AlphaGo

Von der Genetik bis zur Quantenphysik, von der Atomkraft bis zur Künstlichen Intelligenz. Das weite Feld der modernen Naturwissenschaften und ihrer faszinierenden Entdeckungen und Anwendungen.
Ipsissimus
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Sa 12. Mär 2016, 12:17 - Beitrag #1

AlphaGo

in Seoul ist in der vergangene Woche eine weitere, vielleicht die letzte Bastion menschlicher Intelligenz gefallen.

Die Software "AlphaGo", entwickelt von der Googletochter Deepmind, konnte in einem über fünf Spiele angelegten Duell gegen Lee Sedol, dem besten Go-Spieler der letzten 10 Jahre, 3:0 in Führung gehen und somit das Duell vorzeitig für sich entscheiden. Im Vorfeld waren alle Experten und selbst die Entwickler - für die diese Partien nur ein Test sein sollten - davon ausgegangen, das Lee haushoch gewinnen wird. Das Duell erfolgt nach Turnierregeln, aber ohne Handycaps.

Lee ist ein 9. Profi-Dan, die stärkste Spielstufe, die im Go existiert, er dominierte das Spiel über die letzten 10 Jahre. Sein Spiel gilt als extrem variantenreich und äußerst schwierig ausrechenbar.

AlphaGo besteht aus vier neuronalen Netzen, die auf einem Hardware-Cluster aus über 1000 Kernen laufen. Die Software hatte im vergangenen Herbst bereits gegen den sehr viel schwächeren Europameister Fan Hui, einem 2. Profi-Dan, mit 5:0 gewonnen, dabei aber auch selbst noch sehr viel schwächer gespielt. Seither wurden an Soft- und Hardware nur noch geringfügige Justierungen durchgeführt, so dass die dramatisch gesteigerte Spielleistung auf den Umstand zurückgeführt werden muss, dass die Software seit diesem Duell permanent gegen sich selbst spielt. Die Leistungssteigerung in diesen paar Monaten ist ungefähr damit vergleichbar, dass ein Kind, dem gerade erst die Grundrechenarten beigebracht wurden, sich innerhalb eines halben Jahres ohne Lehrer die gesamte Mathematik bis in die avanciertesten Bereiche selbst erarbeitet und dann die Fachwelt mit Beweisen über bislang unbewiesene Sätze schockt.

http://www.zeit.de/suche/index?q=AlphaGo

kommentierte Liveaufzeichnungen der bisherigen Spiele in englischer Sprache stehen auf YouTube zur Verfügung:

Spiel 1
Spiel 2
Spiel 3

Spiel 1 in deutscher Sprache

Lykurg
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So 13. Mär 2016, 09:50 - Beitrag #2

Gerade auch die von dir beschriebene Weiterentwicklung durch Spiele gegen sich selbst finde ich faszinierend. Lernfähige neuronale Netze sind eine überaus erstaunliche und implikationsreiche Gegenwart.

Aber auch, daß diese letzten Bastionen des menschlichen Geistes Spiele sind/waren, gibt Stoff zum Denken über dessen gesellschaftliche Rolle. Wie funktional sind eigentlich solche Extremprofis, kann man sich mit ihnen normal unterhalten?

Ipsissimus
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So 13. Mär 2016, 12:42 - Beitrag #3

neuronale Netze gibt es schon seit gut 15 Jahren, aber es scheint, dass die Entwicklung mit der Lernfähigkeit endlich Ernst gemacht hat, weil bisherige Lernerfolge zwar gegeben, aber nicht unbedingt berauschend waren. Was AlphaGo da in einem halben Jahr gemacht hat, das ist ... ein Quantensprung.

Die Frage ist folgende: Wenn KI so leistungsfähig werden, dass irgendwann nicht mehr Menschen die KI trainieren, sondern KI die Menschen beraten, welche Folgen hat das für soziale Systeme? Ich weiß nicht, ob AlphaGo bereits als KI qualifiziert werden muss, aber die Software kratzt zumindest an der Grenze. Das sieht man sofort, wenn man den Möglichkeiten-Baum von Go mit dem von Schach vergleicht. Da ist nichts mehr, aber auch gar nichts mehr mit "Zug berechnen".

Zumindest Lee Sedol ist jemand, mit dem man sich unterhalten kann^^ das hat er in den drei Pressekonferenzen nach den drei Spielen bewiesen^^ man findet sie am Ende der Aufzeichnungen der drei Spiele. Andere haben philosophische Bücher geschrieben. Es scheint sich also bei den Weltklasse-Go-Spielern nicht notwendig um klassische Nerds zu handeln^^

Lykurg
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So 13. Mär 2016, 19:48 - Beitrag #4

neuronale Netze gibt es schon seit gut 15 Jahren,
Mindestens!^^ Aber bei den künstlichen scheint sich gerade wirklich einiges getan zu haben.

Die von dir beschriebene Erscheinung haben wir doch z.B. bei der Verkehrslenkung schon, meine ich? Erstaunlich fand ich vor ein paar Jahren, zu hören, daß Flugsicherung und Stellwerker zur Zeit Jobs sind, bei denen Menschen Computern noch überlegen sind wegen der Komplexität der Entscheidungen - vermutlich auch wegen der Notwendigkeit zu rascher und sehr variantenreicher Kommunikation unter ggf. schwierigen Empfangsbedingungen. Da frage ich mich aber wirklich, wie lange das noch der Fall sein mag. Und auch Piloten dürften früher oder später ersetzt werden, was nach 9/11 und dem Germanwings-Flug die einen Sicherheitsexperten beruhigen, andere wieder in Sorge stürzen dürfte.

Aber zurück zum Thema - das vierte Spiel gegen AlphaGo hat Lee Sedol gewonnen! So wie es aussieht, hat er sich diesmal anfangs sehr viel Zeit gelassen, über seine Züge nachzudenken, und später dann die Zugzeit von AlphaGo zum Planen genutzt. Außerdem hat er so um 3:10 herum einen Zug gemacht, den die Kommentatoren als extrem stark bezeichnen, und AlphaGo später ein paar Fehler gemacht. Irgendwo las ich, er habe dazugelernt, während AlphaGo aus Testgründen nicht aus diesen Partien lernt, sondern jedes Mal mit dem Wissensstand von vor dem Match gegen ihn spielt.

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Di 15. Mär 2016, 15:22 - Beitrag #5

Endergebnis 4 : 1 für AlphaGo

AlphaGo hat offiziell die Ernennung zum 9. Profi-Dan erhalten, das ist einzigartig. Aber es zeigt auch, dass die Go-Spieler das Ende der Welt noch nicht gekommen sehen^^ ich denke allerdings schon, dass es Konsequenzen haben wird, die innerhalb der nächsten paar Jahre spürbar werden

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Mi 24. Mai 2017, 11:25 - Beitrag #6

nunmehr hat AlphaGo auch das erste Spiel gegen den amtierenden Weltmeister gewonnen

https://www.welt.de/newsticker/news1/ar ... el-Go.html

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Di 6. Jun 2017, 13:04 - Beitrag #7

Drei Siege in drei Partien für AlphaGo, und das, obwohl Ke überragend gut gespielt haben soll. Und mittlerweile sind auch Partien von AlphaGo gegen sich selbst veröffentlich, die diverse 9. Dan Profis zu Stellungnahmen à la Go aus einer anderen Dimension veranlassten.

Ipsissimus
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Mo 30. Okt 2017, 00:22 - Beitrag #8


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Mo 13. Nov 2017, 22:30 - Beitrag #9

IT-seitig wird für allgemeinere Aufgaben die Herausforderung auf längere Zeit noch bleiben, die Eingangsdaten in eine so formalisierte und einheitliche Form zu bringen, dass die NNs damit arbeiten können.

Zwei Go-Fragen(-Komplexe) vom Totalbanausen:

1. Ist Go im Vergleich zu Schach, trotz der höheren Gesamtkomplexität, fehlertoleranter im Sinne, dass ein Spieler über eine gesamte Partie einen Fehler durch spätere Geniestreiche eher wieder ausgleichen kann? In den meisten NN-Anwendungen fällt ja auf, dass sie zwar genial sein können, aber auch immer mal wieder genial danebengreifen.

2. Hat sich bereits herauskristallisiert, wie sehr sich das menschliche Spiel auf höchstem Niveau durch das Studium der NN-Siege verändert? Beziehen sich Kommentare wie "aus einer anderen Dimension" nicht nur auf die Spielstärke, sondern auch auf völlig neuartige Strategien/Taktiken? Haben Menschen das Spiel gewissermaßen immer falsch gespielt?

Ipsissimus
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Di 14. Nov 2017, 00:17 - Beitrag #10

Frage 1: Bei Anfängern und schwächeren Spielern ist das möglich. Da ein umfassendes konsistentes Verständnis für Positionen und die Bedeutung einzelner Züge im Kontext einer Stellung sich im Go erst auf den höchsten Spielstufen einstellt, beinhaltet das Spiel bis zu diesen Spielstufen immer einen gewissen Zufallsfaktor seitens der Spieler. Auf den höchsten Spielstufen andererseits sind echte Fehler extrem selten. Spiele auf diesen Stufen gehen typischerweise mit einem halben Punkt Unterschied aus, ganz selten mal mit einem Punkt. Die meisten Spieler dieses Formats geben daher lieber gleich auf, wenn sie einen echten Fehler machen, das lässt sich praktisch nicht mehr ausgleichen. Wenn man solche Spiele analysiert, wird man feststellen, dass sie über lange Zeit praktisch ausgeglichen sind, und erst im Laufe langer Akkumulation geringster positioneller Vorteile kristallisiert sich allmählich ein Punktgewinn heraus.

Frage 2: Es gibt zahlreiche Stellungnahmen von 9. Dans, dass sie mittlerweile Strategien von AlphaGo anwenden, allerdings unvollkommen, weil sie bislang nur die allereinfachsten Zusammenhänge entschlüsseln können. Die weitergehenden Konzepte, die AlphaGo verfolgt, sind völlig unverstanden. Der häufigste Satz, den man hört, lautet: "Diesen Zug würde ein Mensch niemals machen." Das ist bislang so geblieben. Deswegen eignet sich AlphaGo auch nicht als Lehrer. Das Programm spielt mittlerweile auf einem Level, das Menschen nicht mehr vermittelbar zu sein scheint. Auch Je, der amtierende Weltmeister, sagt, dass er nicht mehr gegen AlphaGo spielen will, weil er nichts aus den Partien lernen kann. Er muss die Züge des Programms hinnehmen wie die Unerfindlichkeit des Ratschlusses Gottes.

Man kann das Spiel ja eigentlich nicht falsch spielen, das Regelwerk ist wahrhaftig nicht komplex. Was sich sagen lässt, ist wohl, dass Menschen das Potential nie ausgeschöpft haben und nach Stand der Dinge wohl auch nicht ausschöpfen können. Sie haben sozusagen immer wie Schüler gespielt, die regeltechnisch auch nicht falsch spielen, aber deren Strategien der Komplexität der Möglichkeiten nicht angemessen sind. Ich denke, man wird über kurz oder lang nicht umhin kommen, für derartige Programme die Dan-Stufe zu erhöhen.


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