Fresse, als der Zugführer kommt, um nach dem Rechten zu sehen. So? Dann kann's ja weitergehen.